Das Wort des Herrn Oberst gilt

"Gott beweist seine Liebe zu uns dadurch, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren." (Röm. 5:8)

In meinem Regiment hatte ich einen kleinen Hornisten. Er war eigentlich zu schwächlich für den Militärdienst. Aber er war ein „Kind des Regiments“. So blieb er und wurde zu allen möglichen Diensten herangezogen. Die Soldaten hatten ihn gern. Sein Vater war im Kriege gefallen, die Mutter vor Kummer ein halbes Jahr später gestorben.
In letzter Zeit waren im Regiment verschiedene Fälle von Widersetzlichkeit vorgekommen, die mich zu scharfen Maßnahmen zwangen. Ich war entschlossen, beim nächsten derartigen Fall eine Prügelstrafe zu verhängen, die den Übertretern die Neigung zu weiteren solchen Streichen ein für allemal nehmen sollte. So war es auch im Regimentsbefehl zur Kenntnis gebracht worden.
Trotzdem ließ die nächste Untat nicht lange auf sich warten. Eines Morgens kam die Meldung, die großen Zielscheiben seien heruntergeworfen und schlimm beschädigt worden. Die Untersuchung ergab, dass die Urheber des Vergehens in einem Zelt zu suchen waren, zu dessen Mannschaft auch Willi Holt gehörte, mein kleiner Hornbläser. Sämtliche Zeltinsassen wurden sofort verhaftet. Ich war zur strengen Untersuchung des Falles und entsprechender Bestrafung entschlossen. Aber wer war der Täter gewesen? Bis jetzt war hierüber trotz aller Kreuz- und Querfragen nichts klargestellt. Die Antwort auf alle Fragen war ein trotziges Schweigen.
„Leute“, wandte ich mich schließlich an die Häftlinge, „wenn der Schuldige bereit ist, hervorzutreten und seine Strafe wie ein Mann auf sich zu nehmen, so sollen alle anderen frei ausgehen. Wenn nicht, bleibt nichts anderes übrig, als euch alle zu bestrafen, und das bedeutet: Für jeden zehn Streiche mit der Katze (Peitsche).“
Auf diese Ankündigung folgte für etliche Minuten eine fast tödliche Stille. Plötzlich gab’s eine Bewegung. Aus der Schar der Häftlinge löste sich eine kleine, schmächtige Gestalt und trat festen Schrittes auf mich zu. Es war Willi Holt. Sein Gesicht war sehr bleich, aber es lag ein Zug unabänderlicher Entschlossenheit auf ihm.
„Herr Oberst“, sagte er, „Sie haben Ihr Wort gegeben. Wenn von denen, die gestern Nacht in Zelt Nr. 4 geschlafen haben, einer hervortritt, um seine Strafe zu empfangen, so sollen alle andern frei ausgehen. Ich bin bereit und bitte, die Strafe an mir zu vollziehen.“
Ich war einen Augenblick sprachlos. Dann packte mich der Grimm. Voller Abscheu schrie ich die Häftlinge an:
„Ist denn kein Mann unter euch, der dieses Namens würdig wäre? Seid ihr alle so feige, diesen Jungen für alle eure Schuld büßen zu lassen? Denn dass er unschuldig ist, wisst ihr so gut wie ich.“
Aber verbissen und stumm standen die Männer da, ohne ein Wort von sich zu geben.
Nie in meinem Leben habe ich mich in einer peinlicheren Lage befunden. Ich hatte mein Wort gegeben und konnte es nicht ändern noch zurücknehmen. Das war mir ganz klar und dem Jungen war es auch klar. So blieb mir nichts übrig, als mit schwerem Herzen den Befehl für die Ausführung der Strafe zu geben.
Tapfer stand der Junge da, den Rücken entblößt. Ein, zwei, drei wuchtige Streiche trafen klatschend den mageren Rücken. Beim vierten entfuhr ein schwacher Schrei seinen Lippen. Aber ehe der fünfte Streich herabsauste, kam ein Schrei aus der Gruppe der Häftlinge, der allen durch Mark und Bein ging. Mit einem Sprung hatte sich Jim Sykes, das räudige Schaf des Regiments, der Katze bemächtigt, so daß der fünfte Streich nicht mehr zur Ausführung kam. Zugleich rief der Mann mit halb erstickter, keuchender Stimme: „Halten Sie ein, Herr Oberst, halten Sie ein und binden Sie mich an seiner statt! Er hat’s nicht getan. Ich bin der Schuldige.“ Und mit verzerrtem Gesicht schlang der starke Bursche seinen Arm um den Jungen.
Willi hob den Kopf. Man sah, dass er es kaum noch konnte. Er lächelte – welch ein Lächeln! – Und kaum vernehmbar flüsterte er: „Nein, Jim, dir geschieht nichts. Das Wort des Herrn Oberst gilt.“ Dann brach er ohnmächtig zusammen.
Am folgenden Morgen ging ich zum Krankenzelt, in das man Willi Holt gebracht hatte. Unterwegs traf ich den Arzt.
„Wie geht’s dem Jungen?“, fragte ich besorgt.
„Nicht gut, Herr Oberst. Es geht dem Ende zu.“
„Was?!“, stieß ich in maßlosem Schrecken hervor.
„Es ist so. Leider. Das gestern war zu viel für den schwachen Körper.“
Der Sterbende lag still in den Kissen. Neben ihm kniete, beinahe am Boden kriechend, Jim Sykes. Ich mußte alle Kraft zusammennehmen, um das Antlitz des Sterbenden anzuschauen, ohne die Fassung zu verlieren. Es war totenbleich. Aber seine großen Augen leuchteten in einem Licht, das kaum mehr irdisch genannt werden konnte. Er sprach leise zu Jim. Keiner der beiden hatte mein Eintreten bemerkt. In diesem Augenblick hob der knieende Mann den Kopf. Ich bemerkte große Schweißtropfen auf seiner Stirn.
„Warum hast du’s getan? Warum hast du das getan?“, stöhnte er mit brechender Stimme.
„Weil ich es für dich auf mich nehmen wollte, Jim“, flüsterte der Junge kaum hörbar, aber mit deutlich erkennbarem zärtlichen Ton. „Ich dachte, du möchtest dann vielleicht ein wenig besser verstehen lernen, warum Christus für dich gestorben ist.“
„Christus will mit einem Kerl, wie ich bin, nichts zu tun haben, Willi. Ich bin einer der Allerschlechtesten.“
„Aber er starb, um Schlechte zu retten — ja solche ganz besonders. Er hat gesagt: ,Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder zur Buße.‘ Und es steht auch in seinem Wort geschrieben: ,Wenn eure Sünden gleich wie Scharlach sind, wie Schnee sollen sie weiß werden.‘ Lieber Jim“, – die Stimme des Sterbenden wurde leiser und leiser, nur stockend kamen die Worte noch hervor – „soll der Herr Jesus umsonst für dich gestorben sein? Sein kostbares Blut floß auch für dich. Er klopft an deine Herzenstür. Willst du ihn nicht hereinlassen?“
Die Stimme versagte. Mit letzter Kraft legte der Junge noch die Hand auf den Kopf des neben ihm Knieenden und sang – ja sang – fast unhörbar, und doch noch vernehmbar:
„Wie ich bin, ohn’ alle Zier,
Komm ich, treuer Herr, zu dir.
Dein Blut floss ja auch für mich.
Wie ich bin, so komme ich.“
Dann wurde es ganz still. Das Licht erstarb in den glänzenden Augen. Der glückliche Geist des tapferen Jungen war zu Gott zurückgekehrt.
Oberst H.


