In eigener Kraft

Mit hohen Erwartungen war Meta in das Diakonissenhaus eingetreten. Sie sah sämtliche Schwestern für Engel an und hielt ihr gemessenes Wesen für einen besonderen Grad der Heiligkeit. Der Anblick der vielen weißen Hauben machte sie ganz wonnetrunken. Ihrem zur Bewunderung und schwärmerischen Verehrung neigenden Gemüte erschienen sie wie lauter Glorienschein. Sie hielt es für gar nicht anders möglich, als das unter diesen Hauben nur lauter ganz reine, hohe und heilige Gedanken wohnten.

Als sie am Tage ihres Eintritts zum ersten Mal an der gemeinsamen Abendandacht teilnehmen durfte, wurde es ihr ganz weihevoll zumute beim Anblick all dieser frommen, ergebenen Schwesterngesichter, zu denen sie nur in ganz ehrfurchtsvoller Scheu aufzublicken wagte. Gewiss waren dies lauter Seelen, die Gott wohlgefielen, denn sie hatten ja schon soviel Barmherzigkeit an Kranken geübt. Es schien ihr auch ganz außer Zweifel zu sein, dass sie in einen Kreis von wiedergeborenen Menschen getreten sei. Denn wer sonst sollte es sein, wenn nicht die eingesegneten Diakonissen, die freiwillig aller Weltliebe entsagten, um dem Heiland nachzufolgen und ihm in werktätiger Nächstenliebe zu dienen! Denn Jesus selbst hatte ja gesagt: „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ Folglich war es ihr klar, dass sie sich schon einen großen Lohn beim Herrn verdient hatten. Und auch ihr selber war nun Gelegenheit gegeben, dieses hohe Ziel zu erreichen. Ihr schwindelte fast bei dem Gedanken, dass sie selbst in vorgeschriebener Frist einem solchen Schwesternvorbild gleichen sollte, das auf andere Sterbliche einen veredelnden Einfluss auszuüben bestimmt war. Eine verzehrende Sehnsucht ergriff sie nach dem Anbruch der herrlichen Zeit, wo auch sie mit diesem Glorienschein gekrönt sein würde, der das Haupt der eingesegneten Diakonissen umfloss. Ja, schon mit der „Probehaube“, meinte sie, müsse ihr ein besseres Selbst aufgesetzt werden, und so streckte sie sich voll Verlangen auch nach dieser aus.

Meta war nämlich in eines jener streng geordneten Mutterhäuser eingetreten, in denen es erst eine sechswöchentliche Vorprobe zu bestehen galt, ehe ein für die Diakonissenlaufbahn bestimmtes junges Mädchen für würdig geachtet werden konnte, zu dem ihm verliehenen Trachtenkleid mit Schürze auch die „Probehaube“ zu tragen. Deshalb erschienen ihr auch schon die in der zweiten Probezeit stehenden Schwestern um einen Grad besser und frömmer, als sie selbst war. Meta sah überhaupt alles heute noch im rosigsten Lichte an. Ihre eigene ideale Denkweise und die Freude an der glücklichen Erreichung ihres vorgesteckten Ziels hatten einen förmlichen Verklärungsschein über das ganze Mutterhaus gebreitet, das fortan ihre geistliche wie irdische Heimat sein sollte. Ganz betäubt von all den heilig schönen Zukunftsträumen schlief sie an diesem Abend auf ihrer durch weiße Gardinen abgegrenzte Lagerstätte ein. Auch dieses, für sie allein bestimmtes Privateckchen, erschien ihr wie ein kleines Heiligtum und umfriedete in dieser ersten Nacht ein junges Menschenkind mit einem Herzen voll begeisterter Pläne und heißem Verlangen, auch eine Heilige zu werden.

Am nächsten Morgen weckte sie die etwas rauere Wirklichkeit zu dem auf sie harrenden Tagewerk. Sich in die äußerliche strenge Ordnung zu schicken, fiel Meta nicht allzu schwer, denn sie war es ja von zu Hause aus gewöhnt, dass alles wie am Schnürchen ging. Die Arbeiten selbst freilich, die sie zuerst zu verrichten hatte, wollten ihr gar nicht recht gefallen. Sie hatte es sich so schön gedacht, wie ein milder Segensengel an den Betten der Kranken zu walten, ihnen mit sanfter Hand die Kissen glatt zu streichen, kühlende Getränke zu reichen und was dergleichen Liebesdienste mehr sind. Stattdessen bekam sie vorläufig noch gar keinen Kranken zu Gesicht. Man hatte sie fürs Erste in die Waschküche gesteckt, wo sie an einer großen Wanne voll weißer Schwesternhauben stehen und im Schweiße ihres Angesichts die verbrauchten „Heiligenscheine“ wieder schneerein waschen musste. In den ersten Stunden suchte ihr Idealismus auch das zu einer Ehre zu stempeln. Aber als sie so unaufhörlich Stück für Stück durchreiben musste und sie gar kein Ende nehmen wollten, während von ihren zarten Fingern schon längst große Blutstropfen herniederperlten, da ging ihre schwärmerische Begeisterung in stilles Murren über die ungewohnte Arbeit über. Und sie wünschte sehnlichst, dass sie keine solch handgreifliche Gemeinschaft mit den innig verehrten Gegenständen zu machen brauchte.

Doch als sie nur einen Augenblick die wunden Hände aus dem Wasser nahm und ihr Schmerz sich in einem lauten Seufzer Luft machte, tönte schon von der leitenden Waschschwester der strenge Verweis herüber: „Wie ungeschickt Sie aber auch die Sache angefasst haben! In so kurzer Zeit darf man sich die Finger nicht so total durchreiben, es kommt ganz auf den Griff an.“

Meta sah die ältliche Schwester ganz erschrocken an. War es denn möglich, dass solch harte Worte von den Lippen einer solchen fallen konnten, die den „Heiligenschein“ trug? Ihre Engeltheorie hatte in diesem Augenblick einen gewaltsamen Stoß erlitten. Im nächsten Augenblick waren ihre Hände schon wieder pflichtschuldigst in dem schäumenden Seifenwasser versunken, das denselben nach der kurzen Luftpause ein doppeltes Wehgefühl verursachte. Doch sie presste die Lippen zusammen und beugte den Kopf tiefer über den Waschzuber, in den nun auch ein paar heiße Tränen niederfielen. Sie galten aber mehr dem herabgestimmten Ideal als dem leiblichen Schmerz.

