Ein Versuch, die Lehre der Heiligung zu widerlegen

Mein Bruder schrieb mir einiges über die Gottesdienste, die in der Kapelle unseres Dorfes abgehalten worden waren und teilte mir dann auch mit, dass er die wunderbare Erfahrung der Heiligung gemacht hätte. Er und die Mutter hatten die Gemeinde der „Vereinigten Brüder“ verlassen.

Die Nachricht traf mich wie ein Schlag. Der Gedanke, dass sie die Gemeinde verlassen hatten, erschreckte mich. Ich schrieb ihm einen Brief, worin ich ihn warnte, sich nicht von Betrügern verführen zu lassen. Darauf entgegnete er mir, dass er die Gemeinde nicht verlassen hätte, sondern dass er gerade jetzt in der Gemeinde wäre, die Christus gebaut hätte, und dass er jetzt frei von aller Sektiererei wäre. Da ich die Auslegung der Schriftstellen nicht so wie er gehört hatte, war ich nicht imstande, alles zu erfassen, was er mir schrieb. Ich fühlte mit Bestimmtheit, dass er verführt worden war und entschloss mich sogleich, einen Artikel für mein Gemeindeblatt zu schreiben, in dem ich Lehren, die von jenen Betrügern vertreten wurden, und besonders die Lehre der Heiligung, widerlegen wollte.

Gerade über diesen Punkt wurde ich früher belehrt, dass kein Mensch in diesem Leben geheiligt werden könnte. Wenn je ein Mensch die Heiligung erlangte, so wäre es ein allmähliches Hineinwachsen; und erst am Ende des irdischen Lebens, wenn die Seele ins Jenseits schwebt, wäre sie erreicht. Während ich an meinem Schreibpult saß, schien es mir ein Leichtes zu sein, jene Lehren zu widerlegen.

Nach einigem Nachdenken hatte ich schon einen Satz im Kopf, mit dem ich den Artikel beginnen wollte. Ich beeilte mich, ihn niederzuschreiben, doch ehe ich auch nur einen Strich getan hatte, war der ganze Satz vergessen, und ich war nicht imstande, auch nur ein Wort ins Gedächtnis zurückzurufen. Genau so ging es mit dem zweiten Satz. Nach einigen weiteren vergeblichen Bemühungen entschloss ich mich, anhand meiner Bibel diese Lehren vom Standpunkt der Schrift zu widerlegen. Bald war jedoch meine Unwissenheit über dieses Thema erwiesen, denn ich wusste nicht, wo ich die Stellen finden konnte, welche die Erklärung über den fraglichen Gegenstand enthielten.

Ich holte nun meine Konkordanz und suchte nach Stichwörtern, die sich auf die Hauptlehrpunkte dieser Leute bezogen, damit ich auf diese Weise die passenden Schriftstellen finden konnte. Es kam eine Liste mit folgenden Punkten heraus, die diese Verfechter der Heiligung glaubten und lehrten: 1) heiligen, 2) Heiligung, 3) vollkommen, 4) Vollkommenheit, 5) heilig, 6) Heiligkeit, 7) rein, 8) Herzensreinheit, 9) die Heiligen.

Nachdem ich noch einige Anmerkungen für jedes Wort niedergeschrieben hatte, begann ich meine Untersuchung, indem ich die Bibel nahm und zunächst die Stellen über „heiligen“ aufschlug. Der erste Vers, der sich hierauf bezog, enthielt die Worte Jesu in Joh. 17:17: „Heilige sie in deiner Wahrheit, dein Wort ist Wahrheit.“ Hoffend, für meinen Zweck eine passende Schriftstelle zu finden, schlug ich Hebr. 2:11 auf: „Denn sie alle kommen von einem, beide, der da heiligt und die da geheiligt werden. Darum schämt er sich nicht, sie Brüder zu heißen.“ Diese Schriftstellen passten mir ganz und gar nicht. Ich ging nun daran zu untersuchen, was die Bibel über Heiligung sagte. Ich schlug 1. Thess. 4:3 auf und fand die Worte: „Denn das ist der Wille Gottes, eure Heiligung ...“ und in Kapitel 5:23 las ich: „Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch...“. Nun war es klar, dass Jesus und die Apostel die Heiligung besonders hervorhoben und die Menschen drängten, diese Erfahrung zu machen. Ich hielt es daher nicht für ratsam, einen weiteren Versuch zu unternehmen, diese beiden Punkte zu widerlegen.

