Der Wildfrevel

Einmal des Nachts saß Martin gar nicht fern von der Hütte auf einem Feldstein, um seinen Acker gegen das Wild zu bewachen. Ringsum war tiefe Stille, aber aus der Ferne tönte lauter Jubel durch die stille Nacht zu ihm herüber. Er wandte sein Auge nach dem hohen markgräflichen Schloss, sah die Fenster desselben hell erleuchtet und hörte, wie das Jauchzen von dorther sich von Zeit zu Zeit wiederholte. Sein Auge verdüsterte sich bei diesem Anblick, sein Gesicht legte sich in Falten. Er wurde innerlich betrübt, wenn er so die Armut seiner Familie mit dem Glanz und Wohlleben der fürstlichen Hofhaltung verglich. Zwar beneidete er die hohen Herren nicht um ihr glänzendes Leben, aber es tat ihm weh, dass seine Mutter und seine drei kleineren Geschwister nicht einmal Brot genug hatten, ihren Hunger zu stillen, während drüben auf dem Schloss täglich glänzende Mahlzeiten gehalten wurden. Er dachte daran, dass es Zeit sei, die Steuer wieder zu bezahlen, und wusste nicht, woher er das Geld nehmen sollte. Er wurde immer finsterer, und es gingen selbst arge Gedanken durch seinen Sinn, aber glücklicherweise unterdrückte er diese sofort wieder.

Lange lag er noch in tiefen Gedanken. Siehe, da regte sich etwas am Saume des Waldes, ein Rudel Rehe brach aus demselben hervor und begann, auf dem nahen Felde zu weiden. Martin hielt sich ganz stille. Das Wild war übrigens nicht gewohnt, von den Feldern verscheucht zu werden, und so war die bloße Gegenwart eines Menschen nicht hinreichend, um es zur Rückkehr in den Wald zu bewegen. Hirsche und Rehe näherten sich nicht selten dem Brendel’schen Hause bis auf Schritte.

Martin sah dem verheerenden Wild einige Augenblicke schweigend zu, aber da er schon vorher in gereizter Stimmung war, so stieg sein Unmut jetzt aufs Höchste. „Ist’s denn ganz und gar auf unser Verderben abgesehen?“, sagte er, ergriff einen gewichtigen Stein, welcher neben ihm am Boden lag, und schleuderte ihn mit der ganzen Gewalt seines Zornes mitten unter die Herde der weidenden Rehe. Der ganze Rudel aufschreckte auf und eilte in wilder Flucht in den Wald zurück.

Kaum war der Wurf getan, als ein lauter, pfeifender Ton, wie ihn das Reh in Angst oder im Schmerz ausstößt, an das Ohr des Jünglings schlug. Schnell eilte Martin zur Stelle und seine Bestürzung war außerordentlich, als er wirklich ein Reh zu seinen Füßen liegen sah. Der schwere, mit aller Kraft geschleuderte Stein hatte es am Kopf getroffen. Das Blut, oder wie die Jäger es nennen, der Schweiß, kam ihm aus Maul und Nase, und mit einigen Zuckungen verendete das Tier.

Den Jüngling überfiel bei diesem Anblick eine tödliche Angst. Er kannte ja die schwere Strafe, welche der Markgraf auf einen solchen Frevel gesetzt hatte. Er wusste sich weder zu raten noch zu helfen. Ängstlich schaute er sich um: In der Dunkelheit konnte er niemanden erblicken. Er hielt den Atem an und lauschte – kein Fußtritt, keine Stimme ließ sich hören, nur von dem Schloss herüber klang noch lauter Jubel. Da hob er rasch das tote Reh vom Boden auf, warf es über die Schulter und eilte mit solcher Angst nach der Hütte, als gelte es einem Verfolger zu entfliehen, der ihm schon auf den Fersen sei. Er weckte die schlafende Mutter und erzählte ihr von dem unglücklichen Vorfall. Auch diese geriet in die tiefste Bestürzung, sie weinte und wusste sich nicht zu helfen.

Als der Sohn die Tränen seiner Mutter sah, ermutigte er sich selbst wieder etwas mehr und tröstete sie damit, dass er ja nicht die Absicht gehabt habe, das Wild zu töten und dass es wohl von niemand bemerkt worden sei und so der Vorfall vielleicht verborgen bleibe. „Mutter“, sagte er endlich, „es scheint fast, als habe uns Gott selbst dieses Wildbret geben wollen, damit wir, wenn es gelingt, dasselbe heimlich verkaufen und unsere Steuer bezahlen können, die in diesen Tagen fällig wird.“

Die Mutter war nicht der Meinung des Sohnes und schüttelte kummervoll das Haupt, sagte aber kein Wort, um ihren Martin nicht zu tief zu betrüben oder zu sehr zu ängstigen. Die Sache war einmal geschehen, und um größeres Unheil zu verhüten, musste man sie so gut als möglich zu verheimlichen suchen. Sie rief Gott an, dass er das Geschehene nicht zum Anlass eines Unglücks für ihr Haus werden lassen möchte.

