Kapitel 20

Unterdes war es ganz finster geworden. Und da seit etlichen Tagen die Lampe auf dem Leuchtturm nicht mehr hatte brennend erhalten werden können, war ein längeres Verweilen auf dem Meer mit großen Gefahren verbunden. Doch unser Peter steuerte ganz sicher heimwärts durch das tobende, aufgeregte Gewässer. Als er bei der Abfahrt des Bootes so plötzlich und unerwartet hineingesprungen war, hatten weder der Kapitän noch Nathan Kelly in irgendeiner Weise ihre Missbilligung ausgedrückt. Beide wussten nur zu gut, dass niemand in Derby-Hafen besser das Steuer handhaben könne, als eben dieser erfahrene und weitsichtige Fischerknabe, der fast seine ganze Lebenszeit in der Bucht und im Hafen zugebracht hatte und daher jede unter dem Wasser verborgene Klippe kannte. Darum vertrauten sie sich ihm jetzt völlig an, wo man nichts mehr sah, als die weißen Kämme der Wellen, die sich bis über den Damm erhoben.

Endlich, etwa drei Stunden nach ihrer Abfahrt, kehrten sie zum Strand zurück. In jedem Haus des Dorfes stand ein Licht am Fenster, während eine große, mit Laternen versehene Menschenmenge am Strand hin und her wogte und mit ängstlicher Spannung nach dem Boot ausschaute. Auch am untersten Ende des Dörfchens schimmerte am Fenster der Hütte Kittigs ein schwaches Licht in die finstere Nacht hinein. Nach dieser Richtung hin lenkte jetzt Peter das Schifflein. Seine Augen waren mit Tränen gefüllt, denn der Gedanke, dass er seinen Pflegevater gerettet nach Hause bringen konnte, hatte in seinem Herzen eine Freude geweckt, die er früher nicht für möglich gehalten hätte. Kittig selbst lag noch immer bewusstlos im Boot, aber Peter hatte schon des Öfteren nach dessen Herz gefühlt und jedesmal eine schwache Bewegung wahrgenommen. Es war daher noch Aussicht auf Rettung vorhanden.

Jetzt legte der Nachen in der Nähe der Wohnung Kittigs an. Von allen Seiten drängten sich die harrenden Fischer diesem Punkt zu, um Hilfe zu leisten. Kaum aber hatte die alte Brigitta das Anstoßen des kleinen Fahrzeuges vernommen, als sie auch schon herbeieilte und sich ihrem Pflegekind um den Hals warf. Aus seinem Munde vernahm sie, wie alles abgelaufen war und dass Kittig gerettet sei, alle andern aber ihr Grab in den Wellen gefunden hätten. Für den ersten Augenblick war die Frau wie betäubt. Dann aber kehrte sie eilig zur Hütte zurück, um alles für ihren Mann zurecht zu machen, der kurz darauf von den Nachbarn heimgetragen wurde. Außer den Kleinen im Dorf, die, solange sie die Stimme ihrer Mütter in der Nähe hörten, sich nicht um Sturm und Wetter kümmerten, schloss in dieser Nacht in Derby-Hafen wohl niemand sein Auge. Auch die kleine Agnes blieb wach und warf sich auf ihrem Lager unruhig hin und her, obwohl keiner ihr eine Silbe von ihrem Vater gesagt hatte.

Peter setzte sich endlich vor ihr Bettchen. So verging den Kindern die lange, stürmische Nacht, während Kittig mit totenbleichen Zügen und festgeschlossenen Augen neben ihnen auf seinem Bett lag. Nathan und andre Nachbarn bemühten sich bisher vergeblich, den Unglücklichen aus seiner Erstarrung zu wecken. Von Zeit zu Zeit schauderte Peter zusammen, wenn sich die Erinnerung an den schwarzen Rumpf des sinkenden Schiffes vor seine Seele drängte, während dabei die geisterbleichen Angesichter der unglücklichen Leute in wilder Verzweiflung zu den Wolken emporschauten. Erst mit dem Grauen des Tages wurde ihm leichter ums Herz. Das kleine Zimmer war bald gedrängt voll. Da sich eine der Frauen der kleinen Agnes annahm, war Peter nicht wenig froh, dem Gedränge und der Unruhe entfliehen zu können. Auch Nathan war ins Freie getreten und beide bewegten sich, von ihrem Hund begleitet, der St. Michaels-Insel zu.

