Wie Jesus liebte

Ehe wir das wunderbare 13. Kapitel des 1. Korintherbriefs betrachten, wollen wir zuvor sehen, wie Jesus liebte. Dann wird uns klar werden, was Liebe eigentlich ist, was für eine Liebe er von uns eigentlich erwartet.

Schlage einmal das 15. Kapitel Evangelium Johannes auf. Dort steht in Vers 9: „Gleichwie mich mein Vater liebt, also liebe ich euch auch“. Die erste Hälfte des Textes erscheint uns nicht schwer. Im Gegenteil, dass der Vater den Sohn liebte, erscheint uns ganz selbstverständlich. Nie hat es jemanden gegeben, der mehr der Liebe wert und würdig gewesen wäre, als der Eingeborene vom Vater. Nie herrschte auch nur die allergeringste Unstimmigkeit oder Uneinigkeit zwischen dem Vater und dem Sohn. Nie wurde die vollkommene Harmonie zwischen dem Vater und dem Sohn durch irgend etwas gestört oder getrübt. Da war es für den Vater – wenn ich einmal menschlich davon reden darf – nicht schwer, den Sohn zu lieben. Wie hätte er den eingeborenen Sohn nicht lieben sollen, dessen Speise es war, den Willen seines Vaters zu tun? (Joh. 4:34).

Aber waren die Jünger auch so liebenswert? Waren sie auch so liebenswürdig? War es auch so leicht, sie zu lieben? Der Herr sagt doch hier: „Gleichwie mich mein Vater liebt, also liebe ich euch auch“. Oh, was haben ihm die Jünger für Mühe gemacht! Wie viel Not hat er doch mit ihnen gehabt! Wie unverständig waren sie doch! Ja, wenn es ihm darauf angekommen wäre, seiner Liebe würdige Menschen zu finden, dann hätte er die Jünger nicht lieben können, denn sie waren nicht liebenswürdig. Aber es kam dem Herrn nicht darauf an, dass diejenigen, die er liebte, besonders liebenswürdig wären. Er liebte, weil er gar nicht anders konnte als lieben. Er liebte, weil er lieben musste. Sein Leben war ein Lieben.

„Wie er hatte geliebt die Seinen.., so liebte er sie bis ans Ende“, steht in Joh. 13:1 geschrieben. Und da war auch ein Judas dabei. Auch den Judas hat er ebenso geliebt wie die anderen. Woher ich das weiß? – Als sie zusammen beim Abendmahl waren, sagte er: „Einer unter euch wird mich verraten“ (Joh. 13:21). Da fingen sie an zu fragen: „Herr, bin ich’s? Herr, bin ich’s?“ (Mt. 26:22). Da hat niemand an Judas gedacht.

Stelle dir einmal vor, Jesus hätte einmal über Judas gesprochen. Denk dir einmal, er hätte gesagt: „Petrus, ich habe solche Sorge um den Judas. Ich fürchte, es geht mit ihm nicht gut!“ Nicht wahr, wenn er nur einmal so gesprochen hätte, würde Petrus dann gewiss gesagt haben: „Meinst du den Judas, Herr? Du sagtest mir ja schon, dass du dem Judas nicht traust“. O nein. Jesus hat nie ein einziges Wort über Judas hinter seinem Rücken geredet. Dass er ihn kennt und durchschaut, das sagt er in den ganzen Kreis der Jünger hinein: „Euer einer ist ein Teufel“ (Joh. 6:70). Aber hinter seinem Rücken – kein Wort! Wenn er jemals Unterschiede in der Behandlung seiner Jünger gemacht hätte, wenn er Judas anders behandelt hätte als die übrigen, dann würden sich beim Abendmahl alle sofort an den Judas gewandt haben: „Ja, wir haben es schon lange gemerkt, dass du etwas gegen den Judas hattest“. Nein. Er machte zwischen den Jünger nie Unterschiede in Bezug auf die Liebe. In Bezug auf ihr Verständnis, auf ihre geistliche Aufnahmefähigkeit hat er wohl Unterschiede gemacht, aber nicht in Bezug auf die Liebe.

Als er auf den Berg der Verklärung ging, da nahm er nicht alle Jünger mit, sondern nur die drei, die das meiste Verständnis hatten. Ach, und davon hatten auch sie noch ganz wenig. „Herr, hier ist gut sein,“ – ruft Petrus, – „Willst du, so wollen wir hier drei Hütten machen!“ (Mt. 17:4). Wie unverständig! Auch in den Garten Gethsemane nahm er nicht alle mit, sondern auch nur die drei. Aber ach, wie wenig verstanden sie die Bedeutung dieser Stunde! Er kam und fand sie schlafend, und ihre Augen waren voll Schlafs. Wie unverständig! Aber auch wenn Jesus unter seinen Jüngern solche Unterschiede machte und in solchen Stunden sie nicht alle mitnahm, – in der Liebe machte er keine Unterschiede. Er liebte Judas ebenso wie die anderen Jünger.