Zur Stunde noch weidete Martin das Reh aus, vergrub die Eingeweide tief unten in den Düngerhaufen, legte es so dann in die Grube, welche statt eines Kellers diente und bedeckte es mit Laub und allerlei andern Dingen. Die Mutter aber wusch die Blutspuren vom Boden und reinigte die besudelten Gegenstände, so gut es gehen mochte. Hierauf eilte Martin wieder zu der Stelle, wo das Reh zusammengestürzt war, um auch dort nach Möglichkeit jede Spur zu verwischen. Schlaflos und von mancherlei schweren Gedanken gequält, brachten beide den Rest der Nacht zu.

Früh am Morgen schritt ein markgräflicher Jäger über das Feld, die Büchse über der Schulter; voran lief ein hübscher Spürhund. Es war jenes rätselhafte Ding, das wir Menschen in unserer Kurzsichtigkeit gewöhnlich „ein Zufall“ nennen wollen, dass er gerade den Weg über das Feld in die Nähe der Brendel’schen Hütte nahm. Die Nase an dem Boden, lief der Hund voraus. Der Jäger spannte den Hahn und hielt sich schussbereit, weil er glaubte, der Hund habe die Witterung von einem Hasen. Auf diese Weise wurde er zu der Stelle geführt, die der Leser bereits kennt. Martins Fußtapfen waren natürlich nicht verwischt, ja selbst der Schweiß des Rehs war an manchen Stellen noch sichtbar, und das scharfe Auge des Jägers bemerkte sogar einige Haare des Tieres am Boden. Sein Gesicht glühte vor Zorn. Eilenden Schrittes verfolgte er die Fußtapfen, und diese führten ihn natürlich zur Hütte. Der Hund war schon in dieselbe vorangelaufen. Die Frau hatte ihn erblickt, ein Schrei des Entsetzens entfuhr ihr, sie zitterte und ward bleich wie eine weiße Wand. So traf sie der eintretende Jäger und las die Schuld gleichsam auf ihrem Gesicht. Eben trat Martin aus der Stube, und auch er konnte sein Erschrecken nicht verbergen. Mit einem höhnischen Lächeln betrachtete der Jäger die beiden und sagte:

Was ist euch?“

Fürchtet ihr euch vor einem treuen Diener eures Herrn?“ Er schwieg, und auch weder Martin noch seine Mutter sprachen ein Wort. Sie waren verwirrt, denn des Jägers Blick und Ton weissagten nichts Gutes.

Während die drei auf dem Hausflur standen, war der Hund in die Küche gelaufen und schnupperte um die Grube umher, in welcher das Reh lag. „Schau hin, Martin Brendel! Mein Hund hat wohl schon gefunden, was ich suche. Geh hin, hole das Wildbret hervor, das du in dieser Nacht heimgebracht hast.“

Martin erblasste noch tiefer und seine Mutter schlug die Hände zusammen und weinte laut. „Herr Jäger“, rief sie, „wir sind unschuldig!“

Unschuldig?“, schrie dieser, noch mehr erbost darüber, dass Martin sich nicht von der Stelle bewegte. „Ihr seid unschuldig? Kennt ihr meines Herrn Befehl, dass kein Mensch sich unterstehe, ein Wild zu beschädigen oder zu erlegen? Wisset ihr nicht, welche Strafen auf die Wilddieberei gesetzt sind? O ich weiß nun, wodurch ihr euch so gut ernährt; ich weiß auch, warum diese Hütte so weit im Felde steht. Ich hatte schon längst den Verdacht, dass euer Sohn ein Wilderer sei; nun bin ich so glücklich, mich davon zu überzeugen.“

Herr Jäger“, sagte Martin trotzig, „ich bin kein Wilderer und habe meinem Herrn noch nie ein Wild beschädigt.“ Und die Mutter flehte, er möge sie nur anhören, sie wolle ihm den Hergang der Sache erzählen. Während sie dies tat, holte Martin das ausgeweidete Reh und legte es dem Jäger zu Füßen.

