Kapitel 21

Bisher hatte man es nicht gewagt, der kleinen Agnes den Tod ihres unglücklichen Vaters mitzuteilen. Selbst am Begräbnistag führten Peter und Christiane das blinde Kind in die einsam im Wald gelegene Hütte Boltens, wo es mit dem Hündchen als einzigem Gesellschafter so manche trostlose Stunde verlebt hatte. Die Blätter der Bäume zeigten bereits ihre gelbe Herbstfarbe. Der Sturm der letzten Tage hatte schon hie und da mit rauher Hand das Laub abgeschüttelt, vor sich hingejagt und in den kleinen Sturzbach gestreut. Die Hütte selbst sah sehr öde und verfallen aus. Seit Philipp Bolten seinen letzten Ausgang gemacht hatte, war die Tür durch niemanden geöffnet worden. Es überlief unsern Peter eiskalt, als er die zurückgelassenen Spuren des Mannes sah, der so plötzlich und unerwartet vor seinen ewigen Richter gefordert worden war. In einer Ecke lagen allerlei Gerätschaften, hier stand jener Fischerkorb, in dem er einst die aus Kittigs Reusen gestohlenen Fische zum Markt trug. Dort lag jener mit Eisen beschlagene Knotenstock, mit dem er vor wenigen Wochen den heimkehrenden Nathan Kelly hatte zu Boden schlagen wollen. Und ach! Wo war jetzt der kräftige Nacken, der jenen Korb getragen hatte? Wo die geübte Hand, die diesen Stock schwang? Auch Tory, der treue Wächter der kleinen Blinden, war seinen drei Bekannten gefolgt. Er beschnupperte, mitunter ungeduldig bellend, jetzt alle umherliegenden Gegenstände und sah die Gesellschaft mit so klugen Augen an, als wolle er wissen, was sich hier zugetragen habe, und was nun ferner geschehen solle. Als Christiane sich auf einen Holzklotz am Kamin niedersetzte und die kleine Agnes auf ihren Schoß nahm, während sich Peter neben ihnen auf den Boden kauerte, da schlich sich auch der Hund herbei und berührte mit seiner kalten Nase die Hand des blinden Kindes.

„Ach, Tory, mein treues Hündchen!“, rief Agnes, das Tier streichelnd. „Jetzt sind wir wieder zu Hause und bald wird auch der Vater hier sein.“

Peter warf einen fragenden Blick auf Christiane. Dann wandte er sich an die kleine Blinde und sagte in teilnehmendem Ton:

„Agnes, willst du nicht lieber bei mir und Tante Brigitta bleiben? Kittig wird jetzt nicht mehr trinken, fluchen und mich peitschen. Denke doch, wie schön es dann bei uns sein wird.“

„Und weißt du“, fügte Christiane lebhaft hinzu, „ich gebe dir Unterweisung im Spinnen und Stricken. Ich habe schon öfters gehört, dass blinde Mädchen mit solchen Handarbeiten gut fertig werden können. Dann spinnst du Wolle zu Strümpfen für Peter. Ei, wie schön werden die Strümpfe sein, die er von dir bekommt. Du strickst sie ganz allein und schenkst sie ihm.“

Das Gesichtchen der Kleinen strahlte vor Freude und Entzücken. Sie lehnte ihren Kopf auf die Schulter Christiane’s und lauschte begierig auf deren Vorstellungen, die mit einem Mal eine glänzende Zukunft vor ihr eröffnet hatten.

