Kapitel 13

Peter, der sofort seine Besinnung verlor, wusste nichts von dem, was um ihn vorging. Nach längerer Bewusstlosigkeit erwachte er allmählich mit einem wohltuenden Gefühl von Ruhe und Behaglichkeit. Er hörte ein leises Geräusch wie das Summen der Bienen im blühenden Ginster. Doch als er langsam die Augen öffnete, erblickte er über sich keinen klaren Sommerhimmel, sondern sah sich in einem weichen Bett, dessen blau und weiß gemusterte Vorhänge dicht zugezogen waren. Lange dauerte es, bis er seine Gedanken zu sammeln vermochte. Als aber seine Erinnerung endlich einigermaßen zurückgekehrt war, schob er mit schwacher Hand den Vorhang ein wenig zur Seite und blickte sich dann neugierig nach allen Richtungen um. Alles, was er hier sah, war ihm fremd. Das Zimmer, worin er sich befand, war sehr geräumig. Außer dem einen Bett, darin er lag, standen auf der andern Seite noch zwei andere, von denen das eine sich in einem durch eine Holzwand abgeteilten Raum befand. Decke und Wände waren schneeweiß und der mit einer Glastür versehene Küchenschrank war mit blankgescheuertem Messinggeschirr und bunten irdenen Tellern reich besetzt. Am Fenster hing ein gefülltes Bücherbrett und auf den Fensterbänken standen Blumenstöcke in voller Blüte.

Am längsten jedoch ruhten die Augen des Knaben auf einem Winkel zwischen dem Kamin und dem Fenster, denn von dorther vernahm man das trauliche Schnurren eines Spinnrades. Das Mädchen, deren Fuß das Rädchen in Bewegung setzte und deren gewandte Finger den dünnen Faden zogen, mochte mit ihm im etwa gleichen Alter stehen. Ihr Gesicht hatte einen so sanften und freundlichen Ausdruck, dass er sich ganz davon angezogen fühlte. Neben ihr auf dem Tisch lag ein offenes Buch, in das sie von Zeit zu Zeit einen Blick warf. Endlich fing sie sogar an, ein Lied vor sich hin zu summen, bis sie mit plötzlichem Schrecken innehielt und sich zu erinnern schien, dass jemand im Zimmer sei, welcher der Ruhe bedürfe. Kaum aber fiel ihr Blick auf das blasse Gesicht des Knaben, der sie mit großen Augen anstarrte, erhob sie sich hastig und näherte sich dem Kranken mit einem Glas Wasser.

„Wie heißt du?“, fragte Peter, nachdem er einen Schluck Wasser genommen hatte. Und als fürchte er, sie möchte ihm wieder entwischen, fasste er sie bei der Hand.

„Ich heiße Christiane Sander“, erwiderte mit freundlichem Lächeln die Kleine. „Unser Dorf heißt Kliffstrand. Ach, wie werden sich Nathan und Elisabeth freuen, wenn sie dich wieder ordentlich sprechen hören!“

„Aber wie bin ich denn hierhergekommen?“, fragte Peter mit schwacher Stimme.

„Wenn du dich stille verhalten willst, so sollst du es erfahren“, sagte das Mädchen. „Du musst vor allen Dingen wissen, dass mein Vater Kapitän auf dem Schiff ist, auf dem Nathan Kelly gewöhnlich fährt, der bald meine Schwester Elisabeth heiraten wird. Du kennst doch Nathan Kelly?“