Da seht es an“, sprach er, „und überzeugt euch, dass es weder durch einen Schuss getötet, noch in einem Garn gefangen wurde. Wie meine Mutter euch berichtet, also hat sich’s zugetragen.“

Aber jener wollte nichts davon hören; er sagte: „Und wenn es auch so wäre, so wäre dies schon ein Verbrechen. Aber dass du ein Wilddieb bist, ist schon dadurch bewiesen, dass du das Reh nicht aufs Schloss gebracht, sondern ausgeweidet und verborgen hast. Doch deine Strafe soll dir werden nach Verdienst.“

Damit befahl er dem Jüngling, das Reh auf die Achsel zu nehmen und ihm zu folgen. Da half kein Bitten der Mutter, keine Beteuerung des Sohnes, da halfen keine Tränen. Und als Martin sich gar weigern wollte, dem Befehl des Jägers Folge zu leisten, schwur dieser, dass er und die ganze Familie mit den härtesten Strafen belegt werden sollten, wenn er nicht augenblicklich ihm folge.

Jetzt bat die Mutter den Sohn, sich nicht länger zu widersetzen, und rief mit Tränen: „Geh Martin, geh! Der Herr wird uns nicht verderben lassen, sondern deine Unschuld an den Tag bringen und das Herz des Markgrafen erweichen.“

Der Jäger lachte boshaft. Martin warf das Reh auf die Schulter und folgte jenem mit finsterem Gesichte. Händeringend sah ihm die Mutter nach.

In der Nähe des Schlosses arbeiteten Fröner an einem neuen Weg. „Was Neues?“, fragte der Aufseher den Jäger.

Ein Wilddieb!“, rief dieser zurück, und unter den Arbeitern entstand ein ängstliches Gemurmel. Sie kannten fast alle den Martin Brendel, und es war niemand, der ihn nicht im Herzen bedauerte. Das Gerücht, dass ein Wilderer eingebracht werde, verbreitete sich schnell bis auf das Schloss, und als Martin mit dem Jäger in den Hof trat, war schon das ganze Gesinde in Bewegung, um den Frevler zu beschauen. Hier waren aber wenige, welche den Jüngling bedauerten; die Grausamkeit und Gefühllosigkeit des Herrn hatten sich auch der Dienerschaft mitgeteilt. Man freute sich hier, einmal wieder etwas ganz Neues zu erleben.

Der Lärm im Schloss hatte auch den Markgrafen ans Fenster gezogen. Er war eben erst aufgestanden. Auf seinem Gesicht zeigte sich schon die üble Laune, was auch kein Wunder war, wenn man bedenkt, dass er die Nacht beim Trinken verjubelt hatte.

Was gibt’s, Kaspar?“, rief er herab. „Einen Wilddieb hab’ ich erwischt, gnädiger Herr.“

Martin sah, wie sich das Gesicht des Markgrafen noch mehr verfinsterte, aber dennoch verlor er den Mut nicht ganz; er glaubte, der Herr werde sich noch eher von seiner Unschuld überzeugen lassen, als der Diener. Aber seine Hoffnung sank gänzlich, als er auf einen Wink des Fürsten vor diesen geführt wurde. Im höchsten Zorn schnaubte ihn der Markgraf an. Martin verteidigte sich bescheiden, aber Kaspar stellte den Jüngling dar, als ob er den Wilddiebstahl schon längst wie ein Geschäft betreibe.

Ist das die Frömmigkeit, die unter eurem Dache wohnt?“, schrie der Markgraf. „Du sollst es büßen, abgefeimter Dieb, und deine Mutter, die schlechte Heuchlerin!“

Herr Markgraf“, sagte Martin innerlich empört, aber doch ruhig, wenn auch nicht ohne Trotz, „tut mit mir, wie es euch gefällt, obgleich ich unschuldig bin, aber meine Mutter müsst Ihr nicht verunglimpfen.“

Die Worte und das Benehmen des Jünglings brachten den Fürsten in Wut. „Hinaus mit ihm!“, schrie er außer sich vor Zorn,

Auf dem Schlosshof vor meinen Augen lasst ihn durch die Hunde zerreißen.“ Und Martin wurde abgeführt, ohne dass er seine Miene veränderte. Der Markgraf ging mit großen Schritten im Saal auf und ab. Sein Zorn über den jungen, trotzigen Menschen kannte keine Grenzen. Er war gewohnt, dass jedermann vor ihm zitterte; und dieser Sohn der ärmsten Frau hatte nicht vor ihm gezittert, er hatte es sogar gewagt, ihm zu widersprechen. Er konnte sich darob kaum fassen.

Im Hof wurde schon das Gebell der Hunde laut, welche den armen Jüngling zerreißen sollten. Da eilte der Markgraf plötzlich ans Fenster und rief hinab: „Haltet ein! Führet ihn in den elendsten Kerker; ich will aller Welt ein anderes Beispiel an ihm geben, wie sie schon lange keines mehr gesehen hat.“

Damit schlug er das Fenster wieder zu, und mit Martin Brendel geschah, wie er befohlen hatte.