Kapitel 11

Am folgenden Morgen eilte Peter früh an seine Arbeit auf das nahegelegene Bauerngut, wo er den ganzen Tag über beschäftigt war. Doch als Kittig einen kleinen Ausgang nach Langnas machte, wagte es Brigitta, sich nach dem Knaben umzusehen, musste aber zurückkehren, da Peter kaum ihre Fragen beantwortete. Ein kurzes Mittagschläfchen ließ unsern Freund seinen Kummer auf wenige Augenblicke vergessen. Doch kaum erwachte er, so war auch sein Trübsinn wieder da. Traurig schlich er an das Hoftor und schaute in das Dorf hinaus. Die Straße entlang schritten mehrere Leute, die der Kapitän heute am Strand um sich versammelt hatte und die jetzt alle wieder nach Hause zurückkehrten. Man denke sich aber die Überraschung des Knaben, als er unter der Menge auch seinen alten Freund Philipp Bolten erkannte, der sich mit dem Kapitän aufs eifrigste unterhielt. Es war dem armen Knaben nun ja gewiss, dass dieser heuchlerische Mensch dem Kapitän den Vorgang am vorigen Sonntag in der übertriebensten und entstelltesten Art mitgeteilt habe. Konnte denn das zum Überlaufen volle Maß des Unglücks bei dem Knaben noch voller werden? Sicher nicht.

Was kümmerte es ihn, ob der Kapitän eine gute Meinung über ihn habe? Und warum sollte er sein Auge noch länger auf Philipp Bolten richten? Verdrießlich verließ er das Tor, als er die Stimme seiner Mutter vernahm. „Ich habe“, sagte sie, „soeben mit Herr Trappert gesprochen. Da er viel Arbeit hat, will er dich ganz in seinen Dienst nehmen und darüber selbst mit Kittig sprechen. Er sagte, kein anderer Junge sei so gut zu gebrauchen wie du“.

Da ging ein Freudenstrahl über das finstere Gesicht des armen Knaben. Er wusste, dass Herr Trappert mit Kittig umzugehen vermochte. Er fasste jetzt von neuem Mut und ging mit der Mutter in die elterliche Hütte, wo er von der kleinen Agnes mit heiterem Lächeln empfangen wurde. Herr Trappert war mit Kittig bereits zusammengetroffen und hatte mit ihm über die Sache gesprochen. Als Kittig ins Zimmer trat, sagte er in mürrischem Ton, dass Peter fortan zu Hause bleiben möchte, um auf dem Bauernhof zu arbeiten. Niemand wagte, ein Wort darauf zu erwidern, obwohl allen das Herz vor Freude pochte. Nur Agnes drückte ihrem Freund leise die Hand. Doch als Kittig kurz darauf wieder zur See und Brigitta an ihre Hausarbeit ging, als die kleine Blinde, ein Liedchen vor sich hinsummend, sich vor die Tür setzte, wo der frische Wind mit ihren Locken spielte und ihre blassen Wangen rötete, da kehrte auch der alte Trübsinn mit aller Macht in das Herz des unglücklichen Knaben zurück.

Auch in den folgenden Tagen zeigte sich bei ihm derselbe Gemütszustand. Freilich, wenn das Tagwerk vollbracht war, so konnte er in das Haus seiner Pflegeeltern zurückkehren, wo ihm von Brigitta und der Kleinen stets ein freundlicher Empfang bereitet wurde. Oft, wenn das Wetter angenehm war, bat ihn die kleine Blinde, sie bis zu den Felsen in der Nähe der Halbinsel Langnas zu führen. Dort donnerten während der Flutzeit die Wogen schäumend gegen die Klippen und hatten selbst wenn sie zur Zeit der Ebbe leise rauschten einen so feierlichen Ton, dass die beiden Kinder, sooft sie ihn hörten, stets ernst gestimmt wurden. Am Ufer standen die Seeraben und senkten ihre Schnäbel zur Erde, während in der Ferne die Seemöwen in raschem Flug über die Meeresfläche dahinschossen. Etwas weiter tauchte ein großer Felsen, die Ziegenklippe genannt, steil und schwarz aus den Fluten empor. Doch hierher wagte sich selten der Blick unsres kleinen Freundes.