Der Wind hatte sich bedeutend gelegt und obwohl die See noch sehr hoch ging, so ragte doch der Damm hier und dort aus den Fluten empor. In Gedanken vertieft, setzten sie ihren Weg fort. Nur zu Anfang hatte Nathan dem Peter mit großer Bewegung die Hand gedrückt, als wollte er ihm dadurch andeuten, dass nun alles Misstrauen verschwunden sei. Überall entdeckte man die Spuren des gewaltigen Unwetters. Nur das Dörfchen lag mit seinen Hütten so friedlich vor ihren Blicken, als könnte hier nimmer ein Unfall die Ruhe stören.

Diesseits des Dammes glättete sich die See mehr und mehr, das Brausen der Brandung verlor allmählich sein ungestümes Toben und klang immer dumpfer und leiser. Man hätte es fast für unmöglich halten sollen, dass nach einem solch entsetzlichen Sturm die Felsen von Langnas noch feststehen konnten. Aber da streckten sie noch wie sonst immer unverändert rötlich und grau ihre scharfen Zacken gen Himmel. Auch der alte Turm und die verfallene Kapelle in St. Michael zeigten nach wie vor ihre alten Formen. Das Gras war nach den Regengüssen wieder frisch und grün und die Grabhügel da draußen, unter denen die Schläfer durch kein Wetter geweckt wurden, lagen noch unversehrt wie zuvor in Reihen um die Kapelle herum.

Nathan und Peter standen eine Weile nachdenklich in der Nähe der einsamen Trümmer der Kapelle. Da erhob der hin und her laufende Hund unten an den Klippen ein lautes Bellen. Das kleine Tier stand auf einer vorspringenden Steinplatte, die von verwildertem Gras umwachsen war. In der Nähe dieser Platte zeigte sich ein angeschwemmter Gegenstand. Schon von weitem glaubten sie einen Büschel Seetangs zu unterscheiden. Doch als sie näher kamen, bemerkten sie zu ihrer nicht geringen Überraschung, dass Tory eine Totenhand leckte, wobei er kläglich winselte und bellte. Bald erkannte man sogar deutlich im Lichte des Morgens die Leiche eines Fischers. Sein bleiches Antlitz mit den weitgeöffneten, gebrochenen, zum Himmel starrenden Augen tauchte aus dem Gewässer empor. Die krampfhaft zusammengepressten Lippen verliehen den Zügen einen Ausdruck der schrecklichsten Verzweiflung, als ob der Tote im letzten Augenblick in furchtbarster Angst vergeblich das Erbarmen Gottes angerufen habe.

„Es ist Philipp Bolten!“, schrie Peter und näher tretend kniete er neben der Leiche nieder und ergriff die erstarrte Hand. „O arme Agnes! Es ist dein Vater. Er ist ertrunken, er ist tot.“ Ja, Philipp Bolten war tot. Menschenhilfe kam hier zu spät. Zwar war es unsern Freunden längst kein Geheimnis mehr, dass er umgekommen war, aber den einst so kräftigen Körper hier steif und kalt, ohne Leben und Bewegung, mit einer tiefen Todeswunde in der Stirn liegen zu sehen, war dennoch erschütternd. Kaum fähig, ein Gefühl des Schauderns zu unterdrücken, standen sie lange schweigend dem Entseelten gegenüber. Dann aber hoben sie ihn auf und legten ihn in den Schatten der alten Kapelle zwischen die Grabhügel. Während Peter bei der Leiche verblieb, kehrte Nathan nach Derby-Hafen zurück, um eine Mannschaft herbeizuholen, die sie heimtragen sollte.

Da stand nun der Knabe seinem einst so erbitterten Feind gegenüber, jenem Mann, der sich so heuchlerisch die Gunst und das Vertrauen des Kapitäns dadurch erschlichen hatte, dass er sich den Schein gab, als liege ihm das Heil seiner armen Seele sehr am Herzen. Dieser bleiche, jetzt für immer verstummte Mund hatte so oft miteingestimmt in die Lieder des Lobes und der Anbetung und sich dann wieder zu Flüchen und Gotteslästerungen geöffnet. Nun war er für dieses Leben geschlossen. Diese kalten Hände, oft hatten sie sich vor den Augen frommer Menschen gefaltet und dann wieder, verborgen vor deren Blicken, den Werken der Finsternis gedient! Nun lagen sie da, unbeweglich, für immer der Kraft beraubt. Wo war nun aber die Seele des Unglücklichen hingekommen? Ach! Peter wagte es nicht, seine schreckliche Vermutung auszusprechen, er überließ dem das Urteil, der da recht richtet. Unmöglich konnte er sich jedoch beim Anblick des Toten des Schauderns enthalten und setzte sich daher in einiger Entfernung auf einen Steinblock nieder, um hier der Träger zu harren. Mit Schmerz gedachte er der kleinen Agnes. Was sollte jetzt aus ihr werden?

