Kapitel 9

Im Verlauf des Tages hatte sich von Norden her der Himmel immer mehr verfinstert. Und als jetzt die Sonne sank, breiteten sich schwarze Wolken über das ganze Firmament aus, während ein heulender Sturmwind durch die Wälder am Ufer brauste. Große Scharen von Seemöwen und Falken suchten ihre Zufluchtsstätte zwischen den Klippen auf. Währenddessen rollten die wildschäumenden Wellen übereinander und spritzten ihren weißen Gischt weithin zum Felsenufer hinauf, so dass es schien, als flatterten tausende von weißen Schmetterlingen aus dem Meer empor.

Kittig und Peter vermochten nur mit großer Mühe ihren kleinen Nachen wieder bis ans Boot hinaus zu bringen, wo Bolten und seine Gefährten bereits im tiefsten Schlaf lagen und nichts von dem herangezogenen Unwetter bemerkt hatten. Doch gerade als der Nachen das Boot erreichte, geschah ein furchtbarer Donnerschlag. Da sprangen die Schläfer erschreckt in die Höhe und starrten um sich. Der Himmel über ihnen war tiefschwarz, nur im Westen gewahrte man noch einen grellen Lichtstreif. Das hierdurch bewirkte Halbdunkel erhöhte den Schrecken, denn ein jeder konnte den ängstlich erregten Gesichtsausdruck seines Gefährten sehen, während eine völlig finstere Nacht dies alles verborgen hätte.

Die dicke, schwüle und schwere Gewitterluft schien sie von allen Seiten einzuhüllen und jede Hilfe auszuschließen. Kaum hatten Kittig und Peter das Boot wieder bestiegen, so war es, als ob die schwarze Wolke über ihnen mit einem Mal entzwei gerissen worden wäre und ein greller Blitzstrahl, von einem krachenden Donnerschlag begleitet, fuhr durch die Luft. Alle standen da, geblendet und betäubt. Der helle Schein zeigte ihnen mit schrecklicher Klarheit die weite, wilde See ringsum und gegenüber die steile Landzunge, die sie vom sichern Hafen trennte. Anfangs versuchten die Fischer über das Wetter zu scherzen und zu lachen, aber als das Licht wieder verschwand und die Finsternis tiefer wurde, verstummten sie. Peter klammerte sich an den Arm seines Pflegevaters, wurde aber von diesem, wie es sonst seine Gewohnheit war, diesmal nicht von sich gestoßen.

Kittig stand unbeweglich an den Mast gelehnt und sah sich in der schwarzen Nacht nach irgend einem Lichtschimmer um. Da, nach minutenlangem Warten fuhr ein neuer blendender Blitzstrahl aus den Wolken und schien im Zickzack rings um das Boot zu flattern. Dabei rollte der Donner mit furchtbarer Gewalt und das Echo hallte von den Felsen hundertfach zurück. Und wieder ein Blitz und wieder ein noch stärkerer Donnerschlag! Da rührten sich die vor Schreck erstarrten Zungen. Kittig und Bolten schrien noch lauter als ihre Gefährten zu Gott und flehten um seine Barmherzigkeit, indem sie gelobten ihr Leben zu bessern. Wie zu einem Lamm umgewandelt, hielt der gottlose Stiefvater die Hand seines zitternden Sohnes fest und betete zu Gott, er möge doch um dieses Kindes willen, das noch nicht so viel wie er gesündigt habe, das Leben der ganzen Mannschaft schonen.

Kein Wort kam über die Lippen des unglücklichen Knaben. In dem Brüllen des Sturmes meinte er immerfort seinen gottlosen Schwur zu vernehmen, durch den er sich von Gott losgesagt hatte. Vor etlichen Stunden hatte er sich aus Furcht vor den Menschen bewegen lassen, den Schwur abzulegen, dass er nicht mehr beten wolle zu dem großen und schrecklichen Gott, der nun, um sie alle zu verderben, diesen Sturm sandte. Wieviel größer war seine Macht als die Macht Kittigs, der sich jetzt wie ein Wurm krümmte! Und nun war es dem armen Knaben für immer versagt, auch nur ein einziges Wort an den zu richten, der allein fähig war, dem Wind und den Wellen zu gebieten. O wie unglücklich fühlte er sich! In dem Licht der Blitze sah er deutlich seine Gefährten. Bei dem Anblick ihrer entstellten, verstörten Gesichter musste er an jenen schrecklichen Tag denken, wo viele Tausende das Urteil ihrer ewigen Verdammnis aus dem Mund des höchsten Richters hören werden.

