Im finsteren Tal

„Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal“ (Ps. 23:4).

Es gibt allerlei Stationen auf der Reise durchs Leben. Manchmal heißt es: „Rosengarten“, oder „Freudenberg“, oder „Glückstadt“, oder „Paradies“. Und je und dann dürfen wir da ein Weilchen bleiben. Aber dann geht die Reise wieder weiter – manchmal durch öde Strecken, über schroffe Felsen und manchmal durch dunkle Tunnels. Plötzlich ist es vorbei mit dem lieblichen Sonnenschein, mit der lachenden Landschaft, und es geht in den finsteren kalten Tunnel hinein. Wessen Lebensweise wäre nicht durch solche Tunnels hindurchgegangen?

David konnte davon erzählen. Er hatte die finsteren Täler kennen gelernt in seinem Leben. Als er von Saul flüchten musste, was war das für ein finsteres Tal! Und noch viel finsterer war es, als er von Absalom flüchten musste, seinem eigenen Sohn, seinem Liebling. Als er über den Kidron ging, ein entthronter König, wie finster war das Tal! Aber in diesen finsteren Tälern seines Lebens hat er herrliche Erfahrungen gemacht. Aus eigenen Erlebnissen heraus kann er es nur bezeugen: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir, Dein Stecken und Stab trösten mich“.

Es steht ein Mann am Sarg der Gattin. Es ist so schnell, so unerwartet gekommen, dass er es gar nicht zu fassen vermag. In einem Augenblick – zuvor heiter und gesund und dann ein, wie es schien, leichtes Unwohlsein – und sie sank tot nieder. Nicht wahr, ein finsteres Tal?

Da steht eine Frau zum dritten Male in 14 Tagen am Grabe eines geliebten Kindes. Der Würgengel der Diphtherie hat sie berührt. Oh, wie ist das Haus auf einmal so leer. Oh, wie blutet das Herz! Und wie sie da am Grabe steht, da hebt sie die nassen Augen empor und spricht: „Und der Herr macht doch keine Fehler!“ Sie hatte im finsteren Tal eine Stütze, auf die sie sich lehnen konnte. Sie hatte einen lebendigen Heiland.

Gerade in den Tälern der Trauer, da zeigt es sich, ob unser Christentum echt ist oder nicht. O wie haltlos sind dann die armen Kinder dieser Welt. Wie verzweifelt fragen sie dann warum, warum? Ich weiß von einem Elternpaar, das hatte einen einzigen Sohn. Der starb als Student an der Schwindsucht. Die Eltern waren trostlos. Sie richteten das Leichenbegräbnis her und schossen sich dann in ihrem Hotelzimmer eine Kugel in den Kopf. Das Leben hatte keinen Wert mehr für sie. Im finsteren Tal – und dann keinen Heiland, oh, das ist furchtbar!

Ich machte eine Reise mit meinem kleinen Sohn. Da mussten wir manchmal durch Tunnels hindurch. Wenn es finster um uns her wurde, legte er stille sein Haupt auf meinen Arm. Er wollte fühlen, ob der Vater noch da war. Und als er sich überzeugt hatte, dass der Vater bei ihm war, da war er ganz getrost. Oh, so dürfen große Kinder auch machen. Wenn es dunkel wird um uns her, dann dürfen wir unsere Hand auf den treuen Arm des Herrn legen. Er ist da! Und wenn Er da ist, dann hat es keine Not. Dem Gerechten muss die Sonne immer wieder aufgehen.

Liebe Seele, hast du Jesus schon zu deinem Führer gemacht? Hast du Ihm schon dein Leben anvertraut? Siehe, jetzt hast du noch gute Tage, benütze sie. Es kann sein, ja es wird gewiss geschehen, dass dein Weg auch noch durch dunkle Täler führt. Da brauchst du den Heiland. Da hast du eine Stütze nötig! Sonst brichst du zusammen, sonst verlierst du deinen Halt. Darum bitte ich dich, sorge doch beizeiten dafür, dass du in den Tagen der Tränen einen starken Arm weißt, auf den du dich lehnen kannst. Schieb es nicht auf, sondern bedenke beizeiten, was zu deinem Frieden dient, damit du auch mit David sprechen kannst, wenn Trübsal kommt: „Ich fürchte kein Unglück, denn Du bist bei mir!“

Und es gibt Täler, die sind vielleicht noch tiefer. Das sind die Täler, in denen man um die Rettung teurer Angehörigen bangt. Man ist mit ihnen verbunden durch die Bande des Blutes und die Liebe des Herzens, und man sieht sie dahingehen auf dem Wege des Verderbens. Wie schwer, wie schmerzlich ist das.