Eine halbe Stunde später näherten sich die Träger, legten mit ernsten Blicken die Leiche auf eine Tragbahre und trugen sie auf ihren Schultern dem Dorf zu. Langsam folgte Peter dem Zug. Als man in der Nähe der Wohnung Kittigs halt machte, gab Nathan seinem jungen Freund einen Wink. Weil Agnes in der Tür stand und aufmerksam auf das Geräusch um sie her lauschte, wollten die Leichenträger an dem blinden Kind nicht vorübergehen.

Peter eilte in die Nähe der Kleinen und führte sie ins Haus. Hier herrschte eine ununterbrochene Ruhe. Der aus Castelton herbeigerufene Arzt saß vor dem Bett des Kranken, der seine Augen weit geöffnet hatte und wie im Zustand halber Bewusstlosigkeit im Zimmer umherstarrte. Als aber die Träger mit der Leiche draußen vorüberschritten, warf er einen Blick nach der offenen Tür und plötzlich schien ihm alles klar vor die Seele zu treten. Einen tiefen Seufzer ausstoßend, drehte er das Gesicht der Wand zu und so lag er stumm eine Stunde um die andere. Als Peter eingetreten war, hatte er den Umstehenden mit erhobener Hand ein Zeichen gegeben, dass sie in Agnes’ Gegenwart nichts über Philipp Bolten verlauten lassen mögen. Spät am Abend erwachte Kittig aus einem schweren Schlummer und forderte die an sei-em Lager sitzende Brigitta auf, ein Licht anzuzünden. Dann erhielt Peter von ihm die Weisung, mit der kleinen Agnes in das Haus des Kapitäns zu gehen, dort das Kind einige Stunden bei Christiane zu lassen und Herrn Seefort zu bitten, mit Nathan Kelly auf etliche Augenblicke herzukommen.

Der Sturm war jetzt ganz vorüber und friedlich glänzten die Sterne am Himmel, als Peter und Agnes ihren Weg antraten. Die kleine Blinde plauderte ganz vergnügt mit ihrem Begleiter. Die in der Natur herrschende Stille hatte nach dem in jüngster Zeit tobenden Unwetter das arme Kind völlig beruhigt und neu belebt. Sie trafen Nathan in dem Haus des freundlichen Kapitäns; die Erlebnisse des gestrigen und heutigen Tages schienen auch hier noch der Unterhaltung reichen Stoff zu bieten. Nach wenigen Minuten aber kehrte Peter in Begleitung seiner beiden Gönner in das Haus Kittigs zurück.

Der Kranke saß aufrecht im Bett. Sein graues Haar hing verworren über Stirn und Schläfen herab, seine schwieligen Hände hatten krampfhaft die Bettdecke gefaßt, als ob er sich zu einem großen Vorhaben bereit zu machen schien. Er sah sehr erschöpft aus und sein Auge starrte lange die Eintretenden an. Der tückisch funkelnde Blick war verschwunden und um den Mundwinkel spielte nicht mehr wie ehedem das verbissene, boshafte Lächeln. Er winkte seiner Frau, dass sie für die Besucher Stühle hinstellen möchte, verweilte dann aber längere Zeit in ununterbrochenem Schweigen, indem er seine Hände hin und her bewegend, still vor sich niederblickte.