Nun überging ich zum dritten Punkt. Es war mir berichtet worden, dass die Leute mit den neuen Lehren glaubten, dass ein Christ den Grad der Vollkommenheit erreichen könne, und dass sie insbesondere die christliche Vollkommenheit lehrten. Dies war bestimmt eine falsche Lehre, denn ich hatte in Gottes Wort gelesen: „Da ist keiner, der Gutes tue, auch nicht einer.“ Meine erste Schriftstelle zu dem Stichwort „vollkommen“ stand in Matth. 5:48. Dort sagt Jesus: „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist“. Und in Hebr. 6:1 las ich: „Darum wollen wir den Anfang der Lehre Christi jetzt lassen und uns zur Vollkommenheit wenden.“

Ungeachtet meiner Enttäuschung über all diese Schriftstellen glaubte ich, noch genug andere Stellen zu finden, welche die Verkehrtheit dieser Lehre bewiesen. Die nächsten Punkte waren: „heilig“ und „Heiligkeit“. Ich schlug 1. Petr. 1:16 auf. „Niemand kann in diesem Leben heilig sein“, dachte ich und las: „Denn es steht geschrieben: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig.“ Da diese Schriftstelle ebenfalls ganz entgegen meiner Meinung war, schlug ich Hebr. 12:14 auf. Nun meinte ich ganz bestimmt, eine Stelle zu finden, die dieser Lehre den Todesstoß versetzte. Doch wer beschreibt mein Erstaunen, als ich die Worte las: „Jaget dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung („Heiligkeit“ in der engl. Bibel), ohne die niemand den Herrn sehen wird“.

Aber ich hoffte noch, dass die Erklärung der nächsten Punkte kräftig genug wäre und mir die gewünschte Aufklärung brächte. Es waren zunächst die Worte „rein“ und „Herzensreinheit“. Ich schlug 1.Tim. 5:22 auf und machte wiederum eine einfache, unumstößliche Feststellung aus den Worten des Apostels, der schrieb: „Halte dich selber rein“. Und in 1.Joh. 3:3 stand: „Und ein jeglicher, der solche Hoffnung auf ihn hat, der reinigt sich, gleichwie jener rein ist.“ Über Herzensreinheit las ich auch in 1. Petr. 1:22: „Da ihr eure Seelen gereinigt habt im Gehorsam der Wahrheit durch den Geist zu ungefärbter Bruderliebe, so habt euch untereinander inbrünstig lieb aus reinem Herzen.“ Es schien, dass diese Schriftstellen ganz im Gegensatz zu dem standen, was ich beweisen wollte.

Ich kam nun zum letzten Punkt; er hieß: „Die Heiligen“. Bisher war ich belehrt worden, dass die Heiligen im Himmel lebten und Flügel hätten. Aber nun traten Leute auf, die diesen Zustand schon auf dieser Erde für sich beanspruchten und behaupteten, dass jedes wahre Kind Gottes heilig sei, ob es diese Bezeichnung angenommen hätte oder nicht. Beim Aufschlagen der Schriftstellen fand ich, dass Paulus in 1.Kor. 1:2 an die „berufenen Heiligen“ schrieb, die in Korinth und an anderen Orten wohnten. Weitere Stellen fand ich in Röm. 1:7, 2.Kor. 1:1, Eph. 1:1. Nach 1.Kor. 14:34 gab es sogar Gemeinden der Heiligen. Ich hatte nun soviel Schriftstellen gefunden, welche die Lehre dieser Leute in jeder Hinsicht aufrecht erhielten und nicht eine, die meinem Standpunkt entsprach.

