Der glückliche Schuss

Der Hirsch, auf dessen Rücken der unglückliche Jüngling lag, konnte sich seiner Freiheit nicht erfreuen. Dieses edle und stolze, aber auch scheue Tier des Waldes war ja nicht gewohnt, seinen Rücken durch irgendetwas beschwert zu fühlen. Das Ross im gezähmten Zustand hebt erst recht stolz das Haupt, wenn es den Reiter auf sich fühlt. Das wilde, noch unberührte Ross auf der Weide gebärdet sich wie rasend, wenn der kühne Reiter sich zum ersten Mal auf seinen Rücken schwingt. Es schlägt aus, steigt schnaubend in die Höhe, wirft sich zur Erde, um sich der ungewohnten Last zu entledigen; und wenn ihm dies nicht gelingt, so jagt es unaufhaltsam über die weite Steppe, bis es ermattet zusammensinkt.

Auf ähnliche Weise gebärdete sich jener Hirsch, das noch weit furchtsamere Tier. Trotz seiner nicht leichten Bürde rannte er mit erhobenem Kopfe und zurückgelegtem Geweihe windschnell dahin. Er suchte den Wald zu erreichen. Da war kein Bach, kein Graben zu breit; da war kein Strauch zu hoch, kein Felsstück zu groß – über alles setzte das furchtbar geängstigte Tier hinweg.

Martin lag da, das Angesicht gen Himmel. Die Sinne drohten ihm zu vergehen ob der Schnelligkeit, mit welcher er dahingetragen wurde. Die Hügel neben ihm, die Bäume über ihm und selbst der Himmel mit den einzelnen Wölkchen – alles schien in rasender Flucht an ihm vorüber und über ihn hinzufliehen. Bisweilen sah er nichts als den leeren, blauen Himmel, dann wieder flog jeden Augenblick ein anderer Gegenstand an seinen Augen vorüber. Oft schloss er dieselben, um nichts mehr zu sehen. Denken konnte er ohnehin nichts mehr; sein Gehirn brannte wie im Fieber. Wenn er aber die Augen öffnete und den Himmel über sich erblickte, da hatte er doch noch einen Gedanken, und sein Schmerz machte sich einmal Luft in dem Ausruf: „Mein Gott, mein Gott, warum?“ – Der Hirsch hörte die menschliche Stimme, fühlte die Bewegung des Gefesselten, und von neuem eilte er dahin in noch größerer Angst.

Ich sagte, Martins Schmerz habe sich Luft gemacht. Dies war nicht bloß Schmerz der Seele, sondern auch des Körpers.

Die außerordentlich schnelle Bewegung auf dem ebenen Felde und den Wiesen verursachten ihm zwar keinen körperlichen Schmerz, denn solche Bewegung ist immer sanft; aber wenn der Hirsch über einen Graben, oder über ein Felsstück hinwegsetzte, empfanden alle seine Glieder den unsanften Stoß. Der Hirsch, welcher sich durch die Bande, die sein Geweih an die Arme des Jünglings schlossen, in der freien Bewegung des Kopfes und des Nackens gehindert fühlte, suchte den Kopf bald vorwärts zu biegen, bald warf er ihn zurück und schüttelte ihn heftig. Bei jeder dieser Bewegung war es dem Jüngling, als würden ihm die Arme ausgerissen oder an den Handgelenken abgebrochen. Warf der Hirsch plötzlich das Geweih zurück, so stießen ihm die Zacken oder Enden desselben ins Gesicht. Und vor keiner Verletzung dieser Art konnte er sich schützen, keine dieser ihm so schmerzlichen Bewegungen konnte er verhindern, keiner ausweichen.