„Ich weiß nicht, ob mein letztes Stündlein geschlagen hat“, brummte er endlich vor sich hin. „Vielleicht muss ich sterben, vielleicht auch nicht. Aber jedenfalls habe ich euch beiden etwas zu sagen. Dass ich ein böser, gottloser Mensch bin, wie es kaum einen zweiten auf Erden gibt, wisst ihr so gut wie ich. Mein gotteslästerliches Fluchen ist in Derby-Hafen und Umgegend zum Sprichwort geworden, so dass jeder ordentliche Mensch mit mir nichts zu schaffen haben möchte. Aber das ist noch nicht alles. Ihr erinnert euch, Kapitän, an die Geschichte mit dem Jungen hier, denn Ihr habt uns ja darüber ausgefragt. Aber wir haben alles abgeleugnet und alle Schuld auf den Peter geworfen. Dennoch hat euch der Junge die volle Wahrheit gesagt. Ich habe ihn mit dem Tod bedroht, ihn gezwungen, seinen Glauben abzuschwören und allen Verkehr mit euch abzubrechen. Und wisst ihr, ich habe Euch und Nathan Kelly bis aufs Blut gehasst, weil ihr in der Bibel laset und gottesfürchtig wart. Ich habe gegen Gott selbst gefrevelt und seinen Namen nicht anders als beim Fluchen genannt. Seitdem mich aber das schwere Unglück getroffen, ist mir‘s immer, als hörte ich eine Stimme in meinem Herzen, die mir zuflüstert: ‚Was habe ich dir getan? Warum hassest du mich?‘ Jedenfalls muss das die Stimme Gottes sein, die zu mir spricht. Es scheint mir, als müsste ich bald sterben.“

Kittig schwieg und der matte Schein des auf dem Tisch stehenden Talglichtes spiegelte sich in einer Träne ab, die langsam über die braune Wange des alten Fischers herabfloss. Die beiden Freunde verharrten in tiefem Schweigen, denn sie erkannten, dass Gott es war, dessen Hammer das felsenharte Herz Kittigs zerschlagen hatte. So verflossen mehrere Minuten. Dann aber raffte der Kranke seine Kräfte wieder auf und fuhr in gedämpftem Ton fort:

„Da höre ich wieder die Stimme. Ach, mein Herz zerreißt, wenn ich immer die Worte höre: ‚Was habe ich dir getan? Warum hassest du mich?‘ Ja, Gott weiß es, dass ich den armen Jungen misshandelt und ihn gezwungen habe, Gott und seinem Wort abzuschwören. Aber wartet, ich habe noch nicht das Schlimmste gesagt. Vor drei Wochen war‘s, da haben Philipp Bolten und ich den bösen Plan verabredet, dich, Nathan, als du vom Heringsfang mit dem Erlös heimkehrtest, zu überfallen und zu berauben. Vielleicht hätten wir dich auch ermordet. Niemand wusste um die Geschichte, aber wir konnten unsern Plan nicht ausführen, weil der Kapitän zufällig des Weges kam und wir uns nicht trauten, euch beide zugleich anzugreifen.“

„Da seht ihr’s nun, dass ich der schlechteste Mensch auf dem Erdboden bin und – hu! Da höre ich die Stimme wieder sagen:

‚Was habe ich dir getan? Warum hassest du mich?‘ Ja, das ist Gottes Stimme und ich weiß, was er getan hat. Er sandte seinen Sohn vom Himmel, er wandelte auf der Erde in Gemeinschaft mit armen Fischern. Er tat harte Arbeit und litt Not, wie es sonst keiner getan, und starb dann den bitteren Tod, damit er uns von Sünden erlöste und in den Himmel brächte. Das hat er getan und dafür habe ich ihn gehasst. Und wenn ich nun in den Wellen umgekommen wäre – ach, ach!“

„Ja, Kittig, dann wäret Ihr verloren gewesen und nach euren bösen Werken gerichtet worden“, fiel der Kapitän in ernstem Ton ein.

„O gewiss!“, keuchte der Kranke hervor. „Für mich gibt es keine Rettung! Ewig verloren!“

„Aber Ihr seid nicht in den Wellen umgekommen“, fuhr der Kapitän fort. „Eure wunderbare Rettung zeigt deutlich, dass Gott nicht will den Tod des Gottlosen, sondern dass er sich bekehre und lebe. Es ist wahr, Ihr seid in der offenbarsten Weise auf den Pfaden der Sünde und des Verderbens gewandelt, und sicher liefert Euer ganzes Leben einen Beweis von der unendlichen Langmut unseres gnadenreichen Gottes. Er hat Euch trotz Eurer Feindseligkeit und Eures Frevelmuts aus den Wellen gezogen. Die Stimme, die Ihr zu hören meint und die Euch zum Bekenntnis eurer Sünden gedrängt hat, zeugt davon, dass der barmherzige Gott Euer Gewissen berührt hat. Warum hat er dies alles getan? Sicher nur darum, um Eure arme Seele vom ewigen Tod zu retten.“

Der Kranke horchte mit zurückgehaltenem Atem. Aber als der Kapitän schwieg, schüttelte Kittig traurig das Haupt. Er wollte sprechen, aber seine Lippen schienen ihm den Dienst zu versagen. Mit beiden Händen das Gesicht bedeckend, stöhnte er laut, während das Zittern seines Körpers den Kampf verriet, der in seiner Brust entbrannt war.

