Kapitel 10

Sonntagnachmittag kehrte die kleine Flotte zurück zur Insel Man, wo dieses Mal an ihrem südlichen Teil gelandet wurde. Kittig, Bolten und Peter traten von hier aus alsbald ihren Heimweg an und erreichten ihr Dorf noch am selben Abend. Schon von weitem sah Peter die Halbinsel Langnas. Aber er beschleunigte seine Schritte nicht, sondern bewegte sich gesenkten Hauptes langsam und mechanisch weiter, während sein Herz immer stürmischer klopfte. Zum ersten Mal hörte er die süßen Lieder der Lerchen wieder, nachdem er solange nichts vernommen hatte als das Brausen des Meeres und den Schrei der Seemöwen. Aber das Herz wurde ihm davon nicht leichter.

Als unsre Reisenden das am Weg liegende Städtchen Castelton erreichten, kündigte gerade der Ausrufer die Rückkehr der Heringsschiffe sowie den Verkauf frischer Heringe an. Doch was kümmerte das den armen Jungen? Sein Gesicht blieb stets ernst und düster. Es war ihm, als ob jeder ihn ansehe und seinem Nachbar zuflüstere, dass er sich selbst den Weg zur Seligkeit versperrt habe. Endlich jedoch, als seine beiden Gefährten in eine Schenke traten, mochte er nicht länger warten, sondern kehrte allein nach Derby-Hafen zurück.

Etwa in der Mitte zwischen Castelton und Derby-Hafen liegt ein kleiner Hügel, worauf sich die Ruine eines alten viereckigen Turmes erhob, wo in früheren Tagen Verbrecher hingerichtet wurden. Peter war sonst immer in großer Hast vorbeigelaufen, wenn in der Dämmerung sein Weg hierher führte. Aber heute stieg er hinauf, setzte sich an die Ruine nieder und starrte von dort aus auf das Meer hinunter.

Der letzte, der hier hingerichtet wurde, war, wie die Leute sagten, ein Hochverräter gewesen. Peter kannte die Bedeutung dieses Wortes wohl und wusste, dass jemand, der treulos an seinem König handelt, dessen Vertrauen täuscht oder dessen Ehre mit Füßen tritt, mit diesem Namen bezeichnet wird. Ein solcher Mensch hatte, weil er dem König die Treue brach, seine Tat hier einst mit dem Leben gebüßt. Peter verlor sich bei diesen Gedanken in tiefes Nachsinnen. Ach, war nicht auch er ein Verräter? Hatte er nicht treulos gehandelt gegen den König? Furchtbar folterte ihn das Gewissen. Und es brannten sich wie Feuer die Worte in seine Seele ein, die er einmal in seinem Testament las:

„Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den werde ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.“ Sein Herz drohte zu zerspringen. Immer und immer wieder gellten ihm die Worte in den Ohren und er fühlte, wieviel er verloren hatte.

Endlich erhob er sich und schritt mit bleischweren Schritten den Hügel hinab. Die Hecken am Weg standen in voller Blüte und von Derby-Hafen her hörte man das Blöken der Schafe, die von der Weide heimkehrten. Das Dorf lag vor ihm und bei jedem Schritt fürchtete er, dem Herrn Seefort oder sonst jemand zu begegnen, der ihn anreden möchte. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt, seine Stirn und Wangen brannten fiebrig. Er hätte ja kein Wort sprechen können. Darum verließ er die Straße und verbarg sich in einem Kornfeld, bis völlige Finsternis eintrat. Ach wie langsam schlich die Zeit dahin! Endlich konnte er in das Dorf treten.

Im elterlichen Haus war bereits das Licht angezündet, denn Brigitta erwartete sicher heute ihre Leute zurück und stand deshalb harrend vor der Tür. Als nun Peter heranschlich, hörte man plötzlich das Bellen des kleinen Hundes, welcher der stete Begleiter der kleinen Agnes war. Jetzt erkannte die Mutter den zurückkehrenden Sohn, bewillkommnete ihn mit großer Freude und führte ihn ins Zimmer, wo die kleine Blinde seiner schon mit großer Sehnsucht harrte. Der herzliche Empfang schien den armen Knaben ein wenig zu beleben und die Freude des Wiedersehens lockte seit langer Zeit die ersten Tränen aus seinen Augen. Er grüßte seine kleine Freundin mit großer Herzlichkeit und diese stürzte ihm mit einem lauten Freudenschrei in die Arme.

