Neigung zum Zögern – ein allgemeines Übel

In einem christlichen Land gibt es wenige, die nicht von der Wirklichkeit des Glaubens und der Wichtigkeit des Seelenheils überzeugt sind, und die nicht die Absicht haben, einmal in der Zukunft allen Ernstes diesem ihre Aufmerksamkeit zu schenken und es zu erlangen. Als unsterbliche und Gott gegenüber verantwortliche Geschöpfe sind sie sich wohl bewusst, dass irgendwelche Vorbereitungen für die Ewigkeit getroffen werden müssen. Auch wollen sie dies unter keiner Bedingung gänzlich vernachlässigen. Sie beabsichtigen, Buße zu tun; sie gedenken Christus als ihren Heiland anzunehmen; sie wollen Gott um Gnade bitten – nur nicht gerade jetzt. Die Zeit ihrer Bekehrung liegt stets in der Zukunft, und in den meisten Fällen ist sie ganz unbestimmt. Die meisten warten auf eine gelegenere Zeit. Als solche denken sich viele die letzte Stunde oder die Zeit ihrer Krankheit; andere gedenken, in ihrem Alter ihre Aufmerksamkeit auf himmlische Dinge zu richten. Viele wollen zuerst alles andere ordnen, eine gewisse Summe ersparen oder gewisses Eigentum erwerben. Andere wollen nur bis zum nächsten Jahr oder bis zum nächsten Monat warten – nur nicht gerade jetzt. Sie geben sich der anmaßenden Hoffnung hin, dass der Tod noch weit entfernt sei und die Gnadenzeit noch lange dauern wird. Sie erwarten, dass die Schwierigkeiten und Hindernisse, die ihnen jetzt im Wege stehen, mit der Zeit verringert oder beseitigt werden, und schieben so die Buße auf, von einem Jahr zum anderen, bis die Gnadenzeit abgelaufen und ihre Seele auf ewig verloren ist.

Sogar schon bei einem Kind können wir bemerken, wie sein Gemüt bewegt wird, sein Herz höher schlägt und seine Augen sich mit Tränen füllen, wenn wir mit ihm über diesen wichtigen Gegenstand reden. Die einfachen Wahrheiten, die wir ihm vorlegen, prägen sich tief in sein Herz und Gewissen ein. Die Geschichte vom Kreuz fesselt seine ganze Aufmerksamkeit. Und doch wird es auf die liebevolle Einladung seines Heilands gewöhnlich antworten: „Nicht jetzt – später!“

Beachte jenen jungen Mann! Sein frommer Vater hat ihn soeben ermahnt, seine Aufmerksamkeit auf das eine, das nottut, zu richten. Er ist von der Wichtigkeit und dem Ernst der Sache überzeugt, und es wird ihm schwer, den väterlichen Ermahnungen und Bitten zu widerstehen. Er sagt, dass er ein Christ zu werden beabsichtige, aber nur nicht gerade jetzt. Wie könnte er auch die fröhliche Gesellschaft seiner Kameraden jetzt aufgeben! Wie könnte er schon jetzt allen weltlichen Vergnügungen entsagen und die mit Selbstverleugnung verbundenen Pflichten eines gottseligen Lebens auf sich nehmen! Vielleicht hat er eben einen Brief von seinen Eltern bekommen, in dem er in der liebevollsten und dringendsten Weise aufgefordert wird, sich dem Herrn zu übergeben und sein Leben ihm zu weihen. Aus seinen Augen rinnen Tränen auf den Brief herab, und in seinem Inneren tobt ein Kampf. Er ist fast überredet nachzugeben; denn er ist fest überzeugt, dass dieses seine Pflicht ist, und dass er es tun muss, wenn er nicht verloren gehen will. Aber er zögert, legt den Brief beiseite und fasst den verwegenen Entschluss, die wichtige Sache bis auf gelegenere Zeit aufzuschieben.

Betrachte jene junge Dame! Ihre fromme Mutter hat sie ernstlich und dringend ermahnt, ihr Herz dem Herrn zu weihen: das gute Teil zu erwählen, das von ihr nicht genommen werden soll. „O mein Kind,“ sagt sie, „willst du dich nicht mir anschließen auf dem Weg zum Himmel? Du warst der Gegenstand meiner ernstesten Gebete und meiner zartesten Fürsorge. Schon frühe wurdest du dem Herrn geweiht und seit jener Zeit habe ich dich stets mit betendem Herzen vor den Gnadenthron gebracht. Du kannst dir keinen Begriff davon machen, welche Freude es mir bereiten würde, meine Gebete beantwortet und dich mit mir zusammen am Tisch des Herrn sitzen zu sehen, mit dir vereinigt zu sein für Zeit und Ewigkeit durch die Bande der christlichen Liebe und der heiligen Gemeinschaft.“ „Liebe Mutter,“ gibt sie zur Antwort, „alles, was du gesagt hast, ist wahr; und ich weiß, dass ich eine Christin werden sollte; aber ich kann jetzt nicht. Lass mich erst die Welt genießen. Ich bin jetzt gerade in den Jahren, wo mich diese am meisten erfreut. Wenn ich erst darüber hinaus bin und ein ruhigeres Leben führen kann, ist es noch immer Zeit, meine Aufmerksamkeit auf die Sache zu lenken. Wenn ich einmal alt und gebrechlich geworden bin, mögen die Freuden der Welt nicht mehr hinreichend sein, mich zu befriedigen, und ich werde dann wohl aus einer anderen Quelle schöpfen müssen.“

