Kapitel 19

Unser Peter verlebte jetzt traurige Tage. Er fühlte, dass er das Vertrauen seiner beiden Freunde, denen er von ganzem Herzen anhing, ganz und gar verloren hatte. Zwar richtete Nathan dann und wann wohl noch ein freundliches Wort an ihn und auch der Kapitän ließ ihn zuweilen zu sich kommen, um ihm einen Auftrag zu geben. Aber das war auch alles und Peter wich endlich seinen Freunden lieber aus, als dass er sie aufgesucht hätte. Er hatte niemanden, dem er sein Leid klagen konnte.

Obwohl die eigentliche Zeit zum Heringsfang vorüber war, so segelten doch dann und wann noch einzelne Boote aus, um Beute zu holen. Auch Kittig und Bolten entschlossen sich, in ihrem alten, gebrechlichen Fahrzeug einen Zug zu tun. Vergeblich suchte die alte Brigitta sie davon abzuhalten, umsonst erinnerte sie daran, dass die Herbststürme immer heftiger würden. Wie sehr auch die Wellen gegen das felsige Ufer tobten, so beharrten sie dennoch auf ihrem Entschluss und segelten ab.

In den nächstfolgenden Tagen heulte der Wind mit zunehmender Heftigkeit und das Meer wogte in schrecklichem Toben gegen den Strand. Als Peter zum letzten Mal das Vieh nach Langnas trieb, begleiteten ihn die alte Brigitta und Christiane, die jetzt der alten Haushälterin des Kapitäns als Stütze diente. Bleifarbige Wolken bedeckten den ganzen Himmel und das Meer sah pechschwarz aus. Mit klopfendem Herzen schaute sich Brigitta nach den Wetterzeichen um. Auf dem Heimweg rang sie jammernd die Hände und rief ein über das andere Mal: „Gott erbarme dich über meinen unglücklichen Mann! Erbarme dich über seine arme Seele!“

Doch immer wilder schlugen die Wellen über dem Damm zusammen. Oft war es, als ob der Wind, erschöpft vom Blasen, einige Augenblicke Atem zu schöpfen gezwungen sei. Aber ehe noch das Meer sich zu glätten vermochte, setzte er wieder mit erneuerter Gewalt sein Toben fort und wühlte tiefe Abgründe in den Wogen auf. Draußen gab es fast nichts mehr zu tun. Das Vieh blieb daheim und aus Vergnügen verließ niemand seinen Herd, mit Ausnahme der jungen Buben, denen es Spass machte, gegen den Sturmwind anzukämpfen. Es kam die Nachricht, dass die Heringsschiffe, die am letzten Montag noch ausgefahren waren, schon am Mittwoch wieder eingelaufen seien, weil man den Sturm vorausgesehen habe. Dennoch bemerkte man weder Kittig noch Bolten in Derby-Hafen – ein Umstand, der freilich nicht sehr auffiel, weil man voraussetzte, dass sie sich im nächsten Städtchen aufhalten würden, um das Wetter abzuwarten.

Nur die alten Brigitta stand oft, das sorgenvolle Gesicht in beide Hände gedrückt, tief seufzend am Fenster und schaute auf das tobende Meer hinaus, während ihr die verworrensten Gedanken durch den Kopf fuhren. Ach! In früheren Jahren hatte sie glücklichere Zeiten mit Kittig verlebt. Aber seit er sich dem Genuss des Brandweins ergeben hatte, war alle Freude aus ihrer Hütte gewichen. Wenn sie dann durch das schrille Pfeifen des Windes aus ihrem Sinnen aufgeschreckt wurde und vor sich den weißen Schaum der Wellen aufspritzen sah, hätte sie laut aufschreien mögen.

Wie sonderbar war es überhaupt seit etlichen Tagen der armen Frau zu Mute! Seit langen Jahren hatte sie stets mit Schreck auf die Rückkehr ihres Mannes gewartet – und jetzt? Mit jeder Stunde mehrte sich ihr Verlangen, ihn wieder zu sehen, und sie bereitete alles auf den Augenblick seiner Rückkehr mit einer Sorgfalt vor, wie man es in den letzten Jahren fast nie gesehen hatte. Nach ihrer Berechnung musste Kittig am Samstag kommen, obwohl am Morgen dieses Tages das Meer tobte, als hätten es die wilden Fluten darauf abgesehen, die kleine Insel mit einem Mal hinwegzuspülen. Selbst Peter hatte an diesem Tag im Haus keine Ruhe. Er arbeitete sich mit großer Mühe bis zur St. Michaels-Insel hinüber, wo er, gegen den Sturm durch das alte Gemäuer der Kapelle geschützt, die brausenden Wogen des Meeres beobachten konnte.