Doch nicht einmal Tränen schienen hier gestattet zu sein, denn schon stand Schwester Beate, die Leiterin dieses Raumes, neben ihr und sagte im tadelnden Ton: „Ei, wer wird den auch gleich so empfindlich sein!“ Dabei zog sie ihr die feinen Händchen aus dem Wasser und, sie kopfschüttelnd betrachtend, fügte sie fast unwillig hinzu:

„Sie bluten aber auch zu stark. Schließlich verderben Sie noch sämtliche Hauben durch garstige Blutflecke. Wechseln sie lieber dort mit Schwester Emmy und drehen sie Schwester Alma die Windmaschine, bis Ihre Samtpatschchen etwas härter geworden sind.“

Der letzte feine Spott brachte Metas Blut in heiße Wallung, sodass es ihr dunkelrot ins Antlitz schoss. Doch sie bezwang nach außen hin ihre Erregung und nahm stillschweigend den ihr angewiesenen Platz ein. Im Innern aber wirbelten ihr tausend rebellische Gedanken durch Kopf und Herz. Sie fühlte sich vor den anderen Schwestern grenzenlos beschämt und gab ihren bitteren Gefühlen Raum, dass ihr böses, aufrührerisches Blut die weißen „Heiligenscheine“ wahrscheinlich schon entweiht habe. Ihre zitternde Erregung teilte sich unwillkürlich auch ihren Bewegungen mit, sodass sie in großer Hast die Maschine drehte, bis die kleine Probeschwester Alma ihr ganz ängstlich zuflüsterte: „Bloß nicht so schnell, ich kann gar nicht nachkommen.“ Dabei streifte ein bittender Blick ihr Gesicht, sodass sie unwillkürlich hinsehen musste. Und als ihr Auge das schüchterne Persönchen streifte, stieg ein Mitleidsgefühl in ihr auf, und sie verlangsamte sofort das Tempo. Zugleich aber schämte sie sich der zornigen Auflehnung, die sie übermannte, ohne dass sie es hatte hindern können. Es war auch bei ihr selbst der erste missglückte Versuch des Heiligwerdenwollens.

Als Meta an diesem zweiten Abend des großen Wäschetages todmüde und wie zerschlagen an allen Gliedern auf ihr Lager sank, da war schon der erste Wermutstropfen in den Becher ihres hohen Lebensideals gefallen. Und beim Einschlafen summte ihr unwillkürlich die Melodie des ergreifenden Volksliedes durch den Kopf, das sie daheim so oft sang: „Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht.“

Dieser ersten bitteren Enttäuschung folgte noch gar manche andere nach. Als die gefürchtete große Wäsche vorüber war, die alle verfügbaren Kräfte in Atem hielt, und wobei man dann Metas Kräfte zu Arbeiten verwandte, die die wundgewaschenen Finger wieder notdürftig heilen ließen, ging es bei ihr ans Scheuern und Schrubben. Denn die verwöhnten Samtpatschchen sollten möglichst schnell an derbes Zufassen gewöhnt werden.

Meta hatte mit einer schon ein Jahr hier weilenden Probeschwester zusammen eine großen Krankensaal zu reinigen. Sie stellte sich dabei ziemlich ungeschickt an, sodass die andere, die ihr darin überlegen war, sie scharf tadelte und wie einen Dienstboten herumkommandierte. Da stieg wieder so ein eigentümlich brennendes Gefühl in Meta empor, das diesmal jedoch in sittliche Entrüstung umschlug, denn die Probeschwester hatte gar kein Recht, sie in dieser Weise herabzusetzen. Deshalb nahm sie sich ihr gegenüber auch kein Blatt vor den Mund, zumal Schwester Auguste kaum älter als sie und zudem noch von sehr einfachem Herkommen war. Sie richtete sich aus ihrer knienden Stellung halb empor und entgegnete im gekränkten Ehrgefühl: „Wollen Sie gefälligst etwas besser darauf achten, wen Sie vor sich haben, und ihre guten Ermahnungen in eine höfliche Tonart kleiden, wenn ich bitten darf!“

Doch mit dem Vorhalten ihres feineren Bildungsgrades kam sie schlecht bei der anderen an. Diese hatte nur ein spöttisches Lächeln dafür und erwiderte schnippisch: „Hier gilt die vornehme Professorentochter nichts mehr, da sind sie einfach Schwester Meta und das noch nicht einmal richtig.“ Dabei streifte ein geringschätziger Blick ihren noch unbemützten Kopf. Meta war empört über diesen plumpen Ausfall und warf ihr etwas hochmütig hin: „Nun, ich beneide sie auch keineswegs um die Gesinnung, die unter Ihrer weißen Haube wohnt.“ Da schoss ein feindseliger Blick zu ihr hinüber, bei dem sich Meta sagen musste, dass sie in Schwester Auguste fortan eine Gegnerin im Mutterhause habe.

Als Meta wieder allein war, schlug sie verzweifelt die Hände vors Gesicht. Waren denn alle Schwestern hier, die sie bisher wie Heilige verehrt hatte, solch unvollkommene Geschöpfe wie Schwester Beate und Auguste? Sollte sie denn an einer nach der anderen eine solch tiefe Enttäuschung ihres Diakonissenideals erleben? O, dass man ihr so unbarmherzig die rosige Binde von den Augen riss! Nun war plötzlich alles so grau und öde um sie her, während doch in ihrem Herzen eine große, heiße Sehnsucht flammte, ein reiches, glückliches und beglückendes Leben zu führen. Das schien ihr nun beinahe ausgeschlossen zu sein, wo man immer nur darauf auszugehen schien, sie zu demütigen und durch herbe Arbeiten herabzuwürdigen. Aber niemand hatte ein mitleidiges Gefühl dafür, wie schwer ihrem zarten Körper diese aufgebürdeten Lasten wurden. Sie drückte im selbstvergessenen Schmerz das Taschentuch vor die Augen und weinte heiß und leidenschaftlich. Doch in der nächsten Minute zuckte sie schon erschrocken zusammen.

Es kamen Schritte die Treppe herauf, und rasch wandte sie sich von dem Korridorfenster ab, um in die Teeküche zu schlüpfen, denn Tränen sehen zu lassen war ja verpönt im Mutterhaus. Aber es war schon keine Zeit mehr zum unbemerkten Entrinnen. Ihr tränenüberströmtes Antlitz war bereits gesehen worden, doch es begegnete einem mitfühlenden Herzen. Es war die kleine Probeschwester Alma, die auf dem oberen Treppenabsatz erschien und mit ein paar raschen Sätzen neben ihr stand. „Sie sind schon wieder traurig. Darf ich fragen, was Ihnen fehlt?“, hauchte sie mit demselben schüchtern bittendem Blick wie in der Waschküche.

„O, hier darf uns ja nichts fehlen!“, sagte Meta mit einem Anflug von Bitterkeit, während sie sich krampfhaft bemühte, die aufquellenden Tränen hinabzuschlucken. Dann rührten sie die flehend auf sie gerichteten Kinderaugen, und sie erklärte mit einem schwachen Versuch zum Lächeln: „Ich beweinte nur eben meine vom Piedestal herabgestürzten Schwesternideale. Ich glaubte nicht, dass man eine solche Behandlung von ihnen erfahren könnte.“

„Ach so! Sie meinen wohl unsere vierschrötige Schwester Auguste“, nickte Alma verständnisvoll. „Nun, das ist so pommersche Landart, die freilich schlecht zu solch zartbesaiteten Geschöpfchen, wie Sie sind, passt. Und dann, da unten in der Waschküche, da geht es eben auch immer mit Volldampf. Da fährt dann manchmal unversehens so eine Donnerwolke dazwischen. Aber das wird man mit der Zeit gewöhnt.“

„Ja, man scheint uns hier allerdings die Ideale beizeiten abzugewöhnen“, entgegnete Meta mit hoffnungslosem Gesichtsausdruck.

