Das neue Leben

Noch an demselben Morgen, von welchem schon am Anfang die Rede war, erwachte Martin aus seinem Todesschlummer und schlug die Augen auf. Ein blendender Lichtstrahl fiel ihm ins Gesicht, denn die freundliche Morgensonne schien durch die hohen Fenster des geräumigen Zimmers gerade auf sein Lager. Er schloss die Augen wieder, weil der Glanz ihn blendete. Er wusste nicht, wo er war, und glaubte eher in der Wohnung der Seligen zu sein, als auf der Erde. Dorotheas Gesicht, das vor Freude strahlte und das die Morgensonne noch mehr verklärte, hatte er flüchtig erblickt, und es war ihm im Augenblick nicht klar, ob er in das strahlende Angesicht eines Engels oder in das eines Sterblichen geschaut hatte. Wieder hob er die Augenlider und erblickte vor seinem Lager die drei freundlichen Menschen, die mit unaussprechlicher Freude seinem Erwachen zugesehen hatten.

Wo bin ich?“, rief Martin.

In guten Händen!“, antwortete Wilgart.

Der Jüngling sah das grüne Kleid des Jägers und schauderte zusammen. Kasper, der Jäger, welcher ihn aus der Hütte seiner Mutter mit dem toten Reh hinweggeführt hatte, trat vor sein Gedächtnis, und alle markgräflichen Jäger, welche ihn an jenem furchtbaren Morgen auf den Hirsch gebunden hatten. Seiner ganzen Marter erinnerte er sich, und jetzt erst fühlte er die Schmerzen seiner verrenkten Glieder.

Die Försterin sah, dass ihn ein Schauder durchlief. Sie trat nahe zu ihm und sagte freundlich: „Sei ruhig, mein Sohn, der Herr hat dich durch die Hand meines Mannes von einem grausamen Tod errettet. Habe keine weitere Sorge, du bist hier wohl geborgen, und es soll dir nichts fehlen; was wir zu deiner Genesung beitragen können, wird geschehen.“

Martin sah die freundliche Frau gespannt an, ihre sanfte Rede tat ihm wohl. Sein Auge, das in der Marter nicht geweint hatte, füllte sich jetzt mit Tränen. Es waren Tränen der Rührung und Dankbarkeit. Er wollte ihr die Hand reichen, aber fühlte, dass er weder die Arme noch die Hände bewegen konnte. Wir wissen ja, wie schrecklich er an diesen Gliedern zugerichtet war. Doch hatte ihn Christine sorgfältig verbunden. Sie sah jetzt, wie er eine Bewegung mit der Hand machen wollte und es nicht konnte, darum ermahnte sie ihn zur Ruhe und entfernte sich mit ihrem Gatten und der Tochter, um den armen Jüngling sich erholen zu lassen und seine Schmerzen nicht noch mehr anzuregen.

Ich will kurz sein in meiner Erzählung und hier nur sagen, dass sich Martin unter der sorgsamen Pflege der braven Försterfamilie allmählich erholte. Dennoch dauerte es mehrere Wochen, bis er seine Glieder, besonders Arme und Hände, wieder einigermaßen gebrauchen konnte.

Er hatte von seinen Wohltätern bereits gehört, auf welche Weise er vom unvermeidlichen Tod gerettet wurde. Die Försterin hatte ihn dabei aufmerksam gemacht auf die Hand Gottes, die in jener entscheidenden Stunde ihren Gatten an den Teich im Wald geführt und die Kugel seiner Büchse nach dem Herzen des Hirsches gelenkt hatte. Martin erkannte die Hand des Herrn mit Dank, aber in seinem Herzen regte sich doch ein Gedanke, welcher gegen die Dankbarkeit stritt. Er meinte bei sich, Gott sei gewissermaßen schuldig gewesen, ihn zu retten, weil er die Strafe ohne Schuld gelitten hatte. Er sprach diesen Gedanken nicht aus, aber später kam er doch zum Vorschein. Wir werden noch davon reden.

