Kapitel 15

Noch vor Ablauf der Woche fühlte sich Peter stark genug, um nach Derby-Hafen zurückzukehren. Gern hätten die beiden Schwestern ihn noch länger da behalten, aber die alte Brigitta harrte ihm mit Ungeduld entgegen und auch Peter glaubte, dass es Zeit zur Rückkehr sei. Den Augenblick des Zusammentreffens mit seinem Pflegevater fürchtete er nun nicht mehr so sehr, weil er wusste, dass Gott mit ihm sein werde. So ging er mit Ruhe seinem Heimatsort entgegen. Besonders aber stärkten ihn die in seinem Testament gelesenen Worte: „Das ist Gnade, wenn jemand um des Gewissens willen vor Gott das Übel verträgt und das Unrecht leidet.“

Von Christiane begleitet, machten sich die beiden Kinder auf den Weg. Brigitta hatte versprochen, ihnen eine Strecke entgegenkommen zu wollen. Plaudernd schritten sie langsam ihrem Ziel zu und nicht selten nahm ihre Unterhaltung eine ernste Wendung.

„Sollte Petrus, nachdem er den Herrn verleugnet hatte, wohl je wieder ganz glücklich gewesen sein?“, fragte Peter.

„Vergessen konnte er es wohl nie“, erwiderte Christiane, „aber ich denke mir, er liebte den Herrn, sooft ihm seine Sünde einfiel, nachher um so mehr.“

„Ja, ich liebe jetzt den Herrn weit mehr als früher, seit ich weiß, dass er so gnädig ist“, sagte Peter. „Ach, vorher glaubte ich sehr stark zu sein, aber jetzt weiß ich, dass ich ohne den Herrn nichts tun kann. Er wird mir auch beistehen, wenn ich mit Kittig zusammentreffe.“

„Ich wollte, ich wäre dann bei euch“, sagte Christiane.

„Der Herr wird bei mir sein“, erwiderte Peter mutig.

Sie hatten eine kleine Anhöhe erreicht und ein weicher Rasen lud zum Ausruhen ein. Christiane saß ein Weilchen in tiefem Nachsinnen, plötzlich aber erhellte sich ihr Blick und in freudigem Ton rief sie: „Morgen werden die Heringsschiffe in Marienport ankommen und dann erfahre ich früher als du, ob Kittig ans Land gestiegen ist.“ Wieder setzten sie ihre Reise fort und erreichten bald die Stelle, wo Brigitta schon seit einer Stunde sie erwartete. Nach einer kurzen Begrüßung nahm hier Christiane Abschied, sah aber den Scheidenden noch lange nach, bis sie ihren Blicken entschwanden.

Der Abend dämmerte bereits, als Brigitta mit ihren Pflegekindern in Derby-Hafen eintraf. Es entging indes dem scharfen Blick des Knaben nicht, dass am Strand in der Nähe der Hütte Kittigs ein fremder Kahn befestigt lag. Sein hellgrüner Anstrich sowie die verzierten Ruderbänke und neue Ruder ließen es alsbald erkennen, dass Kittig für den Verlust seines alten, zerschellten Kahnes reichlich entschädigt war. Statt das Haus aufzuschließen, führte Brigitta den staunenden Knaben sofort zum Strand und rief in ihrer redseligen Weise:

„Der Kahn gehört Kittig. Nathan Kelly hat ein gut Stück Geld dazu gegeben, auch Herr Trappert und fast alle Nachbarn haben dazu beigesteuert. Kapitän Seefort aber gab den Rest, ließ den Kahn hübsch anstreichen und kaufte die Ruder. Er gehört Kittig solange dieser lebt. Nach seinem Tod aber bist du der Eigentümer, das alles hat der Kapitän festgestellt. Kittig hat jetzt durchaus kein Recht, dich zu schlagen. Und wenn er es dennoch tut, so wird ihn sicher bald die Strafe Gottes ereilen.“

Am folgenden Tag war in dem Hafenstädtchen Marienport, von dem Christiane sprach, ein großes Gewühl am Strand, wo soeben die Heringsflotte eingelaufen war. Nathan Kelly war nicht wenig erstaunt, hier auch die kleine Christiane Sander zu finden. Sie drängte sich durch die Schiffsmannschaft und schien jemand zu suchen. In diesem Augenblick stiegen Fischer aus einem elenden Boot, welches das letzte in der langen Reihe war, ans Land. Unter diesen befand sich ein Mann, dessen rohes, wüstes Wesen einen jeden zurückzustoßen schien. Nur Christiane drängte sich in seine Nähe. Es lag etwas in den unbefangenen und freundlichen Zügen des Kindes, dem der Roheste nicht widerstehen konnte. Und als sie ihm nun ein Kohlblatt mit frischen Erdbeeren vorhielt, zeigten seine Blicke das größte Erstaunen.

