Nicht unanständig

„Die Liebe stellet sich nicht ungebärdig“ (1.Kor. 13:5).

Die wörtliche Übersetzung der Miniaturbibel liest hier: „Sie ist nicht unanständig“. Das heißt soviel wie: Sie ist nicht taktlos, sie handelt nicht unschicklich. Es ist eine weit verbreitete Meinung in der Welt, dass Christentum und Bildung Gegensätze seien, dass jeder, der in die Nachfolge Jesu eintrete, sich über alle Formen der Höflichkeit und der guten Sitte hinweg setzen müsse. Freilich, es gibt eine Art von Bildung, auf die verzichten Kinder Gottes. Wenn das zur Bildung gehört, dass man jeden neuen Moderoman gelesen hat, dann verzichten wir auf das Prädikat „gebildet“. Oder wenn das Bildung ist, dass man gelernt hat, Schmeicheleien zu sagen und Komplimente zu machen, dann wollen wir gern ungebildet sein. Aber ist das denn wirklich Bildung? Ist das nicht vielmehr eine äußere Politur? Ich habe gefunden, dass auch „gebildete“ Leute sehr ungebildet sein konnten, etwa wenn es sich um die Sache des Herrn Jesus handelte. Da konnten sie so hässliche Reden führen, so grobe und große Briefe schreiben, dass von Bildung nichts zu merken war.

Wahre Bildung ist eine Bildung des Herzens. Und da habe ich mich oft gewundert, wie auch ganz schlichte Leute aus dem Volke eine solche Herzensbildung hatten, dass sie sich in vornehmer Umgebung so zu benehmen wussten, dass sie nicht im Geringsten anstießen, sonst wäre ja auch das Wort nicht wahr: Die Liebe ist nicht unanständig. Der hat keinen rechten Begriff vom Christentum, der sich einbildet, es gebe ihm etwa einen Freibrief, unhöflich zu sein. Keineswegs.

Mose war ein Freund Gottes, und doch setzte er sich keineswegs über die guten Sitten seiner Zeit hinweg. Als sein Schwiegervater Jetro bei ihm zu Besuch kam, da ging er ihm entgegen, neigte sich vor ihm und küsste ihn. Einer fragte den anderen nach seinem Ergehen und dann gingen sie zusammen in die Hütte. Wer Besuch einladet und bleibt in Hemdsärmeln und Pantoffeln hinter dem Ofen sitzen, der hat das Wesen des Christentums noch nicht recht begriffen, der soll erst 1.Kor. 13 studieren und lernen. Die Liebe ist nicht unanständig.

Der Heiland weiß auch ganz genau, was dazu gehört. Er sagt zu dem Pharisäer Simon im Blick auf das arme Weib, dass er dort traf: „Ich bin gekommen in dein Haus; du hast mir nicht Wasser gegeben zu meinen Füßen; diese aber hat meine Füße mit Tränen genetzt und mit den Haaren ihres Hauptes getrocknet. Du hast mir keinen Kuss gegeben, diese aber, nachdem sie hereingekommen ist, hat sie nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt, sie aber hat meine Füße mit Salbe gesalbt.“ (Lk. 7:44-46). An diesen üblichen Höflichkeitserweisungen hat es Simon fehlen lassen. Der Heiland sagt ihm, dass er ein Gefühl dafür hat.

Kinder Gottes haben auch ein Gefühl, was sich schickt und was sich nicht schickt. Die Welt fragt bei diesem ganz verwundert: „Ist das Sünde?“ Aber darum handelt es sich gar nicht bei einem Kind Gottes. Für ein Kind Gottes handelt es vielleicht um die Frage: „Was schickt sich für mich und was schickt sich nicht für mich als ein Kind Gottes?“ Es gibt Christen, die haben soviel mit der Frage zu tun: Darf ein Christ...? Nämlich: Darf ein Christ rauchen, tanzen, ins Theater gehen, ins Wirtshaus, ins Konzert, ins Zirkus gehen usw.? Was sind das für Leute, die so fragen? Für gewöhnlich solche, die am Rand des Christentums leben, die so viel wie möglich von den Freuden der Welt mitmachen wollen, natürlich ohne dabei ihre Gotteskindschaft abzugeben. Sie fragen verwundert: „Ja ist das Sünde?“ Aber um diese Frage handelt es sich gar nicht. Es handelt sich darum, ob es sich schickt oder nicht. Kinder Gottes sind Königskinder, und für Königskinder schickt sich manches nicht. Was sich ein anderes Menschenskind ruhig erlauben darf, – Kinder Gottes müssen „auserkoren, hochgeboren, standesgemäß“ wandeln. Sie (Kinder Gottes) denken daran: Die Liebe ist nicht unanständig. Und wenn Kinder Gottes es nicht wissen, dann weiß es die Welt, was sich für ein Kind Gottes schickt und was nicht.

Mir erzählte ein Bruder, dass er kurz nach seiner Bekehrung eines Tages bei großer Hitze in ein Wirtshaus gegangen sei, um ein Glas Bier zu trinken. Nach einer Weile kamen ein Paar seiner früheren Kameraden herein. Als sie ihn dort sitzen sahen, fingen sie an, ihn zu verspotten: „Heinrich, was tust du denn hier? Du bist doch jetzt fromm geworden.“ Da wusste Heinrich, dass er getan hatte, was sich nicht ziemt für ein Kind Gottes. Ja, die Welt weiß oft besser, was sich für ein Kind Gottes nicht schickt, als es manchmal Kinder Gottes selber wissen. Darum denke daran: Die Liebe ist nicht unanständig, sie ist nicht unschicklich. Gib dich dem Herrn hin, liebe Seele, nimm ihn auf in dein Herz, und er wird dein Leben bilden. So wirst du „gebildet“, und dann braucht man es dir nicht mehr zu predigen, dann wirst du es ausbilden und beweisen in deinem Leben: Die Liebe ist nicht unanständig.