Der Hauptgrund dieses Aufschubs

Wenn wir darüber nachdenken, wie die Menschen im Allgemeinen ihrer Seelen Seligkeit vernachlässigen, so werden wir veranlasst, nach der Ursache dieses bedauernswerten Zustandes zu fragen. In der Regel liegt die Ursache nicht darin, dass die betreffende Person von der unendlichen Wichtigkeit der in Frage stehenden Sache nicht überzeugt ist. Es gibt viele, die offen eingestehen, dass sie wissen, dass die Erlangung des Heils das Allerwichtigste ist, die aber seine Erlangung nichtsdestoweniger hinausschieben. Auch kann der Grund nicht in den besonderen Verhältnissen gefunden werden, in denen sich die Menschen befinden, und die sie als ungünstig zur Erlangung ihres Seelenheils betrachten. Denn wenn diese sich auch noch so günstig gestalten, so verharren sie doch in ihrem Zögern. Auch ist die Schwierigkeit nicht in bezug auf die Zeit oder das Alter zu suchen. Denn sie kommt in jedem Lebensalter zum Vorschein: in der Kindheit, in der Jugend, in den mittleren Jahren und auch im vorgerückten Alter. Die wirkliche Schwierigkeit ist im Herzen zu suchen. In dem Herzen, das allem Guten abgeneigt und dem Bösem zugeneigt ist. In dem Herzen, das Gott entfremdet und nicht bereit ist, sich seinem Willen zu unterwerfen und seine Macht anzuerkennen. „Sie halten fest an ihrer Untreue, und weigern sich zurückzukehren“ und „der Böse fragt nichts in seinem Hochmut“ (Jer. 8,5; Ps. 10,4; Van Eß Übers.).

Obwohl das Gewissen die Forderungen Gottes anerkennt und gutheißt, so finden diese doch keinen Widerhall im menschlichen Herzen. Das Evangelium verlangt, dass Menschen heilig sein sollen, aber sie lieben die Sünde. Es verlangt Demut, aber sie sind stolz. Es verlangt Wohlwollen, Nächstenliebe und Mildtätigkeit, aber sie sind selbstsüchtig. Es verlangt unbeschränktes Vertrauen in Christus als ihren einzigen Retter und Seligmacher, aber sie sind geneigt, das Vertrauen auf sich selbst zu setzen.

All diesen Anforderungen steht das natürliche Herz feindlich gegenüber. Deshalb kommt es zu einem bitteren Kampf, wenn der Mensch versucht, seine Aufmerksamkeit auf geistliche Dinge zu lenken. Wenn das Gewissen die göttliche Wahrheit gutheißt und bereit ist, sie aufzunehmen, widersetzt sich das Herz. Wenn der Mensch einsieht, dass er etwas tun muss, um sich das Seelenheil zu sichern, und sich bemüht, seine Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand zu lenken, findet er, dass viele Schwierigkeiten zu überwinden sind. Er mag sich eine Zeitlang bemühen, das widerstrebende Herz zur Unterwerfung zu bringen. Es hält aber an seiner Hartnäckigkeit fest, bis er, entmutigt durch die fruchtlosen Versuchen, sich vornimmt, die Sache, die ihm so viele Schwierigkeiten bereitet, bis auf eine gelegenere Zeit zu verschieben, in der Hoffnung, dass die Verhältnisse dann günstiger sein werden.

Man könnte annehmen, dass Menschen sogleich bereit wären, das Seelenheil anzunehmen, wenn sie nur darauf aufmerksam gemacht würden und es ihnen angeboten würde. Wer könnte sich weigern, gerettet zu werden? Wer wäre nicht bereit, Vergebung seiner Sünden anzunehmen? Wer wollte nicht in das göttliche Ebenbild zurückversetzt werden und das Wohlgefallen Gottes auf sich ruhen wissen? Wer wollte nicht ein Miterbe der ewigen Herrlichkeit werden? Oh, ist es denn möglich, dass Menschen auch nur einen Augenblick zögern können, das so teuer erkaufte Heil anzunehmen, wenn sie so dringend dazu aufgefordert werden? Und doch zögern sie. Das große Abendmahl ist bereit und die Einladung geht aus: „Kommt, denn es ist alles bereit!“ Aber alle beginnen sich zu entschuldigen. Dies geschieht nicht, weil sie der Einladung nicht bedürften, auch nicht, weil sie kein Verlangen hätten, gerettet zu werden, sondern weil sie keinen Geschmack für geistliche Speise haben. Sie wollen glücklich, aber nicht heilig sein. Sie wollen von der Hölle, aber nicht von der Sünde errettet werden. Sie wollen die Vorrechte eines Christen genießen, aber nichts von der Entsagung und Selbstverleugnung des christlichen Lebens wissen.

Der reiche Jüngling ging traurig von Jesu weg, weil er die Schätze dieser Welt höher achtete als die Schätze des Himmels. Felix unterdrückte seine bessere Überzeugung und sandte den getreuen Prediger von sich, weil er nicht willig war, seine Leidenschaften aufzugeben. Agrippa weigerte sich, seiner Gewissensüberzeugung zu folgen, obwohl er fast überredet war, ein Christ zu werden. Und das vielleicht nur deshalb, weil er die Ehre bei Menschen höher achtete als das Wohlgefallen Gottes. Menschen kommen oft dahin, wo sie sich willig und bereit zeigen, alles ihnen im Wege Stehende aufzugeben, um das Heil zu erlangen – bis auf einen einzigen Punkt. Es gibt eine Lieblingssünde, die sie nicht aufgeben wollen, eine Pflicht, die Selbstverleugnung fordert und die sie darum nicht erfüllen wollen. Und dieses eine Hindernis schließt sie vom Himmelreich aus.