Vor Jahren erzählte mir ein alter Mann die Geschichte seines Lebens. Er war in seiner Jugend ein verlorener Sohn gewesen, der alle Bitten und Ermahnungen seiner Mutter in den Wind schlug. Als eines Sonntags er spät in der Nacht nach Hause kam, hörte er im Garten, in dem das Haus gelegen war, ein Flüstern, ein leises Sprechen. Er ging, um zu sehen, was da sei, und er fand seine Mutter hinter einem Stachelbeerstrauch auf den Knien liegen und für ihren Sohn beten. Sie hatte es nicht mehr aushalten können im Hause mit der Last auf ihrem Herzen, da war sie hinausgegangen, um unter dem sternigen Himmel Gott ihr Herz auszuschütten. Frech, wie der junge Mensch war, schalt er die Mutter, dass sie so töricht sei, da draußen zu liegen, sie würde sich erkälten usw. „Aber dieses Gebet hinter dem Stachelbeerstrauch – sagte er mir – habe ich nicht vergessen können. Manchmal, wenn ich mit meinen Kameraden im Wirtshaus saß, stand mir mit einem Male das Gebet hinter der Stachelbeerhecke vor der Seele. Die Mutter hat es nicht mehr erlebt, dass ich mich bekehrte, aber als sie starb, sagte sie: „Ich weiß, der Johann kommt auch noch!“ Und wenn es auch noch Jahre dauerte, der Johann kam“.

Wie schwer für eine Mutter, so einen Lohn zu haben! Aber wie gut, in so einem finsteren Tal einen Heiland zu haben, dem man den Kummer klagen, auf den man alle Sorgen werfen kann. Und das hatte die Mutter getan, und da hat ihr der Herr die Gewissheit gegeben: Der Johann kommt auch noch.

O wie gut, dass wir auch im finsteren Tal des Schmerzes und des Kummers um die Angehörigen, die in der Irre gehen und nichts vom Herrn wissen wollen, uns auf Jesus verlassen können. Wie gut, dass wir uns auf sein Wort stützen können: „Glaube an den Herrn Jesus Christus, so wirst du und dein Haus selig“. Soll ich noch vom finsteren Tal der Verfolgung und Verleumdung um Jesu willen reden? Oh, auch das sind finstere Täler, wenn man um seines Glaubens willen zu leiden hat, wenn die Leute schlecht über uns sprechen und unseren guten Namen in den Kot ziehen. Wir haben einen Anspruch darauf, etwas zu leiden um Jesu willen. Das ist unser gutes Recht. Aber wenn so etwas kommt, wenn wir verachtet,  verfolgt und verstoßen werden, dann erfahren wir die Wahrheit seines Wortes: „Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles wider euch, so sie daran lügen. Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel wohl belohnt werden“ (Mt. 5:11-12).

Und ein finsteres Tal gibt’s, durch das werden wir alle einmal zu gehen haben, das ist das Tal des Todes. Es ist sehr eng und finster, es ist sehr kalt und schaurig. Oh, wie bangen die Menschen von diesem einsamen Engpass! Wie fürchten sie sich vor dem Tod. Es ist eine stillschweigende Abmachung in der Welt, nichts vom Tode zu reden. „Davon spricht man nicht“. Nicht mal das Wort „Tod“ oder „Sterben“ getraut man sich auszusprechen. Darum umhüllt man den Tod von allen Seiten mit Lug und Trug. Wie werden die armen Kranken und Sterbenden belogen und betrogen! Da werden Hoffnungen erweckt und genährt, wo gar nichts mehr zu hoffen ist. Man dürfe doch den Kranken nicht aufregen. Ach, und er könnte doch, wenn er die erste Schritte in das finstere Tal hinein macht, sich noch nach einem Begleiter umsehen, er könnte sich noch am Herrn anklammern, er könnte noch gerettet werden. Der Heiland, der noch für den Schächer am Kreuz Gnade hatte, der kann noch heute in letzter Stunde eine Seele retten. Es steht geschrieben: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen“ (Joh. 6:37). Wie unbarmherzig, wie grausam ist das, einen Kranken in falscher, trügerischen Hoffnung einzuwiegen! Seine Seele könnte noch gerettet werden, und nun geht sie verloren durch die Schuld derer, die vorgeben, den Kranken zu lieben. Ist das Liebe, jemand um sein ewiges Heil zu betrügen? Oh, das ist schändlich! Hab doch Erbarmen mit den armen Kranken. Sag ihnen doch in Liebe und Freundlichkeit die Wahrheit. Wenn die Kranken selbst etwas tun müssten, ja, dann wäre es nicht an der Zeit, zu ihnen damit zu kommen, sie damit zu belästigen. Aber es ist doch eine frohe Botschaft, dass Jesus schon alles getan hat, daß wir das Heil als ein Geschenk annehmen dürfen.

Wehe, wer durchs finstere Tal des Todes hindurch muss, ohne einen Heiland zu haben. Aber glücklich, wer sich im finsteren Tal der Todesschatten auf den treuen Arm des Herrn lehnt, auf sein ewiges Wort stützen darf.

Ich stand am Sterbebett einer jungen Frau. Als sie den Tod nahen fühlte, ließ sie ihre drei kleinen Kinder herbringen. Jedem Kind legte sie die Hand aufs Haupt und segnete sie betend. Dann sagte sie: „So, nun bringt die Kinder wieder fort.“ Und sich an ihren Gatten wendend, sagte sie: „Ich bin los von euch allen“. Ihr einziger Wunsch war und blieb: „Komm, Herr Jesu“. Wer so stirbt, der stirbt wohl!

Wohl dir, wenn du weißt: Es geht durchs finstere Tal zur Herrlichkeit, es geht durch Tod zum Leben, es geht durch Nacht zum Licht, denn ich habe einen herrlichen Heiland!