Ach, eine traurige Geschichte knüpfte sich an diesen Felsen. Dort am Fuß der Klippe war ja das Schiff gescheitert, darauf sich seine beiden Eltern befanden. Und als das Wrack zu Grunde gegangen war, da hatten auch Vater und Mutter in den Wellen ihr Grab gefunden. Noch lebte eine kleine Erinnerung an jene Schreckensnacht in seinem Herzen, noch vermochte er sich die Angst ins Gedächtnis zurückzurufen, als er von den Armen eines Matrosen erfasst, in das kalte Meer hinabsank. Noch erinnerte er sich des schmerzlichen Gestöhns seines Retters, der sich an den Klippen schwer verletzt hatte, ihn dann schwimmend ans Land brachte und dort mit großer Mühe bis zur nächsten Hütte schleppte. Hier in der Wohnung Kittigs starb der edelmütige Retter und ließ das verwaiste, hilflose Kind dem harten, gefühllosen Kittig zurück. Wohl nahm Brigitta, die selbst kinderlos war, sich der armen Waise mit mütterlicher Zärtlichkeit an, doch wir wissen bereits, wie wenig Einfluss sie auf ihren Mann auszuüben imstande war.

Seitdem hatte der arme Peter fast nie seinen Blick auf die Ziegenklippe zu richten vermocht. Jedoch in seiner jetzigen Gemütsstimmung führte er die kleine Agnes gerade hierher. Und während ihr Ohr auf das Brausen der Brandung lauschte, ruhte sein Auge träumerisch auf dem Felsen, wo seine armen Eltern ihr Grab gefunden hatten. Je länger er hinschaute, desto mehr wühlte der Kummer in seinem Herzen, den kein Mensch stillen konnte. Ach, wie unglücklich machte ihn sein strafendes Gewissen! Vielleicht hätte Kapitän Seefort ihn trösten können. Doch jedesmal, wenn Peter ihn von ferne sah, verbarg er sich eiligst hinter den Klippen am Strand, so dass der dicht vorüberschreitende Seemann den armen Knaben nicht sah. Hätte dieser auch den Blicken eines Mannes, den er so hoch verehrte, begegnen können, nachdem er sich so feigherzig von Gott losgesagt hatte? So verging wieder eine Woche. Der Sonntag kam und am Nachmittag machten Brigitta und Agnes sich bereit, um in die Versammlung des Kapitäns zu gehen, wobei sie hofften, dass Peter sie begleiten würde. Aber als die Zeit kam, war der Knabe nirgends zu finden. Man wartete und wartete, doch Peter kehrte nicht zurück. Jetzt gingen die beiden in der Meinung, dass er bereits vorausgegangen sein mochte. Allein auch darin irrten sie sich. Nach Ende der Versammlung kehrten sie schnell ins Haus zurück und fanden zu ihrer Freude, dass Peter anwesend war und bereits alles zum Abendbrot vorbereitet hatte. In der Miene der Alten zeigte sich ein heiterer, glücklicher Ausdruck, wie man ihn bei ihr sonst nie wahrgenommen hatte. In stiller Freude verrichtete sie schweigend ihre Arbeiten und überließ die beiden Kinder ihren Plaudereien, bis die Mahlzeit beendet war. Dann legte sie mit glücklichem Lächeln die große, vom Kapitän geschenkte Bibel auf den Tisch.