Ehe noch das also gehetzte Wild den Wald erreicht hatte, rann schon das Blut an Martins Armen in Strömen herab. Im Walde aber sollte seine Qual erst den höchsten Grad erreichen. Bergauf, bergab floh das Tier ohne Rast und Aufenthalt. Und wenn es einen Augenblick nachließ in dieser wilden Flucht, so war es nur, um zu versuchen, ob sich die quälende Last nicht an einem Baum abstreifen ließ. Da dies natürlich nicht gelang, so rannte es von neuem davon. Die Äste der Bäume und die Zweige des Gestrüpps peitschten unaufhörlich des Jünglings Gesicht. Die spitzen Dornen zerrissen ihn grässlich. In Fetzen hingen seine Kleider herab, sein Blut floss aus unzähligen Wunden. Dazu gesellte sich noch ein brennender Durst, um das Maß seiner Leiden voll zu machen. Der ungeheure Schmerz betäubte ihn endlich. Er konnte nur noch einen Wunsch ausdenken, den, dass es schnell mit ihm aus sein möchte. Er schrie laut zu Gott um Erlösung durch den Tod. Allmählich schwand seine Besinnung. Er fühlte, wie der Tod sich nahte, wie tiefer Schatten seine Augen bedeckte. Er konnte keinen Laut mehr hervorbringen, aber er dankte Gott in seinem Herzen und befahl ihm seine Seele an. Seine Schmerzen hatten ein Ende.

Der Hirsch aber hatte noch keine Ruhe. Alle seine Bemühungen sich der Last zu entledigen, blieben erfolglos. Immer noch rannte er vorwärts, aber auch seine Kraft begann allmählich zu ermatten. Auch ihn quälte der fürchterliche Durst. Wie könnte es auch anders sein? Mehrere Stunden lang war er mit seiner ungewohnten Last in rasender Hast durch Feld und Wald, über Berg und Tal geflohen, noch mehr geängstigt, als wenn alle Hunde des Markgrafen hinter ihm her gewesen wären. Bei der ungemeinen Schnelligkeit dieses Tieres kann man sich denken, dass der Weg, welchen es zurückgelegt hatte, nicht kurz war. Es war nicht mehr fern von der Grenze des Landes, wenigstens fünfzehn Stunden von dem markgräflichen Schloss entfernt. Dort brach es noch einmal, seine letzte Kraft anstrengend, durch das Dickicht. Vor ihm lag ein Teich in einem waldigen Tal.

Ein Schuss fiel; in die Brust getroffen, stürzte der Hirsch hart am Rande des Teiches tot nieder. Ein Jäger war nämlich kurz zuvor aus dem Wald getreten und wanderte langsam am Ufer des Teiches herauf, als der Hirsch auf der anderen Seite eben aus dem Dickicht hervorbrach. Mit Staunen und Schrecken bemerkte er den menschlichen Körper auf dem Rücken des Tieres. Da gab es kein langes Besinnen. „Gott stehe mir bei und lenke die Kugel gut!“ – Das war sein Gedanke. Rasch legte er an, und wir haben bereits erfahren, wie Gott seinen Wunsch erfüllte.

Er eilte an die Stelle, wo der Hirsch lag, und sah mit Betrübnis, dass sich in dem zerrissenen und blutenden Körper des Jünglings kein Leben mehr regte. Er schöpfte Wasser und wusch ihm das Gesicht. Aber dieses war durch die Dornen und Enden des Hirschgeweihs übel zugerichtet und aufgeschwollen. Er öffnete die zerfetzten Kleider und goss Wasser auf die Brust. Vergeblich. Und dennoch glaubte er, es könnte noch Leben in dem jungen Menschen sein. Da tat schnelle Hilfe not. Doch war es dem Jäger nicht möglich die eisernen Bande ohne die nötigen Werkzeuge zu lösen. Rasch eilte er daher fort. Fast eine Stunde verging, ehe er wiederkam. Er hatte eine Feile, einen Hammer und eine Zange bei sich, kniete nieder, feilte schnell, aber behutsam die beiden Bänder durch und öffnete sie mit Hammer und Zange. Martins Arme waren los, aber der Jäger schauderte bei ihrem Anblick: Bis auf die Knochen und Sehnen war das Fleisch an mehreren Stellen weggeschunden.

Jetzt lud er ihn auf die Schulter und trug ihn fort. Er ging eine Strecke durch den Wald bis an einen breiten Fahrweg. Dort stand ein Karren, auf welchem Stroh und ein Teppich lagen. Das Pferd war an einem Baum angebunden. Behutsam legte er den Körper darauf. Dann eilte er noch einmal an den Teich, schleppte auch das tote Wild herbei, lud es mit ihm auf und fuhr rasch davon.