„Du irrst dich wohl, kleines Mädel“, sagte er, „ich kenne dich nicht. Aber die Erdbeeren wären mir freilich lieber als ein Schluck Rum, nachdem ich solange Seewasser geschmeckt habe. Für wen sind denn eigentlich diese Beeren bestimmt?“

„Sie sind für Euch bestimmt, Kittig“, sagte das Mädchen lächelnd. „Ihr habt mich gekannt, als ich noch ein ganz kleines Kind war und jetzt wollte ich auch um eine Gefälligkeit bitten, die Ihr mir mit leichter Mühe erweisen könnt.“

„Nun, so lass hören, was du willst“, sagte Kittig, dessen durstige Lippen nach der ihm vorgehaltenen Erfrischung lechzten.

„Aber ich sehe ja Tränen in deinen Augen. Warum das? Lass mich deine Wünsche hören, kleines Ding. Ich weiß zwar nicht, wo ich dich gesehen habe, aber wenn du nichts unbilliges verlangst, dann werde ich tun, was du wünschst.“

„Ich heiße Christiane Sander“, hob sie wieder an. „Erinnert Ihr euch nicht mehr der kleinen Christel? Früher fuhret Ihr und mein Vater in demselben Boot. Euer Junge, der Peter, ist eine Zeitlang bei uns gewesen. O, ich bitte euch, Kittig, seid nicht böse auf ihn wegen des Kahnes. Der Herr Seefort hat euch einen weit hübscheren gekauft. Aber schlagt doch den armen Peter nicht, tut mir’s zu Gefallen.“

Kittig gab nicht augenblicklich eine Antwort. Er betrachtete die Kleine und dann die hübschen Beeren.

„Du wirst doch schon von mir gehört haben“, brummte er.

„In der alten, guten Zeit trank sich dein Vater oft genug einen Rausch. Ja, ja, der alte Jakob Sander ist zum Kreuz gekrochen. Stets jetzt besser mit ihm? Für deine Schwestern und für dich mag‘s besser sein. Nun, er und Nathan Kelly werden dir schon gesagt haben, wie es um mich steht.“

Da das Mädchen schwieg, fuhr er fort: „Nun, es würde seltsam sein, wenn ich auch meine Farbe wechselte. Ich bin hart wie Eisen. Aber wie kommt es, dass du dich nicht vor mir gefürchtet hast und mich sogar um eine Gefälligkeit bittest, Christel? Du hast wirklich Mut, kleines Mädel.“

„Ich fürchte mich vor niemanden, denn Gott ist mit mir“, flüsterte das Kind.

Sie sah ihn ganz ruhig mit großen, klaren Augen an, während Kittig seine Blicke zu Boden senkte. Er schien eine starke Neigung zu haben, mit einem Fluch zu antworten. Doch die Zunge versagte ihm dieses Mal den Dienst und die Hand, mit der er die Beeren zum Mund führte, zitterte zusehend. Für ihn war es etwas ganz Neues, dass jemand eine Bitte an ihn zu richten wagte. Die Angst, die er einst beim Seesturm gezeigt hatte, schien in Gegenwart dieses mutigen Mädchens zurückgekehrt zu sein. Wider seinen Willen erwachte mit Macht sein Gewissen.

„Nun, meinetwegen“, brummte er, „dieses Mal will ich den Schlingel in Ruhe lassen.“

„O, das ist gut“, rief das Kind fröhlich. „Ich wusste, dass Ihr mir meine Bitte nicht abschlagen würdet. Aber jetzt muss ich fort, dort steht mein Vater und wartet auf mich. Grüßt mir Mutter Brigitta, den Peter und die kleine Agnes.“

Sie war im Begriff zu gehen, aber Kittig hielt sie zurück und sagte in einem weit freundlicheren Ton als vorher: „Erst deine Hand, kleines Ding! Für die Erdbeeren danke ich herzlich und wenn du einmal nach Derby-Hafen kommst, so kehre bei uns ein. Du bist ein braves Mädel und dass du dich vor dem alten, bösen Kittig nicht gefürchtet hast, werde ich dir nie vergessen.“