Es ist selten, dass Menschen willig sind, den wirklichen Grund ihres Zögerns offen zu bekennen. Sie bringen verschiedene Entschuldigungen vor: Mangel an Zeit, die auf ihnen ruhenden irdischen Pflichten, ihre Unfähigkeit, den göttlichen Forderungen nachzukommen, ihr Vertrauen auf die göttliche Gnade usw. Aber die wirkliche Schwierigkeit liegt tief im Herzen. Es ist ihr tiefeingewurzelter Widerstand gegen Gott und ein heiliges Leben. Wäre es nicht um dieser Hauptursache willen, so würden sie das Heil ergreifen, sobald es ihnen angeboten wird. Wir können nicht bemerken, dass sie andere Angelegenheiten, die für sie wichtig und von Interesse sind, auf solche Weise vernachlässigen. Biete einem Kranken ein Heilmittel an, von dem er glaubt, dass es ihn heilt – wird er es von sich weisen? Reiche einem Ertrinkenden deine Hand, um ihn aus seiner Gefahr zu erretten – wird er sie zurückstoßen? Lade einen vom Hunger Geplagten zu einer reichgedeckten Tafel ein – wird er deine Einladung abweisen?

Warum nehmen denn die Menschen die Hilfe, die ihnen im Evangelium angeboten wird, nicht ebenso bereitwillig an? Warum gebrauchen sie nicht den angebotenen Balsam, um ihre geistliche Krankheit zu heilen? Warum ergreifen sie die Hand nicht, die sie aus dem ewigen Verderben herausziehen will? Warum beeilen sie sich nicht, zu den großen Gnadenmahl zu kommen und das Brot des Lebens zu genießen, damit sie nicht sterben müssen? Einzig und allein darum, weil ihre Herzen dem biblischen Heilsweg abgeneigt sind. O welch ein trauriger Zustand ist das! Die Herzen der Menschen sind für Gottes unergründliche Liebe unempfänglich. Sie hegen nicht das geringste Gefühl der Dankbarkeit gegen den Heiland, der für sie geblutet hatte. Trotzdem sie sich ihrer Verdorbenheit und Sündhaftigkeit bewusst sind, sind sie doch nicht zur Buße geneigt. Sie wollen sich nicht dem anvertrauen, der doch des Vertrauens am meisten würdig ist. Wie tief sind die Menschen gesunken! Wie gänzlich unpassend sind sie für den Umgang mit ihrem Schöpfer hier auf Erden geworden und noch viel mehr für die selige Gemeinschaft mit ihm im Himmel!

Und doch ist dies der Zustand eines jeden unerneuerten Herzens. Darin fehlt nicht nur jede Liebe zu Gott, sondern es herrscht dort auch eine direkte Abneigung gegen ihn. Nur angesichts dieser Tatsache können wir das Widerstreben verstehen, das sich überall zeigt, wenn die Aufmerksamkeit der Menschen auf göttliche Dinge gelenkt wird. „Sie hielten es nicht der Mühe wert, sich Erkenntnis von Gott zu verschaffen“; „In allen seinen Gedanken hält er Gott für nichts“ (Ps. 10,4; Van Eß Übers.).

Hast du, lieber Leser, diese Abneigung gegen die heiligsten Pflichten noch nie in dir selbst wahrgenommen? Hast du noch nie eine gewisse Neigung bemerkt, alle Gedanken an Gott und die Ewigkeit zu verbannen? Warum hast du heute nicht deine Knie im Gebet vor dem Allerhöchsten gebeugt? Der mit dem Versöhnungsblut besprengte Gnadenthron ist dir jederzeit zugänglich und es steht dir frei hinzuzutreten. Gott selbst ladet dich ein und steht bereit, deine Gebete zu erhören. Und doch hältst du dich fern. Warum denn? Ist es nicht darum, dass dein Herz nicht zum Beten geneigt ist, keinen Gefallen am Gebet findet, kein Verlangen hat, mit Gott in Verbindung zu treten?

Willst du aufrichtig genug sein, dies zu gestehen? Das Zugeständnis mag dich demütigen und dir schmerzen, aber es wird dir heilsam sein. Es mag dich wenigstens von der Falschheit und Betrug jener Entschuldigungen überzeugen, die du stets geneigt bist vorzubringen, wenn dir das Heil angeboten wird, und mag dir das wirkliche Hindernis zeigen. Auch kann es dich davon überzeugen, dass du durch Aufschub nichts gewinnen kannst. Denn wenn du nicht jetzt Buße tun kannst, wann wirst du es tun können? Die bestehenden Schwierigkeiten werden durch die Zeit nicht vermindert oder entfernt, sondern nur vermehrt und vergrößert werden. Die Gebrechlichkeit des Alters mag das Verlangen nach sündigen Dingen abstumpfen, kann aber niemals die tief eingewurzelte Verderbtheit des Herzens entfernen.