Natürlich hatte Brendel auch seinen freundlichen Pflegern erzählt, warum er von dem Markgrafen mit jener fürchterlichen Strafe belegt worden sei. Seine treuherzige Erzählung ließ ihnen keinen Zweifel übrig, dass er unschuldig sei an dem, dessen man ihn beschuldigt hatte. Er war ihnen dadurch noch lieber geworden. Zugleich hatte Wilgart jedoch allerlei Bedenklichkeiten. Er kannte den strengen, finsteren Sinn seines Herrn, des Markgrafen, und musste fürchten, dass ihm seine Tat der Barmherzigkeit übel vergolten werden könnte, wenn es zu den Ohren des Markgrafen kommen sollte, dass er den Jüngling gerettet, in das Jagdschloss aufgenommen und mit großer Sorgfalt gepflegt habe. Er wusste sich in dieser Verlegenheit nicht recht zu helfen und beriet sich lange mit seiner Frau, was mit Martin Brendel anzufangen sei, wenn er vollständig genesen wäre.

Zufälligerweise hatte der Erbförster gerade keinen Jägerburschen. Nur ein Knecht und eine Magd waren im Hause, Dienstboten von erprobter Treue. Diesen beiden wurde strenges Stillschweigen auferlegt über die Art und Weise, wie Martin in das Haus gekommen sei. Ohnehin kannten diese auch nicht den ganzen Hergang der Sache. So sollte denn Martin Brendel als gerbursche gelten, solange er auf Wilgartstein bleiben würde. Als solcher erschien er auch, sobald er das Lager und das Zimmer verlassen konnte. In dem Jägerkleide, welches ihm Wilgart gegeben, war er ein schmucker, stattlicher Jüngling. Sein Gesicht war wieder hübsch, wie zuvor, nur einige kleine Narben waren auf demselben zurückgeblieben. Diese kamen jedoch nicht ungelegen, weil sie ihn, besonders in der neuen Kleidung, unkenntlich machen halfen, ohne ihn gerade zu entstellen.

So waren beinahe zwei Monate vergangen. Der Herbst war gekommen, und Martin benutzte die letzten sonnigen Tage, um kleine Spaziergänge in die nahen Täler, in den Wald und auf die Berge zu machen. Er fühlte dabei, dass seine Kräfte wiederkehrten, obwohl er noch nicht vollkommen hergestellt war. Von einem solchen Ausflug heimkehrend, setzte er sich eines Abends nicht fern von dem Jagdschlösschen an einer Anhöhe auf einen Stein. Er betrachtete die ganze Umgebung von Wilgartstein, sie gefiel ihm gar wohl. Das Schlösschen lehnte sich an eine Anhöhe und war von Ackern umgeben, welche der Försterfamilie das Nötige für den Haushalt lieferten.

In dem engen Wiesental, durch welches ein kleiner Bach rauschte, war das Grummet längst abgeschnitten. Einige Kühe weideten auf diesen Wiesen, während die Abendsonne ihre schiefen Strahlen auf das lichte Grün derselben warf. Die Buchen und Birken, welche die Berge zum Teil bedeckten, hatten ihre schöne grüne Farbe schon verloren: Einige kalte Nächte hatten die Blätter gelb und rötlich gefärbt. Das Laub der Eichen war noch grün, und dies, samt der dunklen Farbe der Tannen und Fichten, stach scharf ab von jenem herbstlichen Rot und Gelb und von dem goldgrünen Schimmer der Wiesen. Kurz, das Jagdhaus, das Feld, das Tal und der Wald zusammen gaben ein wahres Bild des Friedens. Martin sah es an, und das Herz ward ihm schwer. Er hatte ja keine Heimat mehr. Wo er geboren war, durfte er nicht mehr erscheinen. Er war tot für die Welt, selbst für die Mutter und die Geschwister. Er wusste nicht einmal, wie es diesen jetzt ergehe in ihrem tiefen Elend. Hier hatte er zwar mitleidige und liebreiche Menschen gefunden, bei denen es ihm hätte überaus wohl sein können, aber auch da konnte er ja nicht bleiben. Es war für ihn kein anderer Ausweg, als in ein fremdes Land zu gehen, immer noch weiter weg von den Seinigen. Das tat ihm überaus weh.

In seine Wehmut mischte sich der Groll. Wenn er das Jagdschlösschen ansah, erinnerte es ihn an den Markgrafen, dem es gehörte. War der nicht schuld an seinem Unglück und an dem Elend seiner Familie? In seinem Herzen setzte sich ein tiefer, glühender Hass gegen den grausamen Fürsten fest. Er wünschte, sich an ihm rächen zu können.