Oh, durch was für eine Schule der Liebe ist Jesus gegangen! Stelle dir einmal vor, was es heißt, täglich mit einem Menschen zusammen zu sein, von dem man weiß: Der bringt mich ans Kreuz! In den vertrautesten und heiligsten Stunden – Judas war dabei. Die wunderbarsten Worte – Judas hat sie gehört. Täglich, stündlich mit einem Menschen zusammen zu sein, der einem dem Henker überliefert, – was für eine Aufgabe! Und wie hat Jesus diese Aufgabe erfüllt? Er hat auch den Judas geliebt. Unverändert, unvermindert! Bis nach Gethsemane: „Mein Freund, warum bist du gekommen?“ (Mt. 26:50). Auch da hat er ihn noch geliebt. Und wenn Judas gekommen wäre, anstatt dass er hinging und sich erhängte, wenn er sich dem Herrn zu Füßen geworfen hätte, dann würde Jesus ihm auch noch jetzt vergeben haben.

Oh, wie hat Jesus geliebt! Und siehe, da hängt er am Kreuz. Seine Hände sind ans Kreuz genagelt. Ein ungerechter Richter hat ihn verurteilt. Neidische Priester haben ihn dem Tode überliefert. Rohe Soldaten haben ihn gequält und gemartert. Und was tat er? Er liebte! „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk. 23:34). Wem galt seine Liebe? – Seinen Feinden. Was mochte Er noch? Er mochte, dass Pilatus auch noch in den Himmel komme; er mochte, dass auch Hannas, Kaiphas noch gerettet würden; er mochte, dass auch Herodes zur Erkenntnis der Wahrheit komme. Oh, welch eine Liebe! Ach, wenn wir Menschenkinder mit feindseligen Leuten zusammen sind, wie machen wir es dann? Wir kündigen, wenn es möglich ist, und sagen: „Die 14 Tage oder das viertel Jahr wird ja auch noch vorübergehen“. Wir sehnen uns nach der Zeit, wo wir mit den bösen Nachbarn nichts mehr zu tun haben brauchen. Und Jesus? Er mochte am liebsten ewig mit seinen Mördern zusammen sein. Er mochte sie am liebsten alle in seinem Himmel haben. Oh, wie hat Jesus geliebt! Er fragte nicht nach liebenswürdig oder nicht liebenswürdig. Er fragte nicht nach gut oder böse. Er liebte.

Wandelnde Liebe! Oh, nun hört, drei Verse nach dem Vers: „Gleichwie mich mein Vater liebt, also liebe ich euch auch,“ steht ein anderer, der lautet: „Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebet, gleichwie ich euch liebe“ (Joh. 15:12). Was ist das? Steht es wirklich da? Ja, es steht da! Wir sollen uns untereinander lieben. Kannst du den Vergleich aushalten? Was wirst du jetzt sagen? Oh, mein ganzes Leben war eine jämmerliche Stümperei! Es verdient den Namen „Liebe-gar-nicht“. Nicht wahr, so wirst du sagen? Und doch steht da: „Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander lieben sollt, gleichwie ich euch liebe“. Wir können uns über dieses Gebot nicht einfach hinwegsetzen. Wie stand es um dein Lieben bis daher? Ich will dir’s einmal sagen. Hast du schon eine Schnecke beobachtet? Auf zwei langen Fühlern trägt sie ihre Augen vor sich her. Und wenn sich so ein Fühler an etwas stößt, dann zieht er sich sofort zusammen. Was tut die Schnecke dann? Dann zieht sie sich ganz zurück und eilt, in ihr Haus zu kommen. Sie will mit der bösen Welt nichts mehr zu tun haben. – „Die böse Welt. Ich mache nicht mehr mit.“ Wirst du es mir nicht übel nehmen, wenn ich dich ganz leise frage: Warst du auch am Ende so eine Schnecke? Wenn irgendeine Kleinigkeit kam, dann warst du verletzt, du zogst dich zurück, du sprachst kein Wort mehr.

„Aber was hast du denn?“

„Nichts“.

„Aber du bist ja so stumm!“ – Keine Antwort. „Du musst doch was haben!“

„Lass mich in Ruhe!“

Siehe, gerade wie die Schnecke. Und wenn es etwas Empfindliches war, was dir geschah, dann schlossest du dich ganz ab. Du sagtest dann, du wurdest verkannt. Du redest von nicht wegwerfen und so weiter. Schnecke. Ich denke, du gibst zu, dass das ein Bild aus dem Leben ist.

Hat das Bild von der Schnecke mit dem Bilde, dass ich dir vorhin zeigte, wie Jesus liebte, irgendwelche Ähnlichkeit? Nein, nicht die geringste. Das eine zeigt dir seine Liebe, das andere zeigt dir deine Liebe. Nicht wahr, die beiden Bilder sollten zusammenstimmen? „Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebet, gleichwie ich euch liebe“.