Um das Maß ihres Elends vollendet zu sehen, bemerkten die Fischer zu ihrem nicht geringem Schrecken, dass sich der Anker ihres Bootes losgerissen hatte und dass sie rettungslos durch den Wind von der Küste hinweg in das offene Meer hinausgetrieben wurden. Jetzt gaben sie sich verloren und noch heftiger wie vorher riefen sie die Barmherzigkeit Gottes an. Nur Peter gab keinen Laut von sich und rührte sich nicht. Sein totenbleiches Antlitz senkte sich immer tiefer auf seine Brust herab. Er wagte es nicht, den Blick zum Himmel zu erheben, der nach seiner Meinung auf ewig für ihn verschlossen war. Wie ein Verzweifelter, für den jede Rettung abgeschnitten ist, sah er starr und stumm die Blitze zucken und das undurchdringliche Dunkel wiederkehren.

Doch allmählich schien die Kraft des Unwetters sich zu brechen, die Wolken zerteilten sich, die Finsternis wich, so dass man das Licht des Leuchtturms im Hafen unterscheiden konnte. Dort in der Nähe des Turmes hatte Nathan Kelly sein Boot sicher geborgen, während Kittigs Fahrzeug von den Wellen hin und her geschleudert wurde. Unterdes war der Mut bei den Fischern wieder zurückgekehrt und sie strengten alle ihre Kräfte an, um ihr gebrechliches Schiff glücklich durch die ungestümen Wogen zu steuern. Nichtsdestoweniger hatte die ausgestandene Angst sie so sehr ergriffen, dass sie während der ganzen Nacht ernst und schweigsam blieben. Man hörte bis zum Morgen hin weder Flüche noch Schwüre.

Mit dem Anbruch des Tages aber schwand jede Spur von Furcht. Kittig ließ wieder die fürchterlichsten Flüche hören als er sah, wie schwer sein Boot beschädigt war, und Bolten schien sich an den gottlosen Ausdrücken seines Schwagers nicht wenig zu ergötzen. Auch die übrigen Gefährten versuchten jede Erinnerung an ihre feigherzigen Gebete auslöschen zu wollen. Weil sie sich jetzt ihrer Furcht schämten, sprachen sie fleißiger denn je der Flasche zu und wetteiferten untereinander, durch gottloses Geschwätz ihren Mut an den Tag zu legen. Sie steuerten das Fahrzeug in die kleine Bucht zurück, um von dort aus mit der ganzen Flotte wieder in See zu stechen. Peter musste wachen, während die Männer ihren Rausch ausschliefen.

Während der ganzen folgenden Woche kam kein Trost, kein Hoffnungsstrahl in das Herz des unglücklichen Knaben. Starre Verzweiflung hatte ihn erfasst und sein Gewissen warf ihm vor, dass selbst der schreckliche Sturm nicht vermochte, ihn zum Beten zu bewegen, während doch selbst die harten Gemüter der Fischer erschüttert worden seien. Das war ihm jedenfalls das sicherste Zeichen, dass Gott ihn gänzlich preisgab, nachdem er sich von ihm losgesagt hatte. Mit niedergeschlagenem Herzen verrichtete er seine Arbeit, sein Blick war düster und trübe. Sowohl die Peitsche seines Stiefvaters als auch die Spöttereien Boltens waren höchst gleichgültige Dinge für ihn. Er ertrug alles mit ununterbrochenem Schweigen. Selbst der Gedanke, dass er, gleich diesen seinen Peinigern demselben traurigen Ende entgegengehe, war ihm nicht mehr schrecklich. Mit einem Wort, er schien für alles tot zu sein, nichts konnte ihn mehr berühren oder betrüben. Sein Herz blieb in allen Vorkommnissen kalt und steinhart. So arbeitete er die ganze Woche hindurch unter den Misshandlungen seines unmenschlichen Stiefvaters, ohne dass ein Lichtstrahl von oben in seine arme, umnachtete Seele gefallen wäre.