Ich wollte bereits meine Feder weglegen, als ich an ein oft zitiertes Wort dachte: „Wer da lebt und sündigt nicht, ist ein Lügner, und die Wahrheit ist nicht in ihm.“ In der Meinung, nun eine Grundlage für meinen Artikel gefunden zu haben, ergriff ich hastig meine Konkordanz und suchte eifrig nach dieser so beliebten Stelle, fand sie aber nicht. Später wurde mir von einer glaubwürdigen Person erzählt, dass dieses Zitat gar nicht in der Bibel stände, sondern eine Verdrehung der Schrift wäre. Dies war eine große Überraschung für mich, denn wie oft hatte ich sie aus dem Munde der Prediger gehört! In 1.Joh. 3:8 fand ich ein ganz anderes Resultat meines Suchens. Dort steht: „Wer Sünde tut, der ist vom Teufel.“ Nun wurde ich nachdenklich, denn ich wollte nicht vom Teufel sein. Ich konnte die Sünde nicht mehr verteidigen, denn es ist ein Unrecht zu sündigen. Nun kam mir ein Gebet von den Lippen, dass Gott mich von der Sünde frei erhalten möchte.

Eine andere Schriftstelle, die ähnlich der gesuchten lautete, fand ich in 1.Joh. 2:4. Dort heißt es: „Wer da sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner, und in diesem ist keine Wahrheit.“ Welch ein Unterschied besteht aber zwischen jenem oft angeführten Zitat und dieser Schriftstelle! Die Verkehrtheit jenes Ausspruches war damit klar erwiesen. Er war von Menschen erdacht, um ein Mittel zu haben, die Heiligung zu bekämpfen.

Es gab aber noch eine Schriftstelle, die eine zuverlässige Grundlage für meinen Artikel geben konnte: „Da ist keiner, der Gutes tue, auch nicht einer.“ Ich las die Stelle in Röm. 3:12 nach; sie konnte nicht bestritten werden. Sie schien mir nun die wichtigste von allen zu sein; all die anderen waren bedeutungslos. Aber im 10. Vers las ich die Worte: „Wie geschrieben steht: Da ist keiner, der gerecht sei, auch nicht einer.“ Nach der Fußnote schlug ich Ps. 14:1-3 auf. Dort steht: „Die Toren sprechen in ihrem Herzen: Es ist kein Gott ... Aber sie sind alle abgewichen und allesamt verdorben; da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer.“ Also von wem war das gesagt? Von den Toren!

Nun stand es bei mir fest, nicht mehr gegen diese Lehre zu schreiben, denn ein Tor wollte ich nicht sein. Nachdem ich einige Zeit nachgedacht hatte, wurde es mir allmählich klar, dass der Herr mich nicht nur abhalten wollte, jene Lehre zu unterdrücken, sondern er versuchte, mir selbst Licht über jene Schriftstellen zu geben, um mich fähig zu machen, im Licht seines Wortes zu wandeln. Der Herr wusste, dass ich ehrlich und ernst in der Sache war und nicht den Wunsch oder die Absicht hatte, die Wahrheit zu bekämpfen. Ich glaubte doch, das Beste tun zu wollen, und wusste, dass ich mit meiner Gegnerschaft keine Sünde getan hatte. Da ich jedoch nun überzeugt war, dass in der Bibel nichts stand, was meine Meinung stützen könnte, überkam mich große Furcht bei dem Gedanken, dass ich in der Gefahr stand, gegen Gott zu kämpfen. Schon begann ich zu fassen, dass auch ich eine tiefere Erfahrung brauchte.

Als ich dann in den Sommerferien wieder nach Hause kam, erkannte ich sogleich den Wechsel im Leben meines Bruders und anderer früherer Gemeindeglieder. Ein großes Verlangen ergriff mich, auch eine solche Erfahrung wie sie zu besitzen. Eines Tages fragte ich meinen ältesten Bruder, ob er an die Erfahrung der Heiligung, die als ein zweites Gnadenwerk nach der Bekehrung erreicht werden kann, glaube. Mein Bruder entgegnete, seit er seine Bibel über diesen Punkt gelesen und die Auslegung des Wortes Gottes von denen gehört hätte, die von sich sagen, diese Erfahrung erlangt zu haben, wäre er vollkommen überzeugt, dass die Heiligung eine biblische Lehre sei.