Der Erbförster trat zu ihm und sah den düsteren Ausdruck auf seinem Gesicht. Martin hatte ihn nicht sogleich bemerkt, er war zu tief in Gedanken versunken. Wilgart fragte ihn, woran er eben denke, und Martin vertraute ihm alle seine Gedanken, seinen ganzen Kummer an. Jener suchte ihn zu trösten. „Sieh, Martin“, sagte er, „wir leben hier ganz abgeschlossen von der Welt, weit entfernt von dem Schloss des Markgrafen. Die Leute, welche durch unser stilles Tal kommen, kennen dich nicht, und so magst du denn bei mir bleiben, solange es dir gefällt. Jetzt giltst du für einen Jägerburschen, und wenn du willst, kannst du es wirklich werden. Ich will dich in der Jägerei unterrichten. Unterdessen können sich ja die Verhältnisse unseres Landes wohl ändern, und auch für dich können wieder bessere Zeiten kommen. Denn wenn sich zwei Augen schließen, so wird wohl alles anders und kein Mensch fragt mehr nach dir. Du kannst dann wieder sicher bei den Deinigen wohnen, wo du willst.“

Martin fühlte sich getröstet und dankte dem Erbförster herzlich für seine Freundlichkeit. Er fühlte wohl, dass es ihm schwer geworden wäre, die brave Familie zu verlassen. Und doch konnte er nicht mehr froh werden, Mutter und Geschwister lagen ihm zu schwer im Sinn. Auf dem Heimweg fragte er den Förster, ob es nicht möglich wäre, von Wilgartstein aus einige Erkundigungen darüber einzuziehen, wie es seiner Mutter jetzt gehe.

Wilgart schüttelte nachdenklich den Kopf und sagte: „Jetzt in keinem Fall. Es könnte Aufsehen erregen und unser Geheimnis auf diese Weise am ehesten verraten. Jedenfalls könnte ich in Verdacht kommen. Habe Geduld und lass uns tun, als ob wir gar nichts von deiner Geschichte wüssten. Gelegentlich will ich dir schon Nachricht von den Deinigen zu verschaffen suchen. Gott hat dich gerettet, die Deinigen stehen auch in Gottes Hand.“

Die Mutter und Dorothea hatten eben das Abendbrot bereitet, als die Männer nach Hause kamen. Wilgart erzählte ihnen, dass Martin bei ihnen bleiben und sein wirklicher Jägerbursche werden würde. Sie hatten große Freude darüber, und dies Abendessen war das heiterste seit langer Zeit. Der ehrliche und freundliche Jüngling war ihnen allen lieb geworden, und sie hätten ihn eben so ungern aus ihrem Hause scheiden sehen, als Martin selbst ungern fortgegangen wäre.

Die Försterin machte indessen bei Tisch die Bemerkung, dass er nicht so heiter sei, wie man hätte erwarten sollen. Sie redete ihn deshalb an. „Martin“, sagte sie, „du scheinst mit dem neuen Stand, in den du treten willst, doch nicht so zufrieden zu sein, wie wir glaubten; du bist so ernst. Will dir dein neues Leben nicht ganz gefallen?“

Martin antwortete: „Liebe Frau Försterin, das neue Leben, in welches eure Mildherzigkeit mich gerufen und versetzt hat, erfüllt mich mit der dankbarsten Freude gegen euch und gegen meinen Gott. Aber verarget mir nicht, wenn meine Fröhlichkeit sich nicht so laut ausspricht, es sind mir heute schon viele Gedanken durch den Sinn gegangen. Ich habe das Geweih des Hirsches betrachtet, auf den ich geschmiedet war, und das der Herr Erbförster über der Tür meiner Stube befestigte, und die Decke des Hirsches, die er mir geschenkt hat. Soll ich da nicht ernst werden?“

Ernst, aber doch freudig“, versetzte die Frau. „Geweih und Decke müssen dir jetzt nicht mehr bloß als Zeichen deiner Marter erscheinen, sondern als Zeichen der Gnade und Barmherzigkeit unseres Gottes. Hat er nicht ein wahres Wunder seiner Güte an dir getan, da er dich vom Tod errettete? Freue dich darüber, es ist ein Beweis, dass der Herr dich lieb hat. Er hat dich wohl hart gezüchtigt, aber nach der Züchtigung hast du wieder Gnade gefunden.“

