Der Herr – ein Hirte

„Der Herr ist mein Hirte“ (Ps. 23:1).

Im alten Israel hatte man eine große Scheu vor dem Namen Gottes. Der Name des Allmächtigen, der Himmel und Erde gemacht hat, der sich einst Abraham offenbarte, der sein Volk mit starker Hand aus Ägypten herausführte, der war ihnen zu heilig, als dass sie gewagt hätten, ihn auszusprechen. Sie fürchteten, es hätte ein Missbrauch des Namens Gottes geschehen können, darum sagten sie: „Der Herr“. Nur am großen Versöhnungstage, nur von den Lippen des Hohenpriesters wurde der Name Gottes ausgesprochen. Sonst fürchtete man sich, ihn zu gebrauchen. Der Prophet Jesaja erzählt uns im 6. Kapitel, wie er sich einst im Gesicht dem heiligen und herrlichen Gott gegenüber gesehen hat, dem die Chöre der Engel ihr „Heilig, heilig, heilig“ zuriefen. Und wie war ihm zu Mute, als er Gott sitzen sah auf hohem erhabenen Thron. Er rief: „Wehe mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen“. Und was lesen wir von dem Seher Johannes? Er sah den Menschensohn, dessen Augen wie Feuerflammen und dessen Füße wie Messing sind, das im Feuer glüht. „Und als ich Ihn sah, – schrieb er – fiel ich zu seinen Füßen wie ein Toter“ (Offb. 1:17). Es war ein Jünger, der so gerne das Haupt an des Meisters Brust legte; es war der Jünger, der allein unter dem Kreuze ausgehalten hatte, als alle anderen geflohen waren; es war der Jünger, dem der Herr zeigte, wie es in der Zukunft gehen wird. Und als dieser sich dem Herrn gegenüber sah, da fiel er zu seinen Füßen „wie ein Toter.“ Und heute?

Ach, wie schändlich ist der Missbrauch, der mit dem heiligen Namen Gottes getrieben wird! Wie gedankenlos, wie leichtfertig, wie allgemein wird der Name Gottes missbraucht! Wer denkt noch daran, dass Er gesagt hat, dass Er den nicht ungestraft lassen wird, der seinen Namen missbraucht? Ach, es gibt Leute, die können kaum einen Satz aussprechen, ohne sich durch ein „Ach, Gott“ zu versündigen. Und es gibt auch Gotteskinder, die den Namen Gottes leichtfertig gebrauchen. Wie mancher „Gott sei Dank“ ist ein Missbrauch des heiligen Namens, weil man gar nicht wirklich Gott dankt. Man sagt nur so. Und in manchen Gebeten, diese schreckliche Häufung der Anrede „Herr, Herr“ – was ist das anderes, als ein Missbrauch? Warum hat der Herr in dem Mustergebet, das Er seinen Jüngern gab, nur eine Anrede gebraucht, obwohl das Gebet doch so tief und so hoch ist, dass es Himmel und Erde umfasst? Er hat uns damit auch etwas sagen wollen, was wir für unser Gebetsleben uns merken sollen. O, vergiss es nicht, mit wem du es zu tun hast, vor wem du stehst, zu wem du betest! Es ist der Herr, die höchste Majestät, der König aller Könige, der Herr aller Herren, der heilige Gott. Der Herr, der die Welten schuf, der den gewaltigen Himmelskörpern ihre Bahnen vorschrieb, der all die Sonnen und Sonnensysteme in seiner Hand hält und trägt. Es ist der Herr!

Und dieser große und allmächtige Gott, sagt David, ist mein Hirte. Ein Hirte? Wie reimt sich das denn? Das sind doch Gegensätze, der Herr und – ein Hirte! Ja, es sind Gegensätze, und doch, in Gott sind sie geeint und verbunden. Er ist die Fülle der Macht, Er ist auch zugleich die Fülle der Liebe. Oh, wenn Er nur der Herr wäre – wir würden uns ja nicht in seine Nähe wagen; wir würden ja vergehen vor Ihm und seiner Heiligkeit. Aber gelobt sei Gott! Er ist nicht nur ein Herr, Er ist auch der Hirte! Er kümmert sich nicht nur um das gewaltige Weltall, Er kümmert sich auch um dich, um mich. Ist das nicht Herrlichkeit? Ist das nicht zum Anbeten und zum Staunen?

Der Herr – ein Hirte! Und wo wäre diese Verbindung von Macht und Liebe so in die Erscheinung getreten wie in Jesus? Wo hätte es sich so herrlich offenbart, dass der Herr auch ein Hirte ist, als in Jesus? Wo, wie ein Dichter sagt, „Gott und die Menschheit in einem vereinet, wo alle vollkommene Fülle erscheinet“. Darum bezieht Jesus dieses Wort des Psalmisten auf sich und sagt: Der gute Hirte, von dem David im 23. Psalm geredet hat, der bin Ich; der Hirte, von dem der Prophet geweissagt hat, dass Gott ihn dem Volk erwecken wolle, der bin Ich: „Ich bin der gute Hirte!“ Der Hirte sorgt für alles, was die Herde braucht. Was ist das für ein väterliches Verhältnis zwischen Hirte und Herde! Der Hirte sorgt für alles, was die Herde bedarf. Er sorgt für die rechte Weide, er führt die Schafe zum frischen Wasser, er bringt sie zur rechten Zeit in den heimatlichen Stall, er ist Schutz und Schirm gegen wilde Tiere und räuberische Menschen, er sucht die Verirrten und Verlorenen, er heilt und hilft – kurz, alles was die Herde braucht, besorgt der Hirte. Er übernimmt die Verantwortung für alles. Und die Schafe haben weiter nichts zu tun, als dem Hirten zu folgen. Weiter nichts. Für alles sorgt der Hirte.

Nicht wahr, das trifft in ganz einzigartiger Weise bei Jesus zu? Alle irdischen Hirten sind nur schwache Abbilder von Ihm. Er ist der Hirte. In Ihm ist alles verkörpert, was einen Hirten ausmacht. Er hat ein Hirtenherz, das in selbstloser Liebe schlägt. Er denkt nicht an sich und seine Bequemlichkeit. Er denkt nur an die Schafe. Er hätte wohl Freude mögen haben, und doch erduldete Er das Kreuz und achtete der Schande nicht (Hebr. 12:2).

Und Er hat ein Hirtenauge. Er übersieht nichts. Er hat jedes Schaf im Auge. Wenn eins müde ist und nicht mehr recht kann, der Hirte sieht’s. Ihm entgeht nichts.

Er hat eine Hirtentreue, die nie ermüdet. Er flieht nicht, wenn Gefahren kommen, wie ein Mietling tut. Er ist treu. Er verlässt die Seinen nicht.

Er hat Hirtenhände. O wie zart, wie weich sind diese Hände! Wenn Er sie einem auf das unruhige, oder verzagte, oder betrübte Herz legt, dann wird’s darin ganz stille.

Er hat Hirtenliebe. O wie liebevoll nimmt Er die Lämmer auf seinen Arm und trägt sie in seinem Busen!

Er hat Hirtensorge. Er weiß, was jedes seiner Schafe aushalten und ertragen kann. Darum sorgt Er, dass keines überanstrengt und übermüdet würde.

Oh, welch ein Hirte ist Er! Was für ein guter Hirte! Ja, Er hat recht gesagt: Er ist der gute Hirte.