„Ja, in der Tat“, ließ sich der Kapitän wieder vernehmen, „wäret Ihr auch der größte Sünder, den je die Erde trug, so ist die in Christus Jesus geoffenbarte Gnade noch weit größer. Nur Jesus, der für die Sünder am Kreuz starb, kann Euch retten. Und er, der einst sagte: ‚Ich bin gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist‘, ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit.“

„O Kittig!“, rief Brigitta, vor dem Bett kniend. „Der Herr Jesus hat dich sicher lieb. Er war gestern ganz gewiss im Boot, denn sonst wäre deine Rettung unmöglich gewesen. Ach, du hättest den Sturm von hier aus sehen sollen. Außer dem Kapitän, Nathan und Peter wollte sich kein Mensch aufs Meer wagen, denn es musste ein Wunder geschehen, wenn der Nachen nicht umschlagen sollte. Aber ich musste die ganze Zeit über beten: ‚O Gott, wenn du Kittig lieb hast, so gib ihm noch eine Frist zur Buße.‘ Und sieh, er hat mein Gebet erhört, du bist mit dem Leben davongekommen, während die andern ihr Grab in den Wellen fanden. Wenn Gott dich nicht geliebt hätte trotz all deiner Missetaten, dann wärest auch du sicher umgekommen. Ja, ich weiß, dass er dich liebt und dass er dich jetzt auch vor dem ewigen Tod retten will.“

Brigitta legte ihr von langjährigen Leiden gefurchtes Gesicht in die breite Hand ihres Mannes und benetzte sie mit Tränen. Der Atem des Kranken ging schwer und unregelmäßig, während sein starres Auge aufwärts gerichtet war. Was mochte jetzt in seiner Seele vorgehen? Jedenfalls zog sein vergangenes Leben gleich einer schwarzen Wolke an ihm vorüber. Das Gewissen mit seinen Anklagen ließ ihn wie nie zuvor seinen scharfen Stachel fühlen, so dass, von einer namenlosen Angst befallen, die bleichen, abschreckenden Züge mitunter den Ausdruck der Verzweiflung zur Schau trugen. Die beiden Freunde richteten Blicke voll Teilnahme und Mitgefühl auf den Unglücklichen, während sich zugleich in ihrem Herzen eine stille Freude regte, weil sie das, was ihr Auge sah, als eine Wirkung der Gnade erkannten. Sie sollten nicht getäuscht werden, denn während sie still ihr Gebet zum Herrn sandten, erfuhren Kittigs Züge eine plötzliche Veränderung. Die ängstliche Aufgeregtheit war verschwunden und hatte einer sichtlichen Ruhe Platz gemacht. Regelmäßiger hob und senkte sich die Brust und mit einem Ausdruck von Milde und Sanftmut, wie man es nie bei ihm gewahrte, ruhte sein Auge auf der weinenden Gattin.

„Brigitta!“, begann er endlich in einem Ton, dessen Klang das Ohr der armen Frau lange nicht berührt hatte. „Hast du mich wirklich noch lieb? Hast du denn vergessen, wie oft ich dich geschlagen, getreten und aus dem Haus geworfen habe, und wie hart und grausam ich stets mit dir gewesen bin? Denk einmal an die vielen Misshandlungen, die diese meine Faust ausführte und dann sage mir, ob du mir vergeben kannst.“

„O, von ganzem Herzen!“, schluchzte Brigitta. Da traten zwei große Tränen in das Auge des sonst so harten Mannes. In freudiger Hast ergriffen seine Hände die der Gattin und drückten sie an seine Lippen, indem er ausrief: „O Gott, das habe ich nicht verdient! Ich bin nicht wert, dass ich noch lebe. O Brigitta, bete für mich, dass mir Gott alle meine Sünden vergibt, wie du mir vergeben hast.“

„Gott ist reich an Barmherzigkeit“, flüsterte der Kapitän.