Martin schüttelte den Kopf und antwortete: „Ich hatte aber diese Züchtigung nicht verdient. Warum hat Gott sie mir auferlegt?“

Christine sah ihn mit großen Augen an und sagte: „Denkst du auch so? O wie unrecht tust du, dass du mit Gott rechten und ihn für das, was er getan hat, zur Verantwortung ziehen willst!“

Aber, liebe Mutter“, fiel ihr der Erbförster ins Wort, „nimm mir nicht übel, wenn ich meine, du seiest zu strenge. Wenn doch Martin ganz unschuldig leiden musste, darf er da nicht einmal fragen, warum Gott das geschehen ließ?“

Das möchte er wohl fragen“, sprach die Mutter, „jedoch nicht so, als wenn er dem Herrn gleichsam einen Vorwurf machen wollte. Vor Gott ist niemand ganz unschuldig, und es bleibt immer eine sündliche Vermessenheit, auf seine Unschuld zu pochen und trotzig zu fragen: Warum hat mir Gott das getan? Ich hab’s nicht verdient!“

Ihr habt recht, beste Frau Wilgart“, sagte Martin Brendel,

ich sehe das wohl ein; aber meine Mutter und meine kleineren Geschwister sind mit ins Unglück gestürzt. Warum sie?“

Da antwortete Christine: „Einmal gilt von ihnen dasselbe, was von dir, und dann wird der liebe Gott schon wissen, warum er solche Trübsal über euch alle kommen ließ. Tut er ja doch nichts, um den Menschen nur zu plagen, sondern seine Güte wie seine Strenge will denselben nur zum rechten Ziel, zum ewigen Heil führen. Wenn wir Menschen doch nur einmal lernen wollten, ihm ganz zu vertrauen; wenn wir nur nicht meinten, was wir im Augenblick nicht als gut erkennen, sei nicht gut. Wer weiß, was der Herr mit dir, deiner Mutter und deinen Geschwistern vorhat. Ich wenigstens bin überzeugt, dass es zu eurem Heil gereichen muss, wenn ihr nur nicht von Gott lasst; denn „wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen“ (Röm. 8:28). Glaube das nur, lieber Sohn, vertraue deinem Gott und sei getrost. Er wird schon tun, was recht ist.“

Die glaubensvolle Zuversicht, welche sich in diesen Worten aussprach, überzeugte auch den Jüngling und richtete sein niedergebeugtes Gemüt wieder auf. „Ich will das tun“, sagte er, „will Gott alles anheim stellen. Er soll auch mich und die Meinigen an meinen Peinigern rächen.“

Christine schüttelte missbilligend das Haupt und sprach:

Martin, du hast auch Gedanken der Rache, das merke ich dir an, das ist wieder nicht recht.“

Wenn ein Gott im Himmel ist“, sagte Brendel, „so muss er doch meine Peiniger strafen.“

Muss er?“, rief die Försterin. „Warum denn? Nicht wahr, weil du es in deinem Herzen wünschest, weil dein Herz dir solche Gedanken eingibt? Martin, dein Sinn ist noch nicht, wie er sein sollte. Gib die Rachegedanken auf, sie verderben das Herz, sie führen von der Liebe und darum auch von Gott weg.“

Nach diesem Gespräch begaben sich alle zur Ruhe. Martin konnte noch nicht schlafen. Die Reden der Försterin gingen ihm durch den Sinn. Sie hatten zum Teil einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht, und Christine hatte das wohl bemerkt und wollte ihm Zeit lassen, sich zu besinnen.

Martin ging noch eine Zeitlang in seiner Stube auf und ab, dann öffnete er das Fenster und schaute in Gedanken in die stille Nacht hinaus. Da klangen die Töne eines Gesangs an sein Ohr. Es war Dorotheas Stimme, und er verstand die Worte deutlich:

Gott lebet noch!

Seele, was verzagst du doch?

Bist du schwer mit Kreuz beladen,

Nimm zu Gott nur deinen Lauf;

Gott ist groß und reich von Gnaden,

Hilft den Schwachen wieder auf.

Gottes Gnade währet immer,

Seine Treu’ vergehet nimmer.

Seele, so bedenke doch:

Gott lenkt die Geschicke noch!“

Dies war ein Trost für sein Herz. Er sah betend hinauf zu dem, der über den Sternen wohnt, und in sein Herz kam stiller Friede.