Beachte auch jenen Mann, der in den besten Jahren steht und in seinem Geschäft und anderen irdischen Sorgen völlig aufgeht. Seine gottesfürchtige Frau dringt in ihn, sich dem liebenden Heiland zu ergeben, den sie über alles liebt, einen Familienaltar aufzurichten und sich mit ihr in der Erziehung der Kinder für Gott und den Himmel zu vereinigen. Er findet es schwer, ihren Tränen und ihrem anhaltenden Bitten zu widerstehen. Er ist von seiner Pflicht überzeugt, doch hängt sein Herz noch immer an der Welt. Darum antwortet er: „Rede für diesmal nicht länger von dieser Sache. Mein Geist ist mit anderen Dingen zu sehr beschäftigt und meine Zeit mit geschäftlichen und anderen Angelegenheiten zu sehr in Anspruch genommen. Warte noch etwas länger. Ich werde mich dir in der nahen Zukunft anschließen.“

Hier ist ein Mann, der sich der besten Gesundheit erfreut. Eben hat er einer Predigt zugehört, die einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht hat. Er ist tief erschüttert und von der Wichtigkeit der Frage: „Soll ich mich dem Herrn übergeben oder nicht?“ fast überwältigt. In ihm tobt ein heftiger Kampf, bis er schließlich die besseren Regungen gewaltsam unterdrückt und sich entschließt, die Sache noch aufzuschieben. Er bildet sich ein, dass für ihn keine Gefahr eines baldigen Todes vorhanden sei, er sei ja so stark und gesund und seine Aussichten seien die besten. Warum sollte er sich auch so beeilen, Vorkehrungen für die Ewigkeit zu treffen?

Siehst du jenen Leidenden? Siehe, wie schwach er schon ist, wie mühsam und wankend er sich vorwärtsbewegt! Seine Augen liegen schon tief in ihren Höhlen. Wie nahe scheint er der langen Ewigkeit zu sein! Was immer die Entschuldigung anderer oder der Grund, weshalb sie die Annahme des Heils aufschieben, sein mag – dieser kann doch sicherlich keine solche Ausflucht machen! Wenn er sich jemals um sein Seelenheil kümmern will, so muss er es jetzt tun. Aber nein, die gelegene Zeit ist auch für ihn noch nicht gekommen. Ein christlicher Freund hat ihn in aller Liebe ermahnt, die ihm noch zur Verfügung stehende Zeit zu gebrauchen, um sich vorzubereiten dem Herrn zu begegnen. Er antwortet aber: „Meinst du denn, dass mein Fall bedenklich sei? Es ist wahr, dass ich zur Zeit etwas schwach bin. Aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, meine frühere Gesundheit bald wieder zu erlangen. Dann kann ich auch die Gottesdienste wieder regelmäßiger besuchen und werde mich dann auch allen Ernstes mit dem Gedanken an die Ewigkeit beschäftigen.“

Wende dich nun an einen, der im Dienst der Sünde ergraut ist. Will er gerettet und einstens selig werden? Ja, sicherlich! Aber warum eilt er dann nicht, sich dass gute Teil anzueignen? Weiß er denn nicht, dass seine Gnadenzeit sich rasch zu Ende neigt, und dass er bald vor dem Richterstuhl Gottes erscheinen muss? Er weiß es und gibt es gerne zu. Aber er ist noch nicht gänzlich bereit, seinen Halt an der Welt aufzugeben und sein ganzes Sinnen und Trachten auf den Himmel zu richten. Gott hat ihn bis jetzt geschont und er hofft, noch länger Zeit zur Umkehr zu haben. Seine letzte Krankheit ist noch nicht gekommen; und wenn sie über ihn hereinbricht, beabsichtigt er, sich Gott im Gebet zu nahen. Er zweifelt nicht daran, dass Gott ihm auch noch in der letzten Stunde gnädig sein wird.

Richte deinen Blick auf jenes besorgte Antlitz. Dort ist jemand, in dessen Herz der Pfeil der Wahrheit eingedrungen ist. Er ist aus seinem Schlaf aufgewacht, und eine tiefe Sündenerkenntnis hat sich seiner bemächtigt. Er fühlt, dass er als Sünder entweder Buße tun oder auf ewig verloren gehen muss. Seine frühere Ruhe hat ihn verlassen und er ist fast überredet, die Erlösung anzunehmen, die ihm im Evangelium angeboten wird. O warum wirft er sich nicht sogleich in die ausgestreckten Arme des Heilands? Warum legt er seine drückende Schuldenbürde nicht zum Fuß des Kreuzes nieder, um dort Vergebung und ewiges Leben zu finden? Einige Hindernisse halten ihn noch zurück. Seine Gefühle sind noch nicht, wie sie sein sollten – er hat noch nicht genug gebetet und geweint. Wie könnte er auch, so wie er ist, vor den Herrn treten – so verdorben und unwürdig! Er zögert; er wartet so lange, bis der Geist Gottes, durch seine Unentschlossenheit betrübt, von ihm weicht, worauf er in noch größere Schwierigkeiten oder gar in seine frühere Gleichgültigkeit versinkt.

So befremdend es auch erscheinen mag, so ist es dennoch wahr, dass das, was dem Menschen das Wichtigste sein sollte, gewöhnlich bis zuletzt verschoben wird. Gleich jenem römischen Statthalter, der unter dem Einfluss der göttlichen Wahrheit zitterte, sprechen auch heutigentags noch Tausende, wenn der Heilige Geist an ihren Herzen wirkt: „Gehe hin auf diesmal; wenn ich gelegene Zeit habe, will ich dich herrufen lassen“ (Apg. 24,25).