Dort stand er lange, ganz versunken in den Anblick der tobenden Fluten, als er in einiger Entfernung die Gestalt des Kapitäns Seefort bemerkte, der in diesem Augenblick mit großer Anstrengung gegen einen heftigen Windstoß ankämpfte, um ebenfalls das schützende Gemäuer zu erreichen, wo sich unser Freund befand. Es waren bereits drei Wochen seit jener Zeit verflossen, wo Peter dem Kapitän die Anschläge gegen Nathan Kelly mitgeteilt und ihn seit vierzehn Tagen nicht mehr gesehen hatte. Endlich erreichte dieser denselben schützenden Ort und stellte sich keuchend neben den Knaben, der ihm schweigend seinen Platz an dem offenen Fensterbogen abtrat. Der Kapitän zog jetzt ein Fernglas aus der Tasche und schaute lange und sorgfältig dadurch auf das Meer hinaus, bis er seine Prüfung beendete. Seine Mienen zeigten aber einen außergewöhnlichen Ernst und mit gedämpftem Ton sagte er:

„Hier ist nichts zu sehen, mein Junge. Bin hergekommen, um nach Schiffen auszuschauen, die in Gefahr sein könnten. Ich werde, so lange es hell bleibt, hier verweilen. Wer weiß, ob man nicht irgendwo Hilfe leisten kann. Das Meer hat schon manchen Schiffbrüchigen verschlungen und auch heute deutet mir sein wildes Brausen an, dass es nach neuen Opfern lechzt.“

Diese letzten Worte sprach der Kapitän mehr zu sich selbst, als zu dem Knaben, und ein tiefer Seufzer entwand sich seiner Brust, als er, gegen das Gemäuer gelehnt, das empörte Gewässer anstarrte. Das Herz unseres Freundes klopfte mit hörbaren Schlägen, seit er sich in der Nähe des ihm so teuren Mannes sah. Lange war er unfähig, ein Wort hervorbringen zu können, dann aber richtete er einen flehenden Blick auf den alten Seemann, fasste sich ein Herz und sagte:

„Darf ich bei Ihnen bleiben, Herr Kapitän? Ich bin mit meiner Arbeit fertig und will Sie gewiss nicht stören. Ich möchte gern bleiben und mein Auge ist sehr scharf.“

„Bleib nur, mein Junge!“, erwiderte der Kapitän, indem er dem Knaben freundlich auf die Schulter klopfte. „Ich bin heute nicht zum Sprechen aufgelegt, aber es ist mir ein Trost, wenn jemand in meiner Nähe ist. Bleib nur ruhig hier, mein Junge.“

Peter war überglücklich. Es war ihm, als sei mit einem Mal das Missverständnis bereits gelöst. Einmal wieder in der Nähe seines alten Gönners sein zu können, das war ihm vorderhand genug. Das Unwetter hatte jetzt für ihn gar nichts Schreckhaftes mehr, da sich ihm die schöne Gelegenheit bot, einen längst gehegten Wunsch erfüllt zu sehen. Wie gerne wäre er bereit gewesen, durch irgend eine Dienstleistung seiner Anhänglichkeit und Liebe Ausdruck zu geben! Der Kapitän prüfte wieder durch sein Fernrohr nach allen Seiten hin das Meer.

„Peter!“, begann er nach einer Weile wieder, „komm einmal hierher und richte deinen Blick gerade nach Langnas hinüber! Fällt dir dort nicht etwas auf?“

Es war indes heute durchaus keine leichte Aufgabe, lange in der Ferne Beobachtungen anzustellen, denn der scharfe Südwestwind trieb dem kleinen Burschen den Regen in ganzen Strömen ins Gesicht. Peter hielt jedoch die Hand über die Augen und drückte diese, um die Sehkraft zu konzentrieren, zur Hälfte zu. So starrte er lange und ununterbrochen über das Meer hin. Es dämmerte freilich schon stark, aber zugleich war auch der bleiche Mond aufgegangen und sein Schein fiel gerade auf die vom Kapitän bezeichnete Stelle im Meer. In der Tat, nach anhaltendem Hinschauen bemerkte Peter endlich auf den schwarzen Wogen einen noch schwärzeren Punkt, der vom Wind gerade gegen die gefährlichen Klippen von Langnas getrieben wurde. Er rieb sich die Augen und sah immer wieder hinüber, um seiner Sache gewiss zu sein. Endlich aber wandte er sich, blass vor Aufregung, an den Kapitän mit den Worten:

„Es ist ein Wrack, ganz ohne Takelwerk! Jedenfalls treibt es unaufhaltsam den Klippen zu. Sollte wohl noch Rettung möglich sein? Was sollen wir tun, Herr Kapitän?“

„Wir wollen tun, was in unseren Kräften steht“, murmelte der alte Seemann. „Wir müssen es mit Gottes Hilfe wagen, den unglücklichen Schiffrüchigen Rettung zu bringen. Laufe schnell ins Dorf, mein Junge, und rufe alle Männer zusammen!“

Kaum hatte der Kapitän die Aufforderung ausgesprochen, so rannte Peter auch schon in vollem Lauf auf Derby-Hafen zu. Es war, als habe der Wind ihn förmlich auf seine Flügel genommen und ihn im Flug an den Ort seiner Bestimmung getragen. So trostlos auch seine Botschaft klang, so zeigte sich in seinen Mienen der Ausdruck der Befriedigung. Langsamer schritt der Kapitän ihm nach. Ehe er noch das Dorf erreichte, hatte Peter bereits die Fischer am Strand versammelt und ihnen die Sachlage betreffs des gefährdeten Schiffes ans Herz gelegt. Alle blickten sich besorgt und unschlüssig an und schauten kopfschüttelnd hinüber auf das furchtbar bis auf den Grund aufgewühlte Meer.

„Es würde eine Tollkühnheit sein, den Strand bei solchem Unwetter zu verlassen“, brummte einer der Männer, und alle andern schienen diese Aussage zu bestätigen. Inzwischen war Herr Seefort näher gekommen, der mit dem erfahrenen und geübten Seemannsauge eines alten Schiffskapitäns den Ausdruck in den Mienen der Umstehenden prüfte.

„Dort ist Kittigs Kahn“, sagte er ernst. „Der kann, von zwei starken Männern gesteuert, den Sturm aushalten. Wer will das Wagstück mit mir übernehmen? Ohne Gefahr ist freilich die Sache nicht.“

Während einer Minute folgte tiefes Schweigen. Aller Blicke waren zu Boden gesenkt. Dann aber trat ein Mann aus der Gruppe hervor und reichte dem Kapitän die Hand – es war Nathan Kelly.

„Ich werde ihr Geleitsmann sein“, sagte er heiter. „Ich fürchte weder Wind noch Meer, weil ich weiß, dass Gott uns dort ebenso gut bewahren kann, wie hier auf trockenem Boden.“

Die umstehenden Fischer fühlten sich beschämt; aber mehrere unter ihnen nannten es geradezu eine Torheit, in solcher Weise das Leben aufs Spiel zu setzen. In diesem Augenblick drängte sich die kleine Christiane durch die Gruppe, umfasste den Arm Nathans mit beiden Händen und rief in ängstlichem Ton:

„O Nathan, denk an meine Schwester Elisabeth! Nein, du darfst nicht mitgehen!“

„Liebes Kind“, erwiderte der Angeredete freundlich, „gewiss denke ich an sie, aber dennoch fahre ich mit dem Kapitän. Alle anderen hier haben Frauen und Kinder, für die sie sich erhalten müssen. Es würde unrecht sein, wenn ich mich zurückziehen wollte. Aber wenn ich frisch und gesund wiederkehre und Elisabeth mir die Hand zur Ehe reicht, dann kann sie sich später bei jedem Unwetter damit trösten, dass ich heute meine Schuldigkeit getan habe. Darum sei getrost und bete für uns. Der Herr wird über unser Leben wachen.“

„O möge der allmächtige Gott dich und den Kapitän behüten!“, rief das Kind weinend und die umstehenden Fischer fügten in gedämpftem Ton ihr Amen hinzu.