„Auch lernst du dann noch mehr hübsche Lieder singen“, fuhr Christiane in freundlichem Ton fort. „Peter soll dir auch Sprüche aus der Bibel vorsagen. Daraus kannst du lernen, wie lieb dich der Herr Jesus hat, wie Gott dein Vater sein will, der dich nie allein lässt, dir ein glückliches Herz gibt und dich vor allem Unglück bewahrt. Ist das nicht herrlich?“

Wie frisch und fröhlich indes die Stimme der Sprecherin auch klingen mochte, so zeigten ihre Mienen, wenn ihre Blicke auf der lauschenden Kleinen ruhten, doch einen Ausdruck der tiefsten Wehmut und Trauer, den sie kaum zu beherrschen vermochte. Die kleine Agnes fühlte, wie eine Träne auf ihre Wangen fiel. Doch wurden die Gedanken des Kindes von dieser ihr jedenfalls unerklärlichen Erscheinung abgelenkt, denn ihr glanzloses Auge richtete sich nach der Seite, wo Peter saß. Er legte seine Hand auf ihren Arm und sprach in feierlich sanftem Ton die Worte: „Liebe Agnes! Dein Vater ist tot!“

Um keinen Preis aber hätte er ihr mitteilen mögen, auf welche Art der so plötzliche Tod herbeigeführt worden sei. Er wünschte, dass sie auch ferner gern das Brausen der Wellen hören und keine Furcht haben möchte, wenn er später im Sturm auf der See sei. Agnes schlang ihre Ärmchen um Peters Hals und weinte leise vor sich hin. „Tante Brigitta wird fortan deine Mutter sein“, tröstete der Knabe, eine Träne unterdrückend, „und ich dein Bruder. Sollst sehen, wir werden vergnügt miteinander leben. Wenn ich einmal groß und stark geworden bin und allein zum Heringsfang ausfahren kann, dann sollst du mir die Netze stricken. Das wird mir sicher Glück bringen und ich werde dann ohne mein Schwesterchen gar nicht mehr sein können.“

In dieser Weise tröstete, von Christiane unterstützt, der Knabe die kleine Waise noch lange. Obwohl erstere mit ihrer Schürze noch lange ihre Tränen trocknen musste, so schien doch das Herbe kindlicher Trauer sich allmählich zu verlieren. Nur dann und wann öffneten sich die Lippen des Kindes und man hörte sie flüstern: „Armer Vater! Guter Vater!“

Endlich waren alle schweigsam geworden. Draußen strich ein leiser Windhauch durch das rieselnde Laub und vermischte seinen Ton mit dem dumpfen Gemurmel des nahen Baches. Sonst unterbrach nichts die feierliche Stille, denn selbst Tory hatte sich am Boden ausgestreckt, als ob er es für ungeziemend hielte, durch lustige Sprünge seine kleine Gebieterin in ihrem Schmerz zu stören. Da vernahm man plötzlich von draußen her den Schall von Männertritten und bald darauf schritt Kapitän Seefort, begleitet von Kittig und Nathan, über die kleine Brücke und näherten sich der armseligen Hütte. Alle drei hatten dem unglücklichen Bolten das letzte Geleit gegeben und kehrten in diesem Augenblick von dem Begräbnisplatz zurück. Ihre Mienen zeigten großen Ernst. Leise traten sie in das Stübchen, dann näherte sich der Kapitän und schloss mit sichtlicher Bewegung die kleine Waise in seine Arme.

„Agnes!“, sagte er in bewegtem, teilnehmenden Ton. „Wir alle haben dich sehr lieb, mein Kind. Und da dein Vater nicht mehr unter den Lebenden weilt, wollen wir für dich in einer Weise sorgen, wie es dein Vater nicht vermochte. Höre mir einmal zu, liebes Kind! Ich kenne ein schönes Haus, worin viele blinde Kinder wohnen. Sie lernen dort stricken, nähen und Kleider machen, so gut wie die anderen Leute, die sehen können. Und was noch weit besser ist, sie lernen auch in der Bibel lesen, so gut wie Peter und Christiane. Wenn dann diese Kinder das alles gelernt haben, dürfen sie wieder in ihre Heimat zurückkehren. Sie machen nachher den Leuten keine Mühe mehr, sondern sind ihnen sogar in vielen Dingen nützlich. Die Kinder, die aus diesem Haus zurückkommen, können dann, solange sie leben, viele hübsche Sachen anfertigen, wenn sie auch blind sind. Hättest du nicht Lust, auch dahin zu gehen, um etwas zu lernen, mein Kind?“

