Kapitel 16

Die Tage waren merklich kürzer geworden, das Meer wogte wild und hoch im scharfen Herbstwind. Der Heringsfang war zu Ende, weshalb Peter schon mit Zittern daran dachte, dass Kittig jetzt wieder für immer zu Hause sein und den Frieden stören würde. Über die Lippen der alten Brigitta glitt mancher Stoßseufzer und die kleine Agnes, die bald wieder in ihre einsame Wohnung zurückkehren musste, summte traurig ihre Liedchen vor sich hin, wenn sie vor der Tür saß, um ihren Freund Peter zu erwarten. Dieser, der gelernt hatte, nicht sich selbst zu vertrauen, schaute aufwärts. Und wenn der Gedanke an die Härte seines Pflegevaters ihn übermannen wollte, rief er sich die Worte ins Gedächtnis zurück: „Warum seid ihr so furchtsam? O ihr Kleingläubigen!“

Und wirklich, früher als man erwartet hatte, trat Kittig ins Haus und mit ihm sein rohes, hartes Benehmen. Alle seine an Peter gerichteten Worte waren mit Flüchen und Verwünschungen begleitet, ja auch Brigitta und die kleine Blinde erfuhren nichts als abstoßende Härte.

Am Nachmittag des folgenden Tages wurde Peter von dem Besitzer des nahen Landgutes nach St. Michael geschickt, um ein mit den übrigen Schafen hinausgelaufenes Lamm zurückzuholen. Der Weg führte über einen Damm, der so hoch war, dass man selbst bei hoher Flut zur der Insel, auf der die Kapelle stand, hingelangen konnte. Die Schafherde weidete hin und her zerstreut neben den Trümmern der Kapelle. Da die Tür des großen Turmes offen stand, trat Peter ohne Weiteres hinein, um zwischen dem halbverfallenen Gemäuer das Lamm zu suchen. Wie öde und verwildert sah es hier aus! Die Blätter der vereinzelten Gebüsche waren schon von der Herbstluft gelblich gefärbt. Eine Galerie umgab ringsum diesen inneren Hof in ziemlicher Höhe, und Peter stieg die steinerne Treppe hinauf, um von dort aus einen Blick auf die See werfen zu können.

Der arme Junge fühlte sich heute sehr niedergedrückt. Während des ganzen Morgens hatte Kittig die fürchterlichsten Drohungen gegen ihn ausgestoßen, so dass der arme Peter kaum den Peitschenhieben und Fußtritten hatte ausweichen können. Ach, wie schwer war es ihm, in einer solchen Lage länger auszuharren. Träumerisch schweifte sein Blick über das Meer hinaus. Dann aber neigte sich sein Haupt bis auf das kalte Gestein und ein brünstiges Flehen um Kraft und Mut stieg aus seinem Herzen zum Thron der Gnade empor.

Als er sich erhob, war das Vertrauen zurückgekehrt und auch sein Trübsinn verflogen. Eben wollte er die bemoosten steinernen Stufen wieder hinabsteigen, als er unten in dem Turmgewölbe menschliche Laute zu vernehmen glaubte. Peter horchte, der Pulsschlag seines Herzens drohte zu stocken, denn unwillkürlich erinnerte er sich der haarsträubenden Räuber- und Gespenstergeschichten, die ihm die alte Brigitta in seiner frühesten Kindheit erzählt hatte. Geräuschlos trat er an den Rand der Galerie an einen Pfeiler, von wo aus er ungesehen in den inneren Raum hinunterschauen konnte. Unten lag ein großer Schutthaufen. Zwischen ihm und der Mauer, im dunkelsten Winkel und fast gänzlich von niederhängenden Schlinggewächsen und Sträuchern überdeckt, standen flüsternd unsere beiden Bekannten Philipp Bolten und Kittig. Ängstlich und mit zurückgehaltenem Atem schmiegte sich Peter hinter den Pfeiler und hörte deutlich aus Boltens Munde die Worte:

„Es ist sicher keine Gefahr dabei. Bis dahin wird es ganz dunkel sein. Oder fürchtest du dich vor ihm?“

„Ich hasse ihn“, brummte Kittig. „Seine Frömmelei ist allein Schuld, dass viele alte Bekannten mir den Rücken wenden. Und hat er uns beim Fischfang nicht alles Glück hinweggeschnappt?“

„Allerdings“, flüsterte der andere. „Aber jetzt ist das Glück auf unserer Seite. Heute Abend bringt er all sein Geld heim. Er ist ohne Begleitung und du weißt, die alte Landstraße wird um diese Zeit von niemandem passiert. Kein Verdacht wird auf uns fallen. Wir fahren zum Fischen aus, legen, wenn es dunkel geworden, den Kahn beim Wasserfall an und laufen über die Felder der Landstraße zu.“

„Aber er wird uns erkennen“, wandte Kittig ein.