„Und diese Barmherzigkeit hat er in seinem Sohn geoffenbart. Der Herr Jesus hat durch seinen Kreuzestod eine vollkommene Versöhnung zu Wege gebracht und fordert jeden Sünder auf, an seinen Namen zu glauben. Er ladet alle Mühseligen und Beladenen ein. Er bittet die Menschen, sich versöhnen zu lassen und will niemand hinausstoßen, der zu ihm kommt. Wollt Ihr nicht zu ihm gehen?“

Ruhig hörte der Kranke die Worte an, jedoch man konnte nicht beurteilen, was in seinem Herzen vorging. Er wandte den Blick, als suche er jemanden, einer andern Richtung zu, und ließ ihn endlich mit schmerzlichem Ausdruck auf seinem Pflegesohn ruhen.

„Peter, mein Junge“, sagte er endlich mit leiser Stimme, „auch wir haben noch ein Wörtlein miteinander zu reden, ehe ich mit Gott ins Reine kommen kann. Du weißt, dass ich dich als einen Waisenknaben in mein Haus genommen habe. Aber hast du wohl je ein freundliches Wort von mir gehört? Nein, ich habe dich den einen Tag wie den andern grausam behandelt, hab dich fluchen und lügen gelehrt. Aber nun sag mir’s vor dem allmächtigen Gott, ob du mir noch zürnest, so wie ich‘s verdient habe. Sage mir‘s offen, sage mir die volle Wahrheit, wie dir‘s ums Herz ist. Ärgerst du dich darüber, wenn mir Gott meine Sünden vergibt? Du weißt wohl, dass ich dahin gehöre, wo vielleicht der arme Bolten ist. Aber wurmt es dich, Peter, wenn auch ich noch aus Gnaden in den Himmel kommen sollte? Sag es frei heraus, mein Junge!“

Die bleichen Lippen des Kranken zitterten, während sein Auge auf das Gesicht des Knaben gerichtet blieb. Als Kittig geendet hatte, beugte er sich laut schluchzend über ihn hin und stieß in gepresstem Ton die Worte hervor: „O nein, ich habe die letzte Zeit und besonders in der schrecklichen Nacht viel zum Herrn gefleht, dass er Euch vom Tode erretten und Euch ein bußfertiges Herz geben möchte. Und seht ihr‘s? Er hat‘s getan. O wie glücklich bin ich, dass Ihr Eure Sünden erkannt habt! Gewiss, der Herr Jesus will Euch alles vergeben und Euch mit seinem Blut rein waschen von allen Sünden. Denkt doch einmal an den Schächer, der zur Rechten Jesu gekreuzigt wurde. Ja, er war ein Mörder, hatte noch den Herrn Jesus verspottet, aber er sagte ja zuletzt noch:

‚Herr, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst.‘ Und der Herr erhörte seine Bitte und sprach zu ihm: ‚Heute wirst du mit mir im Paradies sein.‘ Ihr seid sicher nicht schlechter als dieser Mörder. Und wenn Ihr‘s auch wäret, dann ist die Liebe und Gnade Gottes noch viel größer. Das habe ich selbst erfahren. Wie könnt Ihr denken, dass ich mich ärgern würde, wenn Gott Eure Sünden tilgte? Wisst Ihr was? Ich wollte noch zehnmal einen solchen Sturm durchmachen wie gestern, wenn ich euch dadurch in den Himmel bringen könnte. Aber der Herr Jesus hat sein Leben hingegeben für Sünder, wie wir sind, und fordert alle Mühseligen und Beladenen auf, zu ihm zu kommen, damit er ihnen Ruhe gebe.“

Mit wachsender Spannung hatte Kittig auf den so ernst plaudernden Knaben gehorcht. Selbst als dieser endete, schienen die gesprochenen Worte wie süße, nie vernommene Klänge noch einmal an seinem Ohr vorüberziehen. In der Hütte selbst herrschte eine so tiefe, feierliche Stille, dass man draußen den sanft wehenden Wind über den Hafen streichen hörte. Jeder der Anwesenden beugte sich unter die Macht der Gnade, die allein im Stande gewesen war, ein Herz zu brechen, darin bis dahin die Ausbrüche der wildesten Leidenschaften getobt hatten. Die Augen des Kranken schlossen sich und der bisherige, durch das erwachte Gewissen heraufbeschworene Ausdruck eines bitteren Schmerzes machte sanfteren Empfindungen Platz. Über die harten, von Sturm und Sonnenstrahlen gebräunten Züge verbreitete sich ein Glanz, den man hier nimmer gewahrt hatte. Und als er noch einmal den struppigen Kopf erhob, da faltete er, wie es ihm vielleicht einmal in den Tagen seiner Kindheit die Mutter gezeigt hatte, seine Hände und wiederholte laut und feierlich die Worte:

„Herr, gedenke meiner!“