Wir sollten unsere Feinde lieben, und wir sind schon in der Bruderliebe stecken geblieben. Schon da hat es gemangelt. Anstelle der Liebe zu allen Kindern Gottes hast du Sympathie mit einigen gehabt. Aber von sympathisch und unsympathisch steht nichts in der Bibel. Und anstelle der Bruderliebe gibt es manchmal Schadenfreude unter Kindern Gottes. Man sollte es kaum glauben, aber es ist wahr. Da ist etwa ein Bruder, der einen gefährlichen Weg einschlägt. Er hat irgendeine besondere Ansicht, der er einseitig folgt. Du sprichst mit ihm, du warnst – er lässt sich nichts sagen. Nun lässt du ihn seine Wege gehen. Es soll mich doch mal verlangen, wie lange es dauert, sagst du. Es kann ja nicht gut gehen, das ist ganz unmöglich. Und richtig, nach einiger Zeit kommt der Bruder zu Fall.

– „Siehst du? Das habe ich ja gleich gedacht! Es ist gerade so gekommen, wie ich gesagt habe!“ Man empfindet eine gewisse Freude, dass man recht erhalten hat, dass die Vorhersage eingetroffen ist, und man bedenkt gar nicht: Es ist mein Bruder, der gefallen ist. Und wenn dein Bruder fällt, dann spritzt der Schmutz seines Falles auch auf dich. Du musst mit an der Schmach tragen, denn du bist sein Bruder. Die Leute sagen nicht: „Der Bruder ist gefallen“, sondern: „Das sind die Frommen!“ Und noch einer hat zu leiden, wenn dein Bruder fällt. Das ist der Heiland. O wie traurig, wenn die Sache des Herrn aufgehalten und ins falsche Licht gebracht wird durch die Sünde eines Kindes Gottes! Mein Freund, der Bruder, der den Irrweg einschlägt, braucht nicht deine Kritik und Prophezeiungen, er braucht deine Liebe. Anstatt kritisch dabei zu stehen und auf seinen Fall zu warten, solltest du sagen: „O Herr, bewahre meinen Bruder. Es ist ja mein Bruder; lass es nicht zu, dass mein Bruder fällt.“

Woran hat es gefehlt in deinem Leben? In deinem Familienleben? In deinem Gemeinschaftsleben? – An der Liebe hat es gefehlt! Was solltest du nun tun? Dich zusammennehmen? Das wird dir nichts helfen! Liebe lässt sich nicht befehlen. Liebe lässt sich nicht erzwingen. O wie gut, dass Liebe eine Gabe ist! Dann können wir den Herrn bitten, dass er die Liebe durch seinen Heiligen Geist ausgieße in unsere Herzen. Aber es ist noch ein Aber dabei: Aber es kann geschehen, dass einer um diese Gabe bittet und sie doch nicht empfängt. Wie kommt das? Will Gott sie etwa nicht geben? Er will es, ganz gewiss. Aber er kann sie nicht geben, weil kein Raum dafür im Herzen ist.

Da ist ein Hindernis, das muss zuerst weg. Das ist die Selbstsucht. Solange der Mensch für sich besorgt und bestrebt ist, ist jeder andere seine Konkurrenz und sein Gegner, der sich ihm hinderlich in den Weg stellt. Willst du Liebe haben und Liebe üben? Dann mache Raum für die Liebe. Dann denke, ob Jesus dein Herz damit ausfüllen kann. Oh, wenn er dein Herz ausfüllt, dann kannst du gar nicht anders als lieben. Dann wird dein Leben ein Liebesleben sein. Ach, soll es in deinem Hause dazu kommen? War da dein Leben immer ein Lieben? Gingst du den Weg als wandelnde Liebe? – Nein? Willst du jetzt darauf eingehen? Willst du dich dem Herrn hingeben, dass er sich dir hingeben kann? Je weniger du Raum für den Herrn hast, um so weniger Raum hast du für die Liebe. Aber je mehr Platz du dem Heiland einräumst, um so mehr kannst du lieben.

Weißt du, was ich wünsche? Oh, ich wünsche, ihr, meine Lieben, die ihr dieses liest, würdet euch dem Herrn übergeben und ihn bitten: „Herr, mache aus mir eine wandelnde Liebe.“ Wollt ihr das tun? Und wenn du nicht auf mich hörst, dann will ich es dem Herrn sagen. Der hört! „O lieber Herr, ich bitte dich, gib doch in Gnaden, dass alle, die diese Betrachtungen lesen, davon Segen haben, und zwar diesen ganz bestimmten Segen, dass sie sich fortan in ihrem Leben als wandelnde Liebe beweisen. O Herr, bitte erhöre dieses Flehen um deines Namens willen. Amen.“