Bald saß Peter an seinem gewohnten Platz am Kamin und die Kleine schmiegte sich an ihn, während die Mutter das Abendbrot bereitete und eine Menge Fragen an ihn richtete. Sie erkundigte sich, wie der Heringsfang ausgefallen sei, ob man gute Ausbeute gemacht und viel Geld dafür gelöst habe. Bei ihr selbst, sagte sie, sei es knapp hergegangen und etliche Frauen im Dorf würden während der Abwesenheit ihrer Männer sicher vor Hunger umgekommen sein, wenn nicht Frau Trappert, die Bäuerin, ihre milde Hand geöffnet hätte. Auch forschte die redselige Alte den wortkargen Peter aus, ob er an Bord viel Freude gehabt, und ob jetzt nicht alle Lust an der Bauernarbeit verschwunden sei. Lange hatte Peter sich bemüht, alle ihre Fragen zu beantworten. Bei der letzten Frage aber verhüllte er sein Gesicht mit beiden Händen und weinte bitterlich. Unmöglich konnte er länger seinen Jammer verbergen, der ihn seit acht Tagen fast erdrückt hatte.

„O, ich merkte schon, mein Junge“, rief die Alte in zärtlichem Ton, „dass man dich wieder misshandelte. Ja, der allmächtige Gott muss viele schreckliche Dinge sehen, die an Bord geschehen. Hat man dich wieder geschlagen, Peter? Komm doch, mein Junge, und sage mir alles“.

Die kleine Blinde schmiegte sich an ihren Freund und flüsterte ihm mit zitternder Stimme zu: „Sprich doch, Peter, was fehlt dir? Am Sonntag war ich im Haus des guten Kapitäns und hörte, wie er für alle betete, die sich auf dem Meer befanden. Auch habe ich mitgebetet und leise deinen Namen genannt, damit Gott wissen solle, dass ich vor allen an dich dachte. Nun, sprich doch, was ist geschehen?“

„O, Mutter!“, keuchte jetzt Peter schluchzend hervor. „Lass mich nicht mehr mitgehen. Ach, wenn ich doch vor dem letzten Sonntag ertrunken wäre! Jetzt betrete ich nie wieder ein Schiff, denn ich fürchte unterzugehen. Nie gehe ich wieder mit den beiden Männern auf den Heringsfang, nie, nie!“

„Was ist geschehen?“, fragte Brigitta mit wachsender Neugierde. „Ich kann es nicht sagen“, erwiderte er. „Nur das weiß ich, dass ich mich hätte totschlagen lassen sollen, denn dann würde mich der Herr Jesus wie den Stephanus zu sich in den Himmel aufgenommen haben. Aber ach! Es war mir damals so schrecklich, totgepeitscht zu werden. Dein Mann, der nichts von Gott wissen will, schwur, mich zu Tode prügeln zu wollen. Und er sah ganz danach aus“.

Die Alte wischte sich die immer wieder hervorquellenden Tränen mit ihrem Schurz aus den Augen und vermochte kein Wort des Trostes hervorzubringen. Auch Agnes senkte traurig ihr Köpfchen. Tiefe Stille, nur durch gegenseitiges Schluchzen unterbrochen, herrschte in dem kleinen Gemach. Peter berührte das ihm vorgesetzte Abendbrot nicht, sondern schlich, von seinem Trübsinn zu Boden gedrückt, auf sein Lager, auf dem er sich schlaflos hin und her wälzte, bis Kittig in höchst betrunkenem Zustand ins Zimmer taumelte. Der Knabe verhielt sich ganz ruhig, um nicht neue Szenen der Misshandlung hervorzurufen. Doch in seinem Innern flüsterte immer eine Stimme die Worte:

„Wer mich verleugnet vor den Menschen, den werde ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater“.