Brigitta und Peter waren nicht wenig erstaunt, als Kittig so ungewöhnlich ruhig ins Haus trat. Freilich war er schweigsam und mürrisch wie immer und verzehrte sein Abendbrot, ohne ein Wort zu sagen. Nach dem Essen ging er hinaus, um den neuen Kahn zu besichtigen und nach allen Seiten zu untersuchen. Nach einer Weile rief er den Knaben an den Strand und befahl ihm, sich ans Ruder zu setzen. Brigitta riet ihm, davonzulaufen und sich zu verstecken, denn im Kahn war er wieder ganz in Kittigs Gewalt. Aber Peter erhob sein Herz zu Gott und ein neuer Mut kam über ihn. Im nächsten Augenblick war er mit Kittig beschäftigt, das Fahrzeug vom Sand in die See zu ziehen. In tiefem Schweigen stießen sie dann vom Land ab und fuhren den Damm entlang bis zur St. Michaels-Kapelle. Sie erreichten die Stelle, wo Peter neulich in die Strömung geriet. Das Erstaunen des Knaben wuchs mit jeder Minute, er konnte durchaus nicht begreifen, was Kittig mit ihm vorhabe. Doch er fühlte keine Furcht, der Ausdruck seiner Mienen war ruhig und friedlich, wie oft ihn auch Kittig von der Seite ansehen mochte.

„Also bist bei den Frommen in Kliffstrand gewesen?“, begann er endlich in drohendem Ton.

Peter bejahte es.

„So hast du auch wohl deinen Schwur gebrochen, wie es mir scheint“, führ jener fort.

„Ja, ich habe ihn gebrochen“, erwiderte Peter ernst und feierlich.

„Und nun wirst du auch wohl all den Unsinn wie Beten, Bibellesen und dergleichen treiben wollen?“

„Ja, mit Gottes Hilfe“, rief Peter mit festem Ton. „Ich wollte lieber sterben, als noch einmal meinen Herrn und Heiland verleugnen.“

„Und wer ist denn dein Herr? Etwa der Kapitän Seefort?“, fragte Kittig spöttisch.

„Nein“, erwiderte der Knabe. „Mein Herr und Heiland ist der Herr Jesus Christus, der Sohn Gottes, der für meine Sünden starb. Und sollte ich für ihn sterben müssen, so wird er mich in den Himmel nehmen.“

Das Auge des Knaben war, während er diese Worte sprach, ruhig und fest auf seinen Stiefvater gerichtet, dessen wilde, trotzige Blicke sich alsbald zu Boden senkten. Etliche Minuten hindurch wiegte sich der Kahn hin und her. Keiner der beiden Insassen sprach ein Wort, ja keiner rührte sich. Plötzlich zog Kittig sein Ruder wieder ein und mit kräftigen Stößen wandte er das Fahrzeug der Heimat zu.

Am folgenden Tag, als Peter mit ruhiger Entschiedenheit die Hütte zu der Stunde verließ, wo man sich bei Herrn Seefort zu versammeln pflegte, folgte ihm nach etlichen Augenblicken auch Brigitta mit Agnes an der Hand. Kittig lies es ruhig geschehen. Als sie zurückkehrten, saß er in seinem gewöhnlichen Dahinbrüten in einem Winkel. Die gute Alte wagte es indes noch nicht, sich darüber zu freuen, denn jeden Augenblick fürchtete sie nach dieser ungewöhnlichen Windstille den Ausbruch eines großen Sturmes. Peter und Agnes aber waren seelenvergnügt und machten einen Spaziergang nach der Halbinsel Langnas.

So ging die letzte Zeit der Heringsfischerei für die Hüttenbewohner ziemlich erträglich vorüber. Zwar hatten Kittig und seine Mannschaft sich keines besonderen Glückes zu erfreuen gehabt, denn er brachte wenig Geld mit nach Hause. Dagegen fand Peter die Reusen stets voll großer Fische, die er zum Markt trug. Neidisch blickte Kittig auf Jakob Sander und Nathan Kelly, die nach dem Heringsfang ein hübsches Sümmchen mit nach Hause genommen hatten. Noch vor Weihnachten gedachte Nathan seine Elisabeth als Ehefrau heimzuführen.