„Ei, es ist dann doch ganz finster“, erwiderte Bolten. „Aber was schadet‘s auch, wenn er mich erkennt? Wir gehen ja oft zusammen zur Versammlung bei dem Kapitän. Ich knüpfe ein Gespräch mit ihm an, während du dich im Verborgenen hältst und ihn dann plötzlich von hinten überfällst. Ich stelle mich, als wollte ich auf dich losgehen, versetze ihm aber unbemerkt einen Faustschlag, dass er betäubt zu Boden stürzt. Und wenn’s nötig sein sollte, Kittig“, seine Stimme senkte sich bis zu einem Geflüster herab, „nun, du wirst mich verstehen, das Meer ist nahe genug, und die Toten erzählen nichts weiter.“

„Nein, nein“, rief Kittig, sich abwendend, „keinen Mord! Lieber will ich von der ganzen Sache nichts wissen.“

„Nun, dann wollen wir ihm nur einen Hieb versetzen, dass er betäubt wird“, lenkte jener wieder ein. „Es wird die Mühe lohnen, denn du weißt, wie ihm das Glück günstig gewesen ist. Nun, schlag ein, alter Junge! Heut oder nie!“

Kittig gab endlich seine Zustimmung und beide traten jetzt aus dem Winkel, während Peter sich hinter dem Gebäude niederduckte. Ihm war es nur zu klar, dass im Falle einer Entdeckung sein Leben auf dem Spiel stand. Er sah, wie die beiden Bösewichte nach Derby-Hafen zurückkehrten, um von da aus mit dem Boot auszufahren, da der Tag sich bereits zu neigen begann. Lange schaute der Knabe ihnen nach, dann aber erhob er sich.

Er erkannte, wie nötig es sei, seinen Freund Nathan so bald als möglich zu warnen.

In der ersten Aufregung zitterten alle seine Nerven vor Freude. Als aber sein Auge noch einmal nach den beiden Männern sich hinlenkte und gewahrte, wie sie in ihr Boot stiegen, da schwand die Freude und tiefes Mitleid ergriff ihn. Ach, welch einem Ende gingen diese Unglücklichen entgegen! Waren sie doch auf dem Weg, ihren vielen Sünden noch eine Mordtat beizufügen. Er erkannte die Hand der Vorsehung, die ihn gerade in dem Augenblick hierher geführt hatte, als der böse Anschlag beraten wurde. Er sah deutlich, wie Gott es war, der über das Leben seines Freundes Nathan wachte. Die Verbrecher ahnten es nicht, dass Gott seinen Boten auszusenden beabsichtigte, um den Mann zu warnen, dessen Leben bedroht war. Wie wunderbar!

Als Peter bemerkte, dass das Boot bereits das offene Meer erreicht hatte, eilte er die Treppe hinunter. In dem kleinen abgeschlossenen Hofraum war es bereits dunkel geworden. Doch ohne Schwierigkeit fand er den Torweg und nicht lange, so stand er an der mit Eisen beschlagenen Tür. Man denke sich jedoch seine Überraschung, als er sie verschlossen fand. Vergeblich drückte er die Klinke, vergeblich rüttelte er am Schloss – die Tür war und blieb verschlossen.

Was nun anfangen? Einen Augenblick setzte er sich neben den Torweg und sann nach. Ungeduldig erhob er sich wieder, tappte umher nach einem Stein, mit dem er das Schloss zu öffnen versuchte. Die Funken sprühten unter der Wucht seiner Schläge, jedoch erkannte er, dass er nur nutzlos die Zeit vergeudete. Wieder stieg er hinauf zur Galerie, denn es war noch hell genug, um die Häuser in Derby-Hafen unterscheiden zu können. Um die Aufmerksamkeit irgend einer Person im Dorf auf sich zu lenken, stieg er auf die Brüstung der Galerie und stieß einen schrillen, langtönenden Schrei aus. Aber niemand hörte ihn. Selbst die kleine Agnes, die er noch kaum am Strand, wo sie auf das Rauschen der Wellen zu lauschen schien, zu unterscheiden vermochte, hörte seinen Ruf nicht. Die Schafe sammelten sich, als es dunkeln wurde, dichter um das Gebäude und etliche schauten blökend zu ihm hinauf, während eine Krähe aus dem Mauerwerk aufflog und krächzend umherflatterte. Bald war von Derby-Hafen nichts mehr zu erkennen. Der Nebel verdichtete sich immer mehr, die Dunkelheit nahm mit jedem Augenblick zu und bald war für heute alle Hoffnung auf Befreiung verschwunden.