„Ei freilich!“, rief Peter. „Aber wie bin ich denn eigentlich hierhergekommen?“

„Still! Du darfst dich nicht beunruhigen“, beschwichtigte ihn Christiane mit ernster Miene einer erfahrenen Pflegerin. „Ich will dir‘s schon sagen. Am vorigen Montag war der Vater krank und darum fuhr unser Boot nicht zum Heringsfang aus. Da Vater der beste Fischer auf der ganzen Insel ist, wollte man ohne ihn nicht in See stechen. Aus diesem Grund blieb auch Nathan die Nacht über hier und ging spät abends noch an die Klippen, um Netze zu legen. Da erblickte er plötzlich einen Nachen, von dem er anfangs glaubte, dass er leer sei. Doch als die Wellen das kleine Fahrzeug näher brachten, hörte er plötzlich darin das Bellen eines Hundes. Nun warf sich auch Nathan schnell in ein Boot. Er glaubte menschliche Stimmen zu hören und gewahrte dann in der Dunkelheit, in welcher Gefahr sich das Boot befand. Alle Kräfte aufbietend, erreichte er es endlich. Aber in demselben Augenblick hörte er den Notschrei: „Herr Jesus, erbarme dich meiner!“ und das Boot schlug mit seinen unglücklichen Insassen plötzlich um. Doch Gott hat über dich gewacht. Nathan war frühe genug gekommen, um dich zu retten.“

Die freudestrahlenden Augen der Kleinen ruhten auf den blassen Zügen des Knaben. Dieser lag eine Weile ganz still und schien bemüht zu sein, sich die Vorgänge jenes schrecklichen Abends ins Gedächtnis zurückzurufen. Plötzlich aber, wie von einem Schrecken ergriffen, fuhr er auf.

„Agnes!“, schrie er ängstlich. „Ach, wo ist die kleine Agnes?“

„Bleib ganz ruhig!“, erwiderte Christiane. „Auch Agnes ist hier, es fehlt ihr an nichts. Nathan hat euch beide gerettet, du hieltest sie ja ganz fest im Arm. Jetzt schläft sie dort in der Kammer. Sie wollte durchaus in deiner Nähe bleiben. Darum haben wir Kittig und Brigitta gebeten, sie uns hier zu lassen. Horch! Da erwacht sie und ruft meinen Namen. Sei still, Agnes, und schlafe nur wieder ein.“

„Ich will bei Peter sein“, rief die kleine Blinde. „O bitte, Christiane, führe mich doch zu ihm.“

„Nun gut“, sagte Christiane lächelnd, aber zugleich bedenklich den Kopf schüttelnd. „Ich sehe schon, ich muss das Kind zu dir bringen, aber Elisabeth wird mich deswegen schelten. Und auch euer Hündchen will dir einen Besuch machen, horch wie es winselt!“

Christiane verschwand für einen Augenblick hinter der hölzernen Zwischenwand. Bald erschien sie wieder und trug die in einen reinen Mantel gehüllte kleine Blinde auf ihrem Arm und setzte sich, fortwährend zur Ruhe mahnend, aufs Bett. Es war rührend zu sehen, wie die beiden dem Tode entronnenen Kinder schweigend ihre Hände ineinanderlegten, während der Hund die fröhlichsten Sprünge machte.

„Welchen Tag haben wir heute?“, fragte der Knabe nach einer Weile.

„Freitag“, erwiderte Christiane. „Elisabeth ist im Nachbarhaus, wo die Leute zusammenkommen, um das Wort Gottes zu lesen. Sonst geschieht das stets hier in unsrem Haus, aber wegen deiner Krankheit ist man zum Nachbar gegangen. Ach, da kommt sie schon zurück.“

Die Tür wurde geöffnet und die mehrere Jahre ältere Schwester Christiane’s trat ins Zimmer. Der freundliche, sanfte Ausdruck in ihrem Gesicht gewann alsbald das Herz Peters. Sie hob die kleine Blinde vom Bett herunter, zog die Vorhänge wieder zu und riet dem Knaben, sich so lange ruhig zu verhalten, bis die Abendmahlzeit fertig sei. Erschöpft fiel er in einen Halbschlummer und merkte es kaum, dass jemand ihm seinen Kopf sanft aufrichtete und ihn mit einer kräftigen Suppe labte.

Erst am folgenden Morgen fühlte er sich wunderbar gestärkt. Man bot alles auf, ihn zu erheitern. Peter musste sich gestehen, dass er in seinem Leben nie so viel Liebe erfahren hatte. Nur zwei Dinge lagen ihm beständig schwer auf dem Herzen. Kittigs Boot war an den Klippen zertrümmert. Obwohl niemand in seiner Umgebung darüber sprach, so zitterte er doch jedesmal, wenn er an den Augenblick des Zusammentreffens mit Kittig dachte. Mehr aber noch als das drückte ihn der Kummer über seine Sünde zu Boden, besonders als er das Glück und die Freude der beiden gottesfürchtigen Schwestern sah. Sie hatten in Jesus ihren Heiland und Erlöser gefunden und liebten Gott als ihren Vater.

Des Abends saß Peter am Tisch im Armsessel des Hausherrn und dann sprach Elisabeth öfters mit ihm über die Liebe Jesu, der durch seinen Kreuzestod Heil und Rettung für den Sünder erwarb und jeden, der sich ihm im Glauben naht, aus Gnaden selig macht. Sie versicherte, dass niemand, sei er selbst so verhärtet und gottlos wie Kittig, abgewiesen würde, wenn er sich nur an die Liebe und das Erbarmen Jesu wende. Wie einfach und kindlich sprach sie über solche Dinge! Und wie leuchteten die Blicke des Knaben, als sie ihm erklärte, dass der Herr Jesus darum gestorben und auferstanden sei, damit auch dem größten Sünder die Tür des Himmels geöffnet werden könnte! Sie hatte durch Nathan vernommen, dass die Gnade schon seit längerer Zeit in dem Herzen Peters gewirkt habe. Ach, hätte sie nur die Kämpfe sehen können, die in der Seele des armen Knaben tobten! Oft brachte Christiane auch ihr Spinnrad vor die Tür, wenn Peter dort, in Kissen und Decken eingepackt, im Sonnenschein auf der Bank lag. Sie und Agnes sangen ihm dann manches schöne Lied vor und das klang dem armen Peter süßer als das Gezwitscher der Lerchen in der blauen Luft über ihm. Zudem kam Brigitta häufig herüber, um nach den Kindern zu sehen. Mit Freuden machte die gute Alte den Weg von zwei Stunden hin und zurück, aber aus Furcht vor ihrem Mann wagte sie es nie, über Nacht zu bleiben.

Auch Brigitta hatte den schmalen Weg, der zum Leben führt, betreten. Da ihre Erkenntnis sehr mangelhaft war, diente es ihr zum großen Segen, dass sie mit Elisabeth, die ihr mit kindlicher Frömmigkeit die besten Ratschläge gab, Umgang pflegen konnte. Jedesmal, wenn sie ihren Rückweg nach Derby-Hafen antreten wollte, stand sie noch eine Weile mit Elisabeth vor der Tür und fragte bald über das eine, bald über das andre. Es war rührend anzusehen, wie demütig Elisabeth ihr Unterweisungen gab, und wie demütig Brigitta diese Unterweisungen hinnahm. Wenn dann die Dämmerung sie überfiel und ihre angeborene Furcht vor Geisterspuck sich regte, gab ihr Elisabeth oft eine gute Strecke das Geleit über die Felder bis zur breiten Landstraße. Und wenn sich Peter darüber wunderte, dass sich die beiden Schwestern vor keiner Stunde der Nacht scheuten, dann sagten sie ihm, dass sie gelernt hätten, sich vor niemandem zu fürchten, weil sie sich stets unter dem Schutz Gottes befanden.

Endlich kam der Samstag, an dem nach vierzehntägiger Abwesenheit Nathan und der alte Jakob Sander vom Heringsfang zurückerwartet wurden. Die beiden Schwestern waren den ganzen Tag über sehr beschäftigt, um alles blank zu scheuern und das ganze Haus so sorgfältig zu reinigen, dass sich nirgends der geringste Flecken zeigte. Peter und Agnes saßen vor der Tür. Der Knabe freute sich der schönen, weiten Aussicht und bedauerte, dass die Augen des kleinen Mädchens dafür verschlossen waren. Seine Blicke richteten sich zuweilen auf einen bestimmten Punkt in der Landschaft, denn Christiane hatte ihm gesagt, dass Nathan dort zuerst sichtbar werden würde, wenn er einen Hügel umgehend, in den Fußpfad einbog. Da stieß er plötzlich einen Freudenschrei aus. Nathan war wirklich erschienen und Peter eilte so schnell, als es seine schwachen Kräfte erlaubten, dem Zurückkehrenden entgegen.