Gleich am ersten Sonntag nach meiner Ankunft wohnte ich einem Gottesdienst der „Vereinigten Brüder“ bei, während der übrige Teil der Familie zum Gottesdienst der Gemeinde Gottes ging, der in meines Onkels Scheunenhof gehalten wurde. Ich war erstaunt über die geringe Zahl der Anwesenden. Nach Schluss des Gottesdienstes war ich von vielen umgeben, die sich ungewöhnlich freundlich zeigten. Einer der ersten, der meine Hand ergriff, mir auf die Schulter klopfte und mir die erdenklichsten Schmeichelworte sagte, war ein Mann, der sich dem Trunk ergeben hatte. Sein Atem roch nach Tabak. Auch er stand in den Reihen der Kämpfer gegen die Heiligung. Dann kamen andere, von denen ich wusste, dass sie geistlich tot waren oder ein heuchlerisches Christentum führten. Eine Angst stieg in mir auf, dass ich mit den Verkehrten an einem Strang zöge.

An jenem Tag saß ich bei einem dieser übriggebliebenen Mitglieder zu Tisch. Während der Unterhaltung sagte ich ihm, dass ich am Nachmittag die andere Versammlung besuchen wolle. Sofort warnte mich mein Gastgeber und sagte: „Sie werden dich bestimmt gewinnen.“ Ich entgegnete ihm: „Wenn sie mehr geistliches Leben haben als ich, dann will ich auch solch eine Erfahrung besitzen.“ Bei meiner Ankunft am Versammlungsort merkte ich, dass der Nachmittagsgottesdienst schon bald zu Ende war. Aber der Rest der Zeit genügte, um einige Informationen zu erlangen. Die Leute schienen sehr ernst bei ihrer Andacht zu sein und ich hörte manchen Ruf des Lobes und Dankes gegen Gott. Ich wusste sofort, dass hier eine große, geistliche Erweckung stattgefunden hatte. Jedoch war ich noch nicht überzeugt, dass ihre Lehre in Bezug auf die Gemeinde richtig war.

In der folgenden Nacht hatte ich einen sonderbaren Traum. Ich ging auf einer Landstraße, die ungefähr eine Meile von einer Kapelle entfernt lag, die dem kleinen Rest der alten Gemeinde als Versammlungsplatz diente. Plötzlich blitzte nicht weit von mir entfernt ein Feuerstrahl auf. Ein Bote kam herbeigerannt und brachte mir die Meldung, dass jene Kapelle in Flammen stände. Als ich an dem Umfang, den das Feuer schon erlangt hatte, sah, dass hier nichts mehr zu retten war, rang ich auf meinem Weg zur Brandstätte nach Worten, um zu beten, fand aber keine. Als ich mein Ziel erreicht hatte, stellte ich fest, dass das Feuer so gründlich gelöscht war, dass auch nicht die geringste Spur von Feuer oder Rauch zu sehen war. Das Dach sowie das Innere der Kapelle waren zerstört. Die Wände standen zum Teil noch. Schwarz von oben bis unten und an vielen Stellen schon verbrannt, ragten sie als traurige Überreste in die Luft.

Während ich die Überreste des Gebäudes beschaute, dachte ich, dass meine Anwesenheit mir Gelegenheit gäbe, wenn nötig, die Leitung zur Wiederherstellung des Gebäudes in die Hand zu nehmen. Beim Prüfen der Reste des ehemals so schönen Gebäudes bemerkte ich, dass nicht ein Stück am ganzen Bau heil geblieben war. Mit Papier und Bleistift stand ich da, um eine Aufstellung von dem benötigten Bauholz und anderem Material zu machen, um die sofortige Wiederherstellung in die Wege leiten zu können. Dann erwachte ich.

Der Traum machte einen tiefen Eindruck auf mich und noch lange musste ich daran denken. Später wurde es mir klar, dass das Gebäude nicht abgebrannt war, sondern das Feuer des Heiligen Geistes in jener Versammlung seine Wirkung getan hatte, und alle wahren Kinder Gottes waren den Worten aus Offb. 18:4 gefolgt, wo es heißt: „Gehet aus von ihr, mein Volk.“ Das Volk Gottes war aus den Ruinen jener geistlich toten Gemeinde geflohen und nicht ein wahres Kind Gottes war zurückgeblieben. Nun wusste ich auch, warum ich beim Prüfen der Trümmer kein heiles Stück mehr fand. Nach all diesen Erlebnissen lag es jetzt an mir, mich für die alte oder neue Gemeinde zu entscheiden.