Die Kleine sagte kein Wort. Ihr Gesicht zeigte eine fast durchsichtige Blässe und drückte zugleich Staunen und Überraschung aus. Der Gedanke, sich von ihren beiden Gefährten trennen und in weiter Ferne unter fremden Leuten ihren Wohnsitz nehmen zu müssen, schien sie völlig zu übermannen. Dem guten Kapitän entging dies nicht und er fuhr daher nach einer Pause fort:

„Der Herr Jesus könnte jetzt ebensogut, wie damals, als er noch auf der Erde wandelte, dir dein Augenlicht schenken. Aber wenn er es nicht tut, so hat er sicher eine weise Absicht dabei. Dass er die armen Blinden lieb hat, das beweisen die Wunder, von denen wir in der Bibel lesen können. Gewiss kannst du das später auch. Und weißt du, wenn du dich hinbringen lässt, so soll Christiane dich begleiten und in der ersten Zeit bei dir bleiben, bis du die andern Kinder kennengelernt hast. Nicht wahr, wenn Christiane die Reise mitmacht, dann wirst du gewiss gern hingehen?“

Da erheiterten sich ihre Züge wieder und, indem sie dem freundlichen Mann die Hand reichte, gab sie durch Kopfnicken ihre Zustimmung. Peter hingegen ließ missmutig den Kopf hängen, denn er hatte sich gerade in diesem Augenblick die schönsten Pläne ausgedacht, wie er die Kleine daheim versorgen könne. Jetzt sollten alle diese Luftschlösser mit einem Mal wieder zusammenstürzen und er die Kleine, an die er sich so ganz gewöhnt hatte, auf längere Zeit nicht mehr sehen. Der Kapitän aber, der in dem Herzen des Knaben zu lesen schien, lächelte über dessen ernstes Gesicht und sagte zu der kleinen Blinden:

„Und was den Peter betrifft, liebe Agnes, so würdest du, auch wenn du in Derby-Hafen bliebest, ihn doch nicht um dich haben. Kittig hat ihn mir abgetreten und ich werde ihn mit mir nehmen, weit fort über die großen Meere. Was denkst du darüber, Peter? Hättest du wohl Lust, mit mir zu reisen?“ Prüfend ruhte das Auge des freundlichen Seemanns auf den Zügen des Knaben, in dessen Blicken sich eine auffallende Veränderung bemerken ließ. Die soeben noch missmutig zu Boden gesenkten Blicke leuchteten plötzlich in hellem Glanz auf. Das ging über alle seine Erwartungen, denn nimmer hatten sie sich so hoch zu steigern gewagt. Er stand vor seinem Gönner völlig sprachlos mit einem in stürmischer Freude klopfendem Herzen. Als endlich sein Mund wieder Worte zu finden vermochte, da rief er mit tiefbewegter Stimme:

„Ob ich mit ihnen reisen möchte, Herr Kapitän? Ja gewiss, bis an das Ende der Welt.“

„Und hoffentlich noch weiter“, fiel der Kapitän lächelnd ein,

„wohl gar bis in die andre Welt, Peter. Aber weißt du, wir müssten schon in den nächsten Tagen absegeln und zwar noch eher, als Nathan und Elisabeth ihre Hochzeit feiern. Das letztere tut mir sehr leid“, fuhr er, zu Nathan gewendet, fort, „aber das Schiff ist bereits gerüstet und ich darf nicht länger säumen. Doch da habe ich über Nacht einen Einfall gehabt. Ich habe nämlich gehört, dass ihr vorderhand nirgends ein Haus finden könnt, wodurch sich eure Heirat noch monatelang hinziehen würde. Wie wäre es, wenn du und Elisabeth, da mir meine Haushälterin gekündigt hat, eure Wohnung in meinem Haus aufschlüget? Mir würde es sehr lieb sein, denn ich werde mit Peter wenigstens zwei Jahre in der Fremde bleiben. Was denkt ihr darüber, Nathan?“

„Herr Kapitän“, erwiderte der junge Mann in treuherzigem Ton, „da nehmt ihr mir und meiner Braut eine schwere Bürde vom Herzen. Es gibt im ganzen Dorf sicher kein Haus, darin ich mit größerer Freude wohnen möchte, als gerade in dem Euren; und Elisabeth teilt darin ganz meine Gedanken.“

Bis dahin hatte Kittig ohne jegliche Einmischung der Unterhaltung beigewohnt. Man sah in dem bleichen Gesicht noch immer die Spuren jener schrecklichen Nacht. Aber in seinem ganzen Wesen zeigte sich eine Ruhe, die deutlich Zeugnis gab von der gründlichen Umwandlung seines inneren Zustands. Plötzlich jedoch schien eine Wolke den hellen Glanz seines Auges ein wenig zu trüben, denn er sagte, sich von seinem Platz erhebend, ganz kleinlaut:

„Aber, Herr Kapitän, wenn ihr mit Peter so lange ausbleiben wollt, was wird dann aus mir werden? Ich habe niemanden, den ich zum Steuern gebrauchen kann und werde schwerlich bei den vielen Riffen und Untiefen aus dem Hafen kommen können, denn ohne Steuer ist das ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn ich nun niemanden habe, was wird dann aus mir und meiner armen Frau werden?“

„Lasst uns alles Gott befehlen!“, erwiderte der Kapitän ruhig.

„Er allein ist in allen Dingen der beste Ratgeber.“

Und im nächsten Augenblick lagen Klein und Groß auf ihren Knien und in der alten, verfallenen Hütte des verunglückten Fischers vernahm man die betende Stimme des gottesfürchtigen Seemanns, der den Herrn mit Inbrunst für alle bisher so gnädigen Führungen pries und alle Sorgen und Bekümmernisse mit gläubigem Vertrauen zu seinen Füßen niederlegte. Als sich die Betenden wieder erhoben, las man in aller Mienen jene feierliche Stimmung, in der ein jeder durch das Bewusstsein der Nähe und Gegenwart Gottes versetzt worden war. Eine Viertelstunde später brachen sie auf. Man verriegelte die Hütte und alle schritten nach Derby-Hafen zurück.

Etliche Wochen später bemerkte man auf der Reede von Liverpool eine kleine Gruppe von Fischersleuten. Sie waren von der Insel Man herübergekommen und wandten ihre Blicke einem im Strom liegenden großen Handelsschiff zu. Seine am Mast flatternde blaue Fahne deutete an, dass man im Begriff sei, in See zu stechen. Unter ihnen entdeckte man einen starkgebauten Mann, der von Zeit zu Zeit mit dem groben Ärmel seiner Jacke durch das gebräunte Antlitz fuhr, um eine herabfließende Träne abzuwischen, während eine neben ihm stehende weibliche Person ohne Rückhalt schluchzte und weinte. Es waren Kittig und seine Brigitta. Christiane hielt die kleine Agnes, die bereits die Kleidung der Blindenanstalt trug, an der Hand. Beide hatten bis jetzt eine bewunderungswürdige Fassung gezeigt. Aber als in diesem Augenblick der scheidende Peter, der mit dem Kapitän auf einem Nachen zum Schiff hinausfuhr, den am Ufer stehenden Lieben die letzten Grüße zuwinkte, da konnte auch Christiane nicht länger ihre Tränen zurückhalten, während Nathan Kelly seine Mütze hoch in die Luft schwang und den Scheidenden seine Segenswünsche nachsandte. Noch einmal aber setzte Peter die zur Trompete geformte Hand an den Mund, und mit jener lauten, schrillen Stimme, mit der er schon längst gelernt hatte, die brausende See zu übertönen, rief er: „Lebt wohl! Lebt alle wohl!“

Die am Ufer Harrenden aber sahen zugleich, wie der Kapitän sein Haupt entblößte, und ob sie auch seine Stimme nicht vernahmen, so wussten sie doch, dass er betete und den Segen Gottes für die Zurückbleibenden und für die Scheidenden erflehte. Auch Nathan zog seine Mütze, neigte sich und sprach leise „Amen.“