Die Schächergnade

In den Jahren 1938 – 1939 hat man in der Sowjetunion sehr viele Menschen, vornehmlich Männer, verhaftet. Das waren nicht nur Deutsche, sondern es traf alle Nationalitäten. Es fand eine gewisse „Säuberung“ statt. Auch in unserem Dorf wurden etwa 20 Männer verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Niemand erfuhr von dem weiteren Schicksal dieser Männer.

Von all denen, die in unserem Dorf damals verhaftet wurden, kam nur einer lebend zurück. Dieser Mann lebte noch einige Jahre im Dorf. Seine Frau hatte sich in unserer Versammlung bekehrt und war treu in ihrem Gottdienen. Schließlich wurde die Gesundheit ihres Mannes schlechter und man sah, dass sich sein Leben dem Ende näherte. Seine Frau kam zu mir, schilderte ihre Not und bat mich, mit ihrem Mann zu sprechen. Als ich zu ihm kam, war er dem Tode nah, jedoch noch gut ansprechbar.

Ich erkundigte mich nach seiner Gesundheit und sagte ihm: „Wir müssen ja alle sterben. Die Bibel sagt uns aber, dass es nach dem Tod entweder ein Leben mit Gott gibt oder man wird ohne Gott ewig verloren sein. Um einmal bei Gott zu sein, müssen wir jetzt Sorge tragen und uns für den Himmel bereiten.“ Da bemerkte er: „Das habe ich auch einmal geglaubt. Doch als ich ins Gefängnis kam und all die Unbarmherzigkeit, Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit sehen und erleben musste, da wurde mein Herz gegen alles Gute abgehärtet. Der Gedanke hat sich bei mir festgesetzt, wenn es einen Gott geben würde, würde er alle diese Gräuel nicht zulassen. Mein Herz wurde wie ein Stein. Ich habe da nur Fluchen, Trinken und Rauchen gelernt. Meine Sorge war, noch einmal aus dem Gefängnis herauszukommen. Von Gott weiß ich nichts und verstehe auch nicht zu beten.“

Ich habe ihn darauf hingewiesen, dass Gott dafür Sorge getragen hat, dass Herzen, die hart wie Stein sind, erneuert werden können. Gott hat Jesus Christus gesandt, der sein Blut für uns Menschen vergossen hat und für uns gestorben und auferstanden ist. Er kann das steinerne Herz wegnehmen und ein fleischernes Herz geben. Dadurch kann man Gott erfahren. „Du musst deine Schuld erkennen, sie Jesus bekennen und um Vergebung bitten, und Gott wird dir alles vergeben.“

„Ach“, sagte der Mann, „ich kann doch nicht beten, nicht einmal ein Kindergebet.“ Der Mann tat mir leid, er war dem Tode so nah und konnte nicht beten. So versuchte ich ihm ein kurzes Gebet eines Sünders vorzubeten. Ich betete vor, er sprach mir nach. Danach fragte ich ihn, ob das Gebet sein Verlangen zum Ausdruck gebracht habe, ob er zufrieden war, wie gebetet wurde. Er bejahte es, konnte das alles aber noch nicht fassen. Jedoch wünschte er, wir sollten für ihn beten. Als ich ihn zum zweiten Mal besuchte, hatte er schon mehr Mut. Doch ich musste noch einmal vorbeten. Bei meinem dritten Besuch war er glücklich und glaubte fest, dass der liebe Gott ihm vergeben hat.

„Ich möchte jetzt sterben“, sagte er. Nicht lange darauf verstarb er. Es war ähnlich wie beim Schächer am Kreuz, der noch in den letzten Lebensstunden Gnade fand.