Ich bete an die Macht der Liebe,
Die sich in Jesu offenbart;
Ich geb mich hin dem freien Triebe,
Mit dem ich, Wurm, geliebet ward.
Ich will, anstatt an mich zu denken,
Ins Meer der Liebe mich versenken.

Wie bist du mir so sehr gewogen
Und wie verlangt dein Herz nach mir!
Durch Liebe sanft und stark gezogen,
Neigt sich mein Alles auch zu dir.
Du traute Liebe, gutes Wesen,
Du hast mich, ich hab dich erlesen.

Ich fühl’s, du bist’s, dich muss ich haben;
Ich fühl’s, ich muss für dich nur sein.
Nicht im Geschöpf, nicht in den Gaben,
Mein Ruh’platz ist in dir allein.
Hier ist die Ruh, hier ist Vergnügen;
Drum folg ich deinen sel’gen Zügen.

O Jesu, dass dein Name bliebe 
Im Grunde, drück ihn tief hinein!
Möcht deine süße Jesusliebe
In Herz und Sinn gepräget sein!
In Wort und Werk, in allem Wesen
Sei Jesus und sonst nichts zu lesen!

Lob sei dem hohen Jesusnamen,
In dem der Liebe Quell entspringt,
Von dem hier alle Bächlein kamen,
Aus dem die sel’ge Schar dort trinkt.
Wie beugen sie sich ohne Ende!
Wie falten sie die frommen Hände!
G. Tersteegen