Liebet eure Feinde!

Zu dieser Zeit lagen wir in einem kleinen Städtchen im Quartier. Eines Tages stand ich auf dem Kirchplatz vor dem Gepäck Posten, müde und hungrig. Da kam ein kleiner Knabe mit seinem Schwesterchen in meine Nähe und betrachteten mich von allen Seiten. Ich mag ihnen wohl mit meinem struppigen Vollbart als ein rauer Krieger Furcht eingeflößt haben. Freundlich fing ich ein Gespräch mit ihnen an, und bald wurden sie ganz zutraulich. Sie fragten dann, ob sie mir etwas zu essen bringen dürften, und auf meine Antwort hüpften sie freudig davon. Bald kehrten sie mit einem Teller voll Gemüse und Brot zurück. Ich ließ mir alles gut schmecken, denn lange hatte ich solch gute Speise nicht genossen. Ein großes Wagenrad diente mir als Tisch, und die Kinder schauten mit glücklichen Gesichtern mir zu. Fröhlich plauderten sie mit mir und fragten, ob ich zu Hause auch Kinder habe. Zuletzt wollten sie noch weitere Wünsche von mir wissen. Und als sie hörten, dass ich gerne ein Neues Testament haben möchte, eilten sie rasch davon, indem sie riefen, ihre Mama hätte bestimmt ein solches. Mit den Kindern kam auch die Mutter und brachte mir ein Testament mit. Da konnten wir manches Trostwort miteinander sprechen.

Bei unserem Abmarsch aus diesem Ort begleiteten mich die beiden Kinder so weit sie durften und winkten mir noch lange nach. Diese kleine Begebenheit hatte mein Herz erquickt und ich war Gott auch dafür dankbar.

Nach dem Worte Gottes behütete ich mein Herz „mit allem Fleiß“, dass nicht Hass und Bitterkeit in mir Platz gewinnen konnten. Es tat mir wehe zu sehen, mit welchem Hass die Kameraden gefangenen Feinden begegneten, der auch manchmal vor den Toten nicht Halt machte. Ich erinnerte meine Kameraden an das Wort Jesu: „Liebet eure Feinde!“ Aber sie glaubten dieses nicht erfüllen zu können. Bei einem Gefangenentransport musste ich, als sie zum Verhör geführt wurden, auch auf einen von ihnen achtgeben. Ich hatte nun Gelegenheit mich zu prüfen. Aber Gott sei Dank, mein Herz war voll Liebe und Erbarmen gegen diesen meinen Feind erfüllt. Ich gab ihm etwas Brot und Speck, von dem ich selbst nur wenig hatte, und freute mich selbstlos, wie er’s dankbar verzehrte.

Nach kurzen Tagen der Ruhe hieß es wieder: „Das zweite Bataillon ist alarmbereit!“ Wir wurden per Bahn verladen. Vergebens war unsere Hoffnung, nach einem freien Gelände zu kommen. Als wir ausstiegen, sahen wir uns wieder von den gefürchteten Bergen umgeben. Es war 2 Uhr morgens. Vor Tagesanbruch mussten wir in gedeckter Stellung sein, ehe der Feind uns bemerkte. Mittags sollte der Angriff stattfinden. Wir erhielten noch etwas Kaffee und wurden dann durch einen General ermutigt, uns heute als tapfere Schwaben zu beweisen und unserem Namen Ehre zu machen. Nun wussten wir, dass uns Schweres bevorstand. Ich befahl meine Seele Gott und schaute glaubensvoll zu ihm auf um Hilfe und Rettung aus aller Gefahr.

Kurz vor 13 Uhr wurden wir in die Angriffsstellung geführt. Es war ein niedriges Gehölz, das nur wenig Deckung bot. Nur zu bald hatte uns der Feind entdeckt und eröffnete ein Artillerie-Schnellfeuer, das eine furchtbare Wirkung unter uns hatte! Verwundete und Sterbende schrieen in ihren Schmerzen. Manche wurden direkt zerrissen. Auch unser Kompanieführer lag mit durchlöchertem Leib in seinem Blut. Da war an einen Angriff nicht mehr zu denken. Wer nur noch konnte, sprang zurück, was aber ebenso gefährlich war, denn der Pfad führte über ein freies Plateau, das vom feindlichen Maschinengewehrfeuer bestrichen wurde. Ich kauerte hinter einem morschen Baumstumpf, der eigentlich gar keine Deckung bot, nur dass der Kopf ein wenig Schutz hatte. Als nun die ganze Bereitstellung auseinanderstob, suchte auch ich mich so rasch wie möglich in Sicherheit zu bringen. Viele sprangen auf der anderen Seite den Berg hinab und rissen immer mehr mit sich. Da rief der General mit lauter Stimme den Fliehenden nach: „Wollt ihr euren General im Stich lassen?“ Aber es war kein Halten mehr, blindlings lief alles davon. Der General befahl seinem Adjutanten, jeden Fliehenden niederzuschießen. Da kam endlich etwas Ruhe in die Leute. Jeder suchte Deckung und wartete auf weitere Befehle.

Als es dunkel wurde, mussten wir Schanzen graben und alles zur Verteidigung herrichten, denn am anderen Tage sollte unter allen Umständen das Versäumte nachgeholt werden. Manchen Kameraden sahen wir da liegen, riefen ihn an, aber er gab keine Antwort mehr. Auch am anderen Tage konnten wir trotz großer Verluste nichts erreichen. Wir lagen hier in einer richtigen Falle, am Fuß eines Bergabhanges in einem Waldweg. Von hier aus sollten wir sprungweise einzeln vorgehen. Unmöglich war es! Sobald sich jemand hervorwagte, wurde er aus sicherem Versteck niedergeschossen. Selbst die Verwundeten konnten nicht zurückgeholt werden. Endlich gab ein Hauptmann Befehl liegen zu bleiben, denn es waren vergebliche Opfer. Bei anbrechender Dunkelheit konnten wir es wagen, unsere Verwundeten und Toten zu bergen. Herzzerreißend klangen die Schreie und Hilferufe in der dunklen Nacht. Mancher rief nach Vater oder Mutter in seiner letzten Not, leise und leiser klagten die Sterbenden, bis sie hier und da verstummten.

Etwa zwölf Tage lagen wir unter ständigen Verlusten und ohne nennenswerte Erfolge an diesem schrecklichen Platz. Einmal musste ich als Ablöser 24 Stunden in dem Waldweg auf Posten liegen. Man durfte hier nur mit Lebensgefahr den Kopf heben. Immer war man in Gefahr, getroffen zu werden. Als ich so dalag, fühlte ich mich auf einmal wie in einem weichen, warmen Federbett liegend. Tiefe Ruhe und Stille umgab mich und ich verspürte, wie ich wunderbar gestärkt wurde. Es war eine unbeschreibliche Wohltat! Als ich mich umblickte, lag ich auf felsigem Boden, das Regenwasser rieselte unter meinem Körper hindurch. Frierend und vor Schmerzen kaum fähig mich zu bewegen, merkte ich, dass ich nur geträumt hatte. Ich zog die Uhr und sah, dass es nur wenige Minuten gewesen waren.

In diesen schweren Tagen hatte ich mit viel Versuchungen zu kämpfen, dass ich mich der Selbstverstümmelung schuldig machen sollte. „Hebe deine Hand hoch, damit sie durchschossen wird, dann bist du frei!“, klang es in mir. Wenn ich auf dem steinigen Boden ging, flüsterte eine Stimme: „Mache, dass du dir den Fuß vertrittst, dann kommst du ins Lazarett.“ Ich musste ernstlich zu Gott flehen, um diese Versuchung zu besiegen und willig zu werden zu leiden, solange es Gott gefällt. Und wiederum ließ mich Gott seinen wunderbaren Schutz offensichtlich erfahren. Ein Minensplitter fuhr durch meinen Rockärmel. Er war noch heiß und so scharf, dass er meinen Arm hätte zerreißen können, wenn Gott seinen Lauf nicht um wenige Zentimeter umgelenkt hätte.

Nach unheimlichen Tagen und Nächten wurden wir endlich durch neue Truppen abgelöst.