Jetzt war keine Zeit mehr zu verlieren. Das Boot wurde in großer Eile bereitgemacht, in das die beiden Männer mutig hineinstiegen. Die Ruder waren noch in Kittigs Hütte und als Peter sie herbeiholte, trat die alte Brigitta mit ihm ins Freie. Man brauchte ihr kaum zu sagen, um was es sich handelte. Schon von Weitem vernahm man durch den Lärm der Wogen ihr lautes Schluchzen.

„O, ich weiß es“, rief sie, „Kittig und Bolten sind es, die drüben mit dem Tode ringen. Sie wollen auf Derby-Hafen lossteuern und geraten in die Klippen von Langnas. O rettet sie doch! Sie sind beide so gottlos. Wenn sie in ihrem Zustand vor Gott erscheinen müssen, dann sind sie auf ewig verloren.“

Mit zitternden Händen half die arme Frau selbst, als das Boot vom Land abgestoßen wurde. Doch in demselben Augenblick, als die beiden Männer die Ruder ergriffen, sprang auch Peter zu ihnen in das Fahrzeug und warf den beiden Freunden einen solch flehenden Blick zu, dass sie es nicht wagen konnten, ihn abzuweisen. Das Boot setzte sich in Bewegung und arbeitete sich durch die wildempörten Wogen. Es war für die kühnen Schiffer eine schwere Arbeit, das Boot um das Ende des Dammes zu lenken und doch begann erst jetzt die eigentliche Gefahr.

Jeden Augenblick drohten die aufgewühlten Tiefen das schwankende Fahrzeug zu verschlingen. Eine Zeitlang konnten sie das Wrack durchaus nicht mehr sehen; als sie aber bis zur St. Michaels-Insel gelangten, zeigte es sich wieder ihren forschenden Blicken und zwar ganz in der Nähe der gefährlichsten Stelle. Der Kapitän wandte schweigend alle seine Kräfte an, um sein Ruder zu handhaben; Nathan aber stimmte, von Peter begleitet, aus voller Kehle das Lied an:

„Wenn der Wellen Macht

In der trüben Nacht

Will des Herzens Schifflein decken,

Dann wirst du die Hand ausstrecken.

Habe auf uns acht,

Hüter in der Nacht!“

Näher und näher rückte das Boot der Stelle zu, wo das Wrack steuerlos hin und her geschleudert wurde. Es war ein Heringsfahrzeug, an dem der Mast und alles Takelwerk zertrümmert war. Auf dem Vorderdeck waren fünf Männer zu sehen, die sich an die Einfassung klammerten und mit entsetzlich verzerrten Gesichtern die Felsen in ihrer Nähe anstarrten, an denen in wenigen Augenblicken das Wrack unausbleiblich zerschellen musste. Sie schienen das sich nähernde kleine Boot nicht zu gewahren. Peter unterschied deutlich Kittigs braunes, von Angst entstelltes Antlitz, sowie die totenbleichen Züge Boltens. Er rief ihre Namen, aber sie hörten nicht. Und gerade als der Kapitän und Nathan mit Aufbietung aller Kräfte ihr Fahrzeug bis an die Seite des Wracks zu lenken in Begriff waren, erhob sich plötzlich eine haushohe Welle vor ihren Augen. Deutlich gewahrten sie, wie sie die Unglücklichen in die Tiefe hinabriss. Ein furchtbarer Schrei entfuhr den Lippen des Knaben und für einen Augenblick ließen auch seine Gefährten ihren Arme kraftlos in den Schoß sinken.

Es war ein entsetzlicher Augenblick. Das Wrack war verschwunden, die Wogen rollten, wie in vollstem Grimm, über die Stelle hin, unbekümmert über das große Unheil, das sie angerichtet hatten. Dennoch aber spülten sie im nächsten Moment eine menschliche Gestalt wieder auf die Oberfläche und trieben sie in die Nähe des Bootes. Man sah, wie der Unglückliche um sein Leben rang. Mit aller Anstrengung, indem sie jede Muskel anspannten, versuchten unsere Freunde dem Ertrinkenden näher zu kommen, während Peter seine Stimme erhob, um ihm Mut zu machen. Wirklich vernahm der Unglückliche den Schrei und wandte sich dem Boot zu, indem er den Rest seiner Kräfte anwandte, um oben zu bleiben. Jetzt war die Hilfe da. Mit kräftigen Armen zog Nathan ihn ins Boot, wo er bewusstlos niedersank. Peter beugte sich über ihn und erkannte seinen Pflegevater Kittig.