„Peter“, begann sie in feierlichem Ton, „heute hat der Herr Kapitän über den Felsengrund gesprochen, auf den wir unser Haus bauen sollen. Er sagte, Jesus sei dieses Fundament, das fester sei als die Felsen von Langnas, von denen wir doch sicher nicht fürchten, dass sie einmal vom Wind oder Meer hinweggerissen würden. „Seht!“, sagte er, „ Sie sind noch genau so groß, wie ihr sie als kleine Kinder gesehen habt. So ist auch der Herr Jesus ein unerschütterlicher Felsen. Wer an ihn glaubt, der ist für immer in Sicherheit. Seine Liebe ist unveränderlich, und wenn unsere Sünden so mächtig sind wie die Meereswellen, so ist seine Gnade doch ungleich größer“. So sprach der Kapitän. Ich kann es nur nicht so gut nacherzählen. Aber weißt du, Peter, jetzt habe ich Mut bekommen, dem Herrn alle meine Sünden bekannt, und wahrlich, durch seine Gnade will ich mich nicht mehr hindern lassen, mein Haus auf diesen Felsen zu bauen. „Ja, wahrlich“, fügte sie, indem sie ihre breite, schwielige Hand auf die Bibel legte, mit freudigem Ton hinzu, „Gott ist stärker als Kittig. Nun bin ich freilich nicht sehr geschickt im Lesen, Peter, aber du kannst vorlesen, wenn wir allein sind. Der Kapitän hat mir gesagt, ich möchte heute Abend Lk. 12:4-10 lesen. Nicht wahr, Agnes?“ „Ja“, bestätigte die kleine Blinde. „Er hat uns die Stellen schon selber vorgelesen. Es steht darin, dass man sich nicht fürchten soll vor denen, die den Leib töten“.

Einen Augenblick zögerte Peter, denn er gedachte seines gottlosen Schwures. Doch als er die neue, schöne Bibel vor sich liegen sah, konnte er unmöglich das Verlangen der guten Alten zurückweisen. Er schlug das Kapitel auf und las die folgenden sechs bezeichneten Verse:

„Ich sage euch aber, meinen Freunden: Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und danach nichts mehr tun können. Ich will euch aber zeigen, vor welchem ihr euch fürchten sollt: Fürchtet euch vor dem, der, nachdem er getötet hat, auch Macht hat, in die Hölle zu werfen. Ja, ich sage euch, vor dem fürchtet euch. Verkauft man nicht fünf Sperlinge für zwei Pfennige? Dennoch ist vor Gott nicht einer von ihnen vergessen. Aber auch die Haare auf eurem Haupt sind alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid mehr wert, als viele Sperlinge. Ich sage euch aber: Wer mich bekennt vor den Menschen, den wird auch der Sohn des Menschen bekennen vor den Engeln Gottes. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, der wird verleugnet werden vor den Engeln Gottes.“

Bei den letzten Worten veränderten sich plötzlich die Gesichtszüge des Knaben, seine Stimme zitterte. Er las ja sein eigenes Urteil. Sicher hatte der Kapitän, durch Bolten über Peters Schwur unterrichtet, absichtlich diese Stelle bezeichnet und ihn als ein abschreckendes Beispiel hingestellt. Agnes kannte das Zittern der Stimme ihres Freundes und streichelte, als wollte sie seine Unruhe beschwichtigen, seine Wangen. Brigitta hingegen hatte keine Ahnung von dem, was im Innern ihres Pflegesohnes vorging. Der Inhalt des Gelesenen schien sie ganz zu fesseln; lange saß sie schweigend da und sann über die Worte nach, die sie soeben vernommen hatte. Nach einer Weile aber sagte sie: „Der Kapitän wird abreisen, vielleicht ist er jetzt schon fort, denn er wollte heute Abend noch mit dem Dampfschiff nach Liverpool. Ach, wie lange wird es jetzt wieder dauern, bevor er zurückkehrt!“

Also auch die beste Gelegenheit, ihn zu sehen, hatte der arme Peter versäumt. O wie gerne würde er jetzt alles aufgeboten haben, um den vortrefflichen Mann noch einmal sprechen, ihm bekennen zu können, wie feige, sündhaft und gottlos er gehandelt habe. Aber es war zu spät. Während der ganzen Woche hätte er den Kapitän täglich am Strande treffen oder in sein Haus gehen können, um Rat und Trost bei ihm zu suchen. Doch als ein elender Feigling hatte er sich stets versteckt und war ihm ausgewichen, sooft er ihn sah. Immer peinlicher brannte im Gewissen des unglücklichen Kindes der Vorwurf: Du bist ein feiger Verräter!