Da neigte sich die kleine Schwester noch näher zu ihr hinüber und flüsterte ihr vertraulich zu: „Wissen Sie, man muss es nur verstehen, seine Ideale im äußersten Herzenswinkel festzuhalten, da kann man doch in stillen Zwischenpausen seine Freude daran haben! Und dann dürfen sie auch nicht alles so schwarz ansehen“, fügte sie freundlich tröstend hinzu. „Es gibt doch auch liebe sanfte Schwestern unter uns, die man gern mag. Doch ich muss jetzt auf die Kinderstation“, und husch! war sie wieder davon.

Meta schaute ihr mit dankbarem Blick nach, dann ging auch sie mit Eilschritten an ihre Arbeit, um die verplauderte Zeit rasch wieder einzuholen. Sie versuchte, die erlittenen Kränkungen tapfer zu überwinden und die so unliebsamen niedrigen Arbeiten etwas herzhafter anzugreifen, obwohl sie ihr noch immer wie eine starke Zumutung erschienen und ihr das Misslingen derselben manchen Tadel eintrug. Doch sie wollte der kleinen Probeschwester Rat befolgen und nicht mehr alles so schwarz ansehen. So bemühte sie sich eifrig, alles Gute an den Schwestern herauszufinden und im innersten Herzen doch das Ideal einer gottwohlgefälligen Diakonisse festzuhalten. Sie wandte ihr Augenmerk den sanften, freundlichen Schwestern zu, von denen die kleine Alma so warm empfehlend sprach. Vielleicht gelang es ihr, unter diesen ein Vorbild zu entdecken, das ihr den Nimbus einer Heiligen wiederherstellte, den Schwester Beate und Auguste ihr so grausam zerstört hatten.

Die einzigen Gelegenheiten aber, diese Vollkommenen kennenzulernen, waren die Tischzeiten. Und auch da war es Meta nur vergönnt, sie von Weitem zu betrachten. Denn die Eingesegneten, unter denen sie ihr gottgeweihtes Ideal natürlich suchte, saßen mit Frau Oberin an der Spitze an einer besonderen Tafel, während sie selbst zu unterst in den Reihen der Probeschwestern saß. Sie hatten als Tischleiterin am oberen Ende ihrer Tafel die Probemeisterin, die sie, die Unmündigen, noch eifrig bewachte. Zwischen beiden Tischen aber lag es wie eine unüberbrückbare geistige Kluft, die, obwohl nicht sichtbar, doch deutlich spürbar war. Es kam Meta fast vor wie der Vorhof und das Heiligtum. Zum Glück aber war wenigstens kein Vorhang dazwischen, sodass ihre Augen ungehindert hinüberwandern konnten. Und so betrachtete sie denn angelegentlich eins nach dem anderen die stillen, ergebenen Gesichter und stellte im Innern Betrachtungen darüber an, ob sie wohl alle auch wirklich so fromm seien, wie sie aussähen. Denn sie war durch ihre ersten bitteren Erfahrungen schon ein wenig misstrauisch geworden.

Eines abends saß Meta nun wieder so gedankenvoll da, während ihr Auge wie gebannt an dem feinen, bleichen Antlitz einer älteren Diakonisse hing, die einen ganz besonders sanften, friedevollen Eindruck machte. Sie übte damit eine starke Anziehungskraft auf das junge Mädchen aus, in dessen empfänglichem Gemüt eine scheue Bewunderung aufflammte, die sich in dem schwärmerischen Ausdruck ihrer Augen deutlich verriet. Meta war so in Gedanken versunken, dass ihr die Hand mit dem Butterbrot unwillkürlich auf den Tellerrand sank, währen sie ihr neu erkorenes Heiligenbild unverwandt ansah.

Doch da schreckte sie plötzlich die strenge Stimme der Probemeisterin aus ihrem stillen Sinnen empor: „Was träumen Sie denn schon wieder? Essen Sie doch lieber ordentlich, damit Sie dann Kräfte zur Arbeit haben! Es ist doch kein Wunder, dass Ihnen diese so schwerfällt, wenn Sie sich nicht genügend stärken.“

Meta zuckte bei dieser Rüge jäh zusammen. Sie fühlte, dass sämtlicher Schwestern Augenpaare sich entsetzt auf sie richteten, und die Schamröte stieg ihr brennend ins Gesicht. Mit mühsam zurückgehaltenen Tränen würgte sie den Rest ihrer Abendmahlzeit hinab und atmete wie erlöst auf, als die Tafel aufgehoben wurde.

Das arme Kind fühlte sich grenzenlos verlassen und unglücklich, als die Schwestern so fremd und teilnahmslos an ihr vorübergingen. Am schmerzlichsten war es aber für Meta, dass die, um derentwillen sie in diese neue Verlegenheit geraten war, ihre scheue Bewunderung kühl und vornehm übersah. Sie hatte auch nicht die geringste Notiz davon genommen.

„Die Liebe scheint man hier in diesen heiligen Hallen nicht zu kennen“, dachte Meta bitter, während sie gesenkten Hauptes den langen Korridor entlang schritt. Alle huschten sie rechts und links lautlos an ihr vorbei, keine wagte mit der eben Getadelten zu reden. Nur die kleine Alma, die als Letzte hintendrein kam, drückte ihr im Vorübergehen mitfühlend die Hand und flüsterte ihr tröstend zu: „Nicht so zu Herzen nehmen, wir sind eben alle noch keine Engel!“ Sie ahnte, dass das empfindsame junge Mädchen schon wieder eine neue Enttäuschung an der Probemeisterin erlebte, und suchte ihm deshalb mit dem Hinweis auf die eigene Unzulänglichkeit gutmütig darüber hinwegzuhelfen.

Meta hätte sie dafür gern um den Hals genommen und sich bei ihr ausgeweint. Aber das wäre eine neue Ungeheuerlichkeit gewesen, denn dabei wären ja die sauber geglätteten Falten ihrer weißen Haube zerdrückt worden. So sandte sie ihr nur einen wehmütigen Blick nach und schluckte ihren Kummer still in sich hinab.

Am Abend dieses verhängnisvollen Tages saß Meta ganz unglücklich hinter ihren weißen Bettgardinen und dachte über das Geschehene nach. Sie betrauerte es tief, dass sie an den Menschen, die sie wie Heilige verehrte, so zuschanden geworden war. Aber sie war auch heiß erschrocken über sich selbst. All die kleinen, peinlichen Vorgänge hatten ihr deutlich gezeigt, wie weit sie von dem hohen Ziele abgekommen war, das sie sich in ihrer ersten glühenden Begeisterung steckte. Sie hatte ja ganz vergessen, dass sie ein gottwohlgefälliges Leben führen wollte. Stattdessen war sie gereizt, empfindlich, sogar zornig auflehnend gewesen und hatte sich hochmütig der Arbeit geschämt, die sie vor Gottes Augen zu einer demütigen Jesusjüngerin machen sollte. Das musste sie wieder gutzumachen suchen. – Und so begab sie sich an diesem Abend mit dem festen Vorsatz zur Ruhe, alle Scharten wieder auszuwetzen und den anderen zu zeigen, dass sie wohl arbeiten könne und imstande sei, sich das verscherzte Vertrauen wieder zurückzuerwerben. Nun wollte sie erst recht eine Heilige werden, die womöglich die anderen überstrahlte und soviel gute Werke in Gottes Waagschale legte, dass sie tief hinabsinken musste. Ja, sie wollte tun, was nur irgend in ihren Kräften stand, um wieder mit Ehren vor Gott und Menschen bestehen zu können.

Mit einer wahren Todesverachtung stürzte sie sich von da ab in alle groben Arbeiten, die ihr zugewiesen wurden. Und in dem festen Willen, sie zu bemeistern, gingen sie ihr auch etwas leichter vonstatten. Sie machte nicht mehr so viele Fehler dabei und vermochte deshalb ihre Vorgesetzten besser zufriedenzustellen.

So söhnte sie sich wenigstens äußerlich mit dem beschwerlichen Tagewerk aus; aber innerlich war sie nicht recht froh dabei. Sie musste sich ehrlicherweise eingestehen, dass sie diese niedrigen Arbeiten doch eigentlich furchtbar ungern tat. Und sie konnte sich auch nicht denken, dass sie Gott damit zufriedenstellen sollte. Denn es waren doch eigentlich keine wirklich gute Werke, die sie tat. Deshalb hatte sie bei all ihrer strengen Pflichterfüllung auch nicht das Gefühl, dass sie dadurch Gottes Wohlgefallen erlangt habe.

Sie sehnte sich deshalb nach der Zeit, wo sie wirklich Barmherzigkeit an den Kranken üben konnte. So war sie herzlich froh, als die sechswöchentliche Vorprobe, in der sie die ganze Stufenleiter der groben Nebenarbeiten durchlief, glücklich überstanden war. Nun war der große, feierliche Akt gekommen, wo auch auf Metas junges Haupt die Probemütze gesetzt werden sollte. Doch der weihevolle Zauber, den sie anfangs um dieses heiß ersehnte Ereignis gewoben hatte, war längst dahin. Sie hatte zur Genüge kennengelernt, dass die Haube selber das Heiligsein nicht ausmacht. Das musste tiefer liegen, in den Gesinnungen und Taten der Schwester selbst.

Meta fasste es jetzt so auf, dass es ihr eigenes Ringen und Streben sein müsse, die weiße Haube mit Ehren zu tragen. Ihre Verantwortlichkeit unter derselben schien ihr noch größer zu sein als vordem. Und weil sie in dieser Stunde für sich selber fürchten lernte, was sie früher an anderen enttäuscht hatte, so schauerte sie innerlich zusammen, als die Probemeisterin ihr die weißen Mützenbänder fest unter dem Kinn zusammenband. Sie hörte die guten Ermahnungen nur halb, die ihr diese dabei auf den Lebensgang als Probeschwester mitgab. Denn einesteils hinderten sie die rauschenden Bänder am rechten Verstehen. Und dann war sie auch viel zu sehr von der Angst eingenommen, dass es ihr ebenso wie den anderen gehen könne, die in ihren Augen die weiße Haube entweiht hatten. So brachte ihr dieses bedeutungsvolles Abzeichen der angehenden Diakonisse kein erhebendes Freudengefühl, sondern nur die heiße Sorge ein, wie sie am besten imstande sei, es auch würdig zu tragen. Riesengroß stand nun die Aufgabe vor ihrer Seele, dass nicht die Haube sie, sondern umgekehrt, dass sie selbst die weiße Haube heiligen müsse. Als einzige Ermutigung zu diesem Beginnen leuchtete ihr der Segensspruch voran, den die Probemeisterin als Losung aus ihrer kleinen Ziehbibel für sie gezogen hatte: „Lasst uns Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten ohne Aufhören.“ Ja Gutes, unermüdlich Gutes wollte sie tun, um sich Gottes Vaterhuld zu verdienen und durch dieselbe aus ihren guten Werken gerecht gesprochen zu werden.

Meta war nun gleich nach ihrer Einkleidung als Probeschwester in einen Wirkungskreis gestellt worden, wo sie reichlich Gelegenheit fand, ihre guten Vorsätze in der Praxis des Lebens zu betätigen. Sie war auf die Kinderstation gekommen, wo sie unter der Leitung einer eingesegneten Diakonisse etwa zwanzig und oft sogar bis zu dreißig mehr oder minder schwerer Patienten zu besorgen hatte. Und es war gar nicht so leicht, mit all den kleinen Plagegeistern zurechtzukommen, die oft ungeduldig durcheinanderschrien und die junge Schwester von einem Bett zum andren jagten. Dabei galt es auch, sich möglichst rasch in die Anweisungen der leitenden Schwester wie in die vielen Verordnungen des Arztes zu finden, die von beiden meist in kurzem, bestimmtem Ton gegeben wurden, und sie allesamt getreu und pünktlich zu erfüllen. In den ersten Tagen schwirrte und summte es ihr nur so durch den Kopf von all den Befehlen, Wünschen und Hilferufen, von denen immer einer nötiger zu sein schien als der andere. Hände und Füße aber waren fortwährend in anhaltender Bewegung dabei.

Was es aber auch alles zu besorgen galt, ehe die Kinder alle der Reihe nach frisch umgebettet, gewaschen und gekämmt, gespeist und getränkt, sowie wieder von Neuem in ihre verschiedensten Verbände und Umschläge eingewickelt waren! Bei den gutmütig veranlagten Kinder ging es noch verhältnismäßig glatt ab. Aber bei verschiedenen bösartigen kleinen Kerlchen gab es erst einen heißen Kampf zu bestehen, ehe ihr Widerspruchsgeist gedämpft und das Strampeln und Schreien gegen die notwendigen Zwangsmaßregeln glücklich gebändigt war. Da ging es nicht anders, als dass manches energische Machtwort gesprochen werden musste. Aber Meta ertappte sich auch des Öfteren dabei, dass ihr manches rasche, ungeduldige Wort dazwischenfuhr und es ihr nicht immer möglich war, die Ruhe zu bewahren, die zu einer wohltuend beherrschenden Autorität über die Kinderherzen nötig war. Die junge Probeschwester hatte längst eingesehen, dass die weiße Haube sie nicht vor unbedachten Worten, verkehrten Handlungen oder rebellischen Gedanken schütze. Doch sie war jedes Mal sehr traurig über solch eine neue Entdeckung, die dem siegreichen Gelingen eines guten Vorsatzes Abbruch getan oder ihn zuweilen ganz vereitelt hatte.

Soviel Eifer sie auch daran wandte, alles recht und gut zu machen, und darin war sie ehrgeizig geworden, so fürsorglich sie sich auch um ihre kleinen Patienten bemühte, ja, sogar mehr tat, als von ihr gefordert wurde – niemals wollte abends die Tagesrechnung stimmen, die sie über ihre guten Werke hielt. Immer fehlte noch dies oder das zur Vollendung, ehe sie ihr Tagewerk als ein wohlgelungenes bezeichnen und vor Gott ausbreiten konnte. Viel öfter meinte sie es ganz vor ihm verstecken zu müssen, damit die hässlichen Flecken, die es entweihten, nicht zu gleicher Zeit mit ans Licht gezogen würden.

Und selbst wenn ein Tag ohne bewusste Verfehlung vorübergegangen war, konnte sie nicht zur Gewissheit darüber kommen, ob Gott auch wirklich damit zufrieden sei. Es schrumpfte dann alles so klein zusammen, was ihr erst als große Heldentat der Nächstenliebe erschienen war.

Was war es auch Sonderliches, wenn sie diesem oder jenem besonders hilfsbedürftigen Geschöpfchen eine außergewöhnliche Wohltat erwies? Sie hatte Kinder sehr lieb, und es war ihr daher mehr eine Freude als Mühe gewesen. Und eigentlich hatte sie es meist getan, um das freudige Aufleuchten der blassen Leidensgesichtchen zu sehen und in der dankbaren Anhänglichkeit der Kleinen zu schwelgen. Es war also im Grunde genommen Egoismus, was sie dem lieben Gott als gutes Werk präsentieren wollte. Ja, nicht einmal mit sich selbst zufrieden war sie in solchen stillen Abrechnungsstunden. Wie viel weniger konnte der heilige Gott es sein! Es war ein beständiges, verzweiflungsvolles Ringen mit ihrer Unvollkommenheit und dem heißen Verlangen nach der Gerechtigkeit aus den Werken, von denen der Jakobusbrief sprach. Wie oft hatte sie schon über den Spruch nachgegrübelt:

„So seht ihr nun, dass der Mensch durch die Werke gerecht wird, nicht durch den Glauben allein!“ Und wie heiß hatte sie sich bemüht, der göttlichen Weisung dieses Spruches im praktischen Leben treulich Folge zu leisten! Sie hatte zu ihrem streng anerzogenen Glauben die redliche Selbstbetätigung in guten Werken gefügt. Ach, und doch wollten die beiden christlichen Grundsätze, der Glaube und die guten Werke, die in diesem Bibelwort in so harmonischem Einklang standen, bei ihr selbst nicht zu einem befriedigenden Resultat kommen, trotzdem sie alles tat, was nur in ihren Kräften stand, um beide zu erfüllen. Wie machten es nur eigentlich die anderen Schwestern, die so gleichmäßig und sicher dahingingen und anscheinend gar nichts von den heißen Seelenkämpfen wussten, die ihr eigenes Innere in beständigem Aufruhr erhielten? Hatten sie schon überwunden? Ja, gewiss war es das, was den Eingesegneten diesen zufriedenen, ergebenen Gesichtsausdruck verlieh! Ob sie es wagte, die eine oder andere einmal darum zu befragen?

In dieser Absicht hatte Meta schon mehrmals eine schüchterne Annäherung an die Diakonisse versucht, unter deren Leitung sie nun schon einige Monate auf der Kinderstation arbeitete. Doch noch niemals hatte es bis jetzt klappen wollen, dass sich eine wirklich geeignete Gelegenheit bot, wo sie Schwester Adelheid um Auskunft über die Fragen bitten konnte, die ihr junges Herz so sehr beunruhigten. Schon ein paar Mal hatte sie zaghaft angesetzt, aber immer war eine rasche dienstliche Verordnung dazwischengetreten. Und dann war es Meta auch vorgekommen, als ob Schwester Adelheid, die sonst, wenn auch kurz und bestimmt, so doch stets ruhig und freundlich zu ihr sprach, eine merklich kühlere Reserve an den Tag legte, sobald ein Wort ihrerseits über das dienstliche Verhältnis hinausging oder gar vertraulich zu werden drohte.

Einmal aber, als nach der Morgenvisite des Arztes die Kinder alle wohlversorgt und wunschlos in ihren Betten lagen und infolgedessen ein Augenblick zum Aufatmen gekommen war, fasste sich die junge Probeschwester ein Herz und trat rasch in die Fensternische, wo Schwester Adelheid stand. Augenscheinlich auch einen Moment Ruhe suchend, schaute sie still in den großen, parkähnlichen Garten des Krankenhauses hinab. Sie wandte Meta fragend und erstaunt das Antlitz zu. Das junge Mädchen aber stammelte purpurglühend: „Ich wollte nicht aufdringlich sein. Es liegt mir nur eine so große, wichtige Frage auf dem Herzen und – und da wollte ich Schwester Adelheid gern in aller Bescheidenheit bitten, mir freundlich darin zurechtzuhelfen.“

„Nun, und?“, klang es halb ermunternd, aber doch ein wenig gemessen zurück.

„Liebe Schwester Adelheid, was muss man denn eigentlich alles tun, um in Gottes Augen gerecht zu sein und wohlgefällig vor ihm zu leben?“

„Törichtes Kind, welch eine Frage! Wer kann wissen, ob er schon hier gerecht und Gott angenehm ist! Ich meine, wir alle sind wohl auf die Armesündergnade angewiesen, die uns noch zuletzt im Sterbestündlein widerfahren soll, wenn wir gut und fromm gewesen sind.“

„Wenn wir nun aber nicht genügend fromm und gut zu leben vermögen, was geschieht dann mit uns?“, kam es angstvoll über Metas Lippen. Und dann fügte sie noch, wie nach einem Halt greifend, forschend hinzu: „Schwester Adelheid, wissen Sie es schon, dass ihnen dann diese Gnade zuteil wird?“

„Ich hoffe es!“, gab diese etwas verletzt zurück.

„Aber es sind wirklich recht müßige Fragen, die Sie da in Ihrem unerfahrenen Köpfchen herumdrehen. Ich dachte, wir hätten hier anderes zu tun, als solchen bloßen Theorien nachzusinnen, die in Ihres Vaters Studierstube gehören, aber nicht in ein Diakonissenhaus, wo es arbeiten heißt.“

„Verzeihen Sie!“, stammelte die junge Probeschwester verlegen, „ich meinte, Sie müssten Gott angenehm sein, weil Sie immer so gleichmäßig ruhig und freundlich waren, wie ich es auch gern sein möchte.“

Schwester Adelheid war wieder etwas ausgesöhnt durch die Anerkennung ihrer guten Eigenschaften und sagte, etwas milder gestimmt: „Nein, Kind, so hochmütig bin ich nicht, Anspruch auf Gottes Wohlgefallen zu erheben. Ich bin zufrieden, wenn es einmal von mir heißt: Sie hat getan, was sie konnte.“

Das gab Meta den Mut, noch einen letzten Anlauf zu wagen und bittend zu fragen: „O, dann sagen Sie mir wenigstens, was Ihnen diese Ruhe und Sicherheit im Auftreten gibt, die mir auch noch so sehr fehlt.“

„Selbstbeherrschung und das Bewusstsein, durch treue Pflichterfüllung den Ruf einer tüchtigen Diakonisse zu wahren“, entgegnete sie gelassen. „Das ist es, was wir brauchen, um uns hier in den gesteckten Grenzen einen guten Platz zu sichern und ihn würdig zu behaupten.“

Da wandte sich Meta tief enttäuscht von ihr ab. Waren das Schwester Adelheids ganze Schätze? Und sie hatte gedacht, dass sie mit Gott lebte! War denn niemand hier, der sie verstehen wollte? Denn ihre Sehnsucht, diese brennend große, Gottes Wohlgefallen zu besitzen, vermochte Schwester Adelheids nüchterne, irdische Lebensauffassung nicht auszulöschen. Sie musste Gott selber umfassen und sei es auch in jenem heißen Ringen wie Jakob einst in Pniel dort. Gleich ihm wollte sie mit ganzem Herzen sprechen: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“

In der darauffolgenden Nacht hatte die junge Probeschwester Wache bei einem sterbenskranken Kind. Man hatte die Kleine in das für solche Fälle vorgesehene Einzelzimmer neben dem großen Kindersaal gebettet, damit die anderen kleinen Patienten nicht von den etwaigen Todeskämpfen beunruhigt werden sollten und ihre toten Gefährten nicht fortschaffen zu sehen brauchten. Der Arzt hatte noch die letzten Anordnungen getroffen und dabei Schwester Meta angedeutet, dass sonst nichts mehr zu machen sei und sie darauf gefasst sein müsse, dass die Kleine ihr unter den Händen stürbe. Zu leiden würde sie kaum noch mehr etwas haben; es sei bereits jener schmerzlose Zustand kurz vor dem Ende eingetreten, der bei dieser Krankheit häufig vorkomme.

Meta hatte sich für die Nachtwache bei dem todkranken Kinde eingerichtet und saß still hinter der grünverschleierten Lampe, von der nur ein ganz matter Schimmer auf das davor geschützte Bettchen fiel. Die Kleine brauchte und wünschte auch nichts mehr. Sie lag mit jener engelsgleichen Geduld, die Meta immer an diesem Kinde bewundert hatte, matt und friedlich in den weißen Kissen, meist in einen leichten Halbschlummer versunken. Da blieb der jungen Probeschwester neben dem stillen Beobachten Zeit genug, ihren eigenen Gedanken nachzuhängen, die von der morgendlichen Unterredung her noch wie dunkle Fragezeichen sich in ihr Herz einhackten. Was waren das für Widersprüche in Schwester Adelheids Aussagen gewesen! Armesündergnade und doch nur Anrecht darauf, wenn man gut und fromm gelebt. Die strenge Verwahrung gegen Hochmut in Bezug auf Gottes Wohlgefallen und dabei doch dieser Stolz auf den guten Diakonissenruf. Dieses ihr immer wieder begegnende leere „Ich hoffe es“, das sich doch auch sicher hier auf keinen Fall das in der Taufe erlangte Wiedergeburtsrecht hätte abstreiten lassen. Dazu ihr eigenes machtloses Ringen, das keiner auf Erden verstand und das auch Gott im Himmel trotz aller guten Werke nicht zu bewegen schien. – Das alles legte sich wie ein schwerer Bann auf ihr Herz und presste ihr einen stillen Seufzer nach dem anderen aus.

Da hörte sie plötzlich mitten in ihre düsteren Grübeleien hinein das kleine Mädchen halblaut vor sich hinreden. Ganz leise stand sie auf und beugte sich forschend über das Bettchen, in dem die Kleine mit glänzend zur Zimmerdecke emporgerichteten Augen lag und eifrig das Mündchen bewegte.

„Mit wem sprichst du denn, Mariele? Es war doch gar niemand bei dir.“

„Doch! Der liebe Gott ist da, und ich musste ihm noch viel sagen wegen Vati und Mutti und den kleinen Geschwistern, dass er sie alle trösten soll, wenn ich in den Himmel gegangen bin.“

Die junge Schwester erschrak fast vor dieser starken Selbstverständlichkeit, mit der das kaum achtjährige Mädchen sprach. Es war ihr, als hätte in diesem Augenblick ein Hauch der Ewigkeit ihr Herz berührt und sie stände auch unmittelbar vor Gottes Angesicht, aber mit Zittern und Zagen. Und fast ängstlich drängte sich infolgedessen die Frage über ihre Lippen: „Darfst du denn auch so mit dem lieben Gott reden und weißt du denn schon, dass du in den Himmel kommst?“

„Freilich! Der liebe Gott ist doch mein Vater, und der Herr Jesus hat gesagt: „Lasst die Kindlein zu mir kommen, denn solcher ist das Reich Gottes!““ Dann streckte sie plötzlich verlangend die Ärmchen aus und rief: „O, wie schön!“ Gleich darauf sank sie wieder zurück und lachte die junge Schwester glückselig an. Ihr ganzes Gesichtchen leuchtete wie von überirdischem Glanz.

„Was freust du dich denn so, Mariele?“, forschte Meta begierig weiter, als müsse sie noch möglichst viel von diesem Kinde zu erfahren suchen. Da faltete die Kleine die weißen, durchsichtigen Händlein über die Brust und hob ganz zart und leise an zu singen:

„Weil ich Jesu Schäflein bin,

Freue ich mich immerhin

Über meinen guten Hirten,

Der mich wohl weiß zu bewirten,

Der mich liebt und der mich kennt,

Mich bei meinem Namen nennt.

Unter seinem sanften Stab

Geh ich ein und aus und hab

Unaussprechlich süße Weide,

Dass ich keinen Mangel leide.

Und sobald ich durstig bin,

Führt er mich zum Brunnquell hin.“

Gleich darauf schloss sie ermüdet die Augen und schlief wieder ein. Meta aber kehrte still an ihren Platz zurück und ließ von Neuem den Kopf schwer in die Hände sinken. Wie lange, ach, wie lange dürstete auch sie schon heiß und hatte doch den Weg zur rechten Quelle nicht gefunden! Und hier das kleine Mädchen, das noch nichts getan, das keine gute Werke aufzuweisen hatte, sie sprach so ohne Zweifel, dass Gott ihr Vater sei. Sie redete mit ihm, als müsse er ihr zu Gebote stehen, während sie zagend nur von fern stand. In dieser Stunde hätte sie das Kindlein heiß beneiden mögen um seine selige Gewissheit, dass es in den Himmel kam, sie aber irrte in der Finsternis umher, trotzdem sie sich in Gottes Dienst verzehrte. Es wurde ihr unendlich wehe und schwer ums Herz; sie seufzte tief und weinte bitterlich.

Schon drang die Morgendämmerung im blassen Zwielichtschein ins Krankenzimmer. Da tönte plötzlich von dem Bettchen her ganz unvermittelt noch einmal das feine, leise Stimmchen:

„Sollt‘ ich da nicht fröhlich sein,

Nun er mein, und ich bin sein?

Und nach diesen schönen Tagen

Werd‘ ich endlich heimgetragen

In des Hirten Arm und Schoß.

Amen, ja, mein Glück ist groß!“

Schwach und immer schwächer waren die süßen, zarten Töne geworden, die letzten Worte schwebten nur noch wie ein Hauch durchs Zimmer. Die fromme Kleine hatte sich selber in den ewigen Schlaf gesungen. Schwester Meta aber stand regungslos und lauschte mit angehaltenem Atem, um sie nicht zu stören. Doch als das Lied verklungen war, schlich sie leise auf den Zehenspitzen bis zum Bettchen hin – und da tat die kleine Erdenpilgerin darin gerade die letzten Atemzüge. Auch diese wurden immer leiser und ohne jeden Kampf, unmerklich fast, war sie für immer eingeschlafen.

Schwester Meta drückte ihr die Augen zu und heiße Tränen fielen dabei auf das kalte Gesichtchen ihres toten Lieblings herab. Dann zog sie die Fenstervorhänge zurück und ließ die eben aufgegangene Morgensonne voll durchs Zimmer fluten. Sie umwob das süße Gesichtchen der kleinen Schläferin mit goldenem Glorienschein. Viel schöner aber noch als dieser, leuchtete der Himmelsfrieden, der auf dem zarten Antlitz lag. Die junge Schwester konnte sich nicht satt daran sehen. Ihr war, als spräche das kleine Mädchen noch zu ihr im Tode: „Amen, ja, mein Glück ist groß!“

Das am dritten Tag stattfindende Begräbnis fiel gerade in die frühe Nachmittagsstunde, wo Schwester Meta ihren gewohnten Spaziergang hatte. Da ließ sie es sich nicht nehmen, ihrem entschlafenen Liebling das letzte Geleit zu geben. Vater und Mutter, schlichte, biedere Handwerksleute, und ein paar gutmütige Nachbarsfrauen folgten dem kleinen Sarg auf den Friedhof, wo er in der einfachsten Weise beigesetzt wurde. Meta blieb, nachdem die anderen gegangen waren, noch ein Weilchen bei den betrübten Eltern am offenen Grab stehen. Sie fühlte sich verpflichtet, ihnen ein Trostwort zu sagen, aber es schnürte ihr die Kehle zusammen, weil sie kein wirkliches wusste.

Stattdessen legte jetzt der schlichte Arbeitsmann seiner weinenden Frau die Hand auf die Schulter und sagte im derb gutmütigen Zuspruch:

„Musst nicht so arg flennen, Mutter! Sie ist gut aufgehoben, unser Mariele, und wir haben daheim noch ein ganzes Herdchen Kinder zu ernähren.“

„Das wohl! Aber’s war halt gar so ein herzlieb Ding, und so schön singen tat’s immer, wär auch noch mit satt geworden“, schluchzte die Frau. Doch dann trocknete sie rasch die Tränen und fügte wie beschämt hinzu: „Nein, will nicht murren, der Herr macht keine Fehler, muss sie doch noch lieber gehabt haben als wir – und wir dürfen sie ja wiedersehen.“

„Ja, bei Jesu“, sagte der Mann, und dann schauten sie beide noch eine Weile still ins Grab hinab.

Meta wagte sich nicht zu rühren. Der Leute Rede war ihr schwer aufs Herz gefallen. Wie siegessicher sprachen auch diese vom Wiedersehen! Das wirkte anders als die vielen üblichen „Auf Wiedersehen!“, die ringsum auf den Holz- und Marmorkreuzen eingegraben standen. Sie hatten so etwas Leeres, Trostloses, obwohl sie in leuchtender Goldschrift flammten. Doch was die schlichten Leute sagten, war keine banale Redensart, das hatte sie deutlich gespürt. Das war lebensvolle Wirklichkeit, die bis in die Ewigkeit hinüberragte. Sie aber, die fromme Schwester mit dem Heiligenschein, von der sie billig ein Trostwort erwarten konnten, stand dabei mit zerrissenem Herzen. Sie brachte weiter nichts hervor als schließlich beim Abschied das leidige „Gott tröste Sie!“, das man bei den meisten Begräbnissen in der größten Gedankenlosigkeit nachsprach.

Mit einem tiefen Zwiespalt in der Seele kehrte Meta wieder um und ging langsam in das Mutterhaus zurück. Dort wollte man bei all der strengen Frömmigkeit nichts wissen von direkten Beziehungen zu Gott, wie Meta sie so heiß ersehnte. Man stellte sie gerade wie daheim als bloße Theorien auf. Sie in die Praxis umzusetzen, war kühnes Unterfangen. Und doch musste es ein Leben vor Gottes Angesicht geben, von dem sie noch nichts wusste. Das kleine tote Mädchen und die in Gottes Willen ergebenen Eltern hatten ein Zipflein des dunkeln Schleiers gelüftet, hinter dem es noch für ihre suchende Seele wie ein großes Geheimnis lag. Wo aber sollte sie den Schlüssel dazu finden? Hatten diese einfachen Leute, die von morgens bis abends hart arbeiten mussten, um sich und ihre zahlreiche Familie zu ernähren, mehr getan, was Gott gefiel, als sie in ihrem rastlosen Streben? Sah Gott ihre grobe Tagesarbeit als gute Werke an, da sie doch sonst unmöglich Zeit finden konnten, solche zu verrichten? Und das kleine Mariele? Was hatte ihr das Recht gegeben, sich so wohl und geborgen in Gottes Nähe zu fühlen, vor der sie selber zitterte?

„Amen, ja, mein Glück ist groß!“ – so klang es ihr jetzt beständig durch die Seele, als sie wieder mitten in ihrer gewohnten Arbeit stand. Glücklich sein in Gott – fürwahr, das musste ein noch viel herrlicheres Ziel sein, als ihm bloß zu genügen durch strenge Pflichterfüllung. Sie aber war von beiden noch so weit, unüberbrückbar weit entfernt. 

Einige Wochen nach diesem erschütternden Gefühlssturm, der in Metas junger Seele neben der alten, verzehrenden Sehnsucht nach der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, noch ein neues, heißes Verlangen nach Glück und Frieden weckte, hatte sie eine kleine Reise zu machen. Sie musste ein dreijähriges Bübchen, das als genesen entlassen war, wieder nach seinem Heimatort bringen, der ungefähr zwei Bahnstunden entfernt lag. Die Eltern waren gerade verhindert gewesen, ihn selbst zu holen, und hatten deshalb mit der Bitte, dass eine Schwester ihn heimbringen möchte, das Reisegeld geschickt.

Nun saß Meta mit dem kleinen Kerl im Bahnwagen und zeigte ihm die draußen rasch vorüberfliegende Landschaft. Dabei fragte das muntere Bübchen nach lebhafter Kinderart alles Mögliche und Unmögliche durcheinander, bis es schließlich, vom vielen Plaudern müde, das Köpfchen schläfrig gegen ihre Schulter sinken ließ. Da machte ihm die Schwester ein bequemes Lager in der Wagenecke zurecht, auf dem er bald fest und tief eingeschlafen war. Sie selber saß gedankenvoll dabei und ließ all die Bilder der letzten Vergangenheit an ihrem Geiste vorüberziehen. Dabei entschlüpfte ihr mancher halblaute Seufzer, den sie sich hier gestatten konnte, da sie die einzige Passagierin im Wagen war.

Doch auf der nächsten Station wurde plötzlich die Wagentür geöffnet und in ihrem Rahmen tauchte eine weiße Haube auf. Zu gleicher Zeit ertönte eine frische, fröhliche Stimme: „Ei, grüß Gott, das ist ja herrlich, dass ich eine liebe Kollegin hier treffe!“ Sie reichte Meta herzlich die Hand, als seien sie schon längst liebe, alte  Bekannte, und brachte dann gewandt ihr Reisegepäck in dem Netz über ihrem Sitz unter. Währenddessen schlug der Schaffner die Tür zu und der Zug setzte sich wieder langsam in Bewegung. Meta beobachtete sie dabei erstaunt. Was hatte diese Schwester für ein ungezwungenes Wesen, obwohl – ja, obwohl sie der Haube nach eine Eingesegnete war, die bei ihr im Mutterhaus alle so feierlich und gemessen einherschritten! Ob sie bei der herzlichen Begrüßung wohl gar nicht merkte, dass sie nur eine Probeschwester vor sich hatte? Wenn auch der fremden Schwester Tracht nur ein wenig von ihrer eigenen abwich, so hatte man doch in diesen Kreisen einen sehr guten Kennerblick für Rangunterschiede. Nun, er würde sich wohl noch geltend machen. Doch nichts von alledem! Sie setzte sich Meta gerade gegenüber und sagte in derselben vertraulichen Weise: „Ich heiße Schwester Gabriele, komme von N. und reise nach D., und wie ist Ihr Woher und Wohin?“

Meta stellte sich vor und nannte ebenfalls Zweck und Ziel ihrer Reise. „Das trifft sich ja prächtig, da haben wir beinahe eine ganze Stunde gemeinsame Fahrt. Die wollen wir aber tüchtig ausnützen und uns gegenseitig etwas von unseren Berufsinteressen erzählen, denn das ist doch uns beiden das Liebste, gelt, Schwester Meta?“

Bei dieser herzlich entgegenkommenden Art war das Gespräch bald im Fluss. Und Meta schien es sehr angelegen zu sein, die fremde Schwester unbemerkt ein wenig auszuforschen, wie es daheim in ihrem Mutterhaus zugehe. Denn es kam ihr verwunderlich vor, wie solch ein frohsinniges Wesen aus so eng gesteckten Grenzen herauszuwachsen vermöge, wie sie dieselben nur kennengelernte. An Schwester Gabriele dagegen war kein Zwang zu spüren. Sie schien freiere Bewegung gewöhnt zu sein. Meta hatte bei ihr nicht einmal das Empfinden, dass sie einen Heiligenschein um sich wob, wie manche der Eingesegneten aus ihrem Lager es so gut verstanden. Und doch strahlte ihr bei all der natürlichen Frische etwas so Reines entgegen. Aus Schwester Gabrieles Augen brach solch ein wundersames Leuchten, ihr Gesicht strahlte förmlich vor Glück und aus ihrem ganzen Wesen sprach eine wohltuend warme Liebe, die unbewusst anziehend wirkte. Das Merkwürdigste aber schien Meta zu sein, dass trotz aller Fröhlichkeit ein stillseliger Friedenshauch über der ganzen Erscheinung ausgebreitet lag, der aber keineswegs im Widerspruch zu den anderen Eigenschaften stand, sondern sie harmonisch zusammenschmolz.

Meta fühlte sich wunderbar angezogen von Schwester Gabrieles geist- und lebenssprühender Erscheinung. Es kam ihr vor, als berge jene eine Kraftquelle in sich, die schier unerschöpflich sei und über das natürliche Menschenmaß hinausging. Unwillkürlich ging bei ihrem Anblick Meta jene Bibelstelle durch den Sinn, die sie noch nie verstanden hatte: „Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von des Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen.“ So, ja, gerade so wie die Personifizierung dieser reichen Verheißung sah Schwester Gabriele aus. Es war Meta daher viel mehr darum zu tun, recht viel von deren Erfahrungsschätzen zu sammeln, als selber zu erzählen. Gabriele willfahrtete freundlich ihrem Wunsche und erzählte ihr, wie der Herr sie selbst in seinen Dienst gerufen, wie er ihr so große und unverdiente Gnade erwiesen und sie zubereitet und ausgerüstet habe, ihm mit voller Hingabe an den Armen und Kranken zu dienen. Und wie unaussprechlich glücklich sie in Jesu Nachfolge wurde, wie sehr sie ihren schönen Beruf liebe und wie jeder Dienst darin für den Meister ihr Seligkeit sei.

Meta hatte ihr atemlos zugehört. Es war, als ob die Schwester eine fremde Sprache redete, die aber einen wunderbaren Wohllaut hatte, der mit leisem Lockruf bis in die Tiefen ihrer Seele hinabdrang. Wie war das alles so ganz anders bei ihr gewesen, und sie war doch auch aus demselben Grunde Schwester geworden, um Gott zu dienen! Ach, und welch große Enttäuschungen hatte sie schon erlebt, anstatt glücklich zu sein! Ob Schwester Gabriele es wohl gleich von Anfang an gewesen war? Sie fasste sich ein Herz und fragte zaghaft: „Taten Sie nicht am Anfang die groben Arbeiten auch furchtbar ungern, die doch eigentlich eine Zumutung für gebildete junge Mädchen sind?“

„O, für den Meister ist jeder Dienst selig!“, entgegnete Gabriele mit glückstrahlendem Angesicht. „Wenn wir nur seinen Auftrag erfüllen – in welcher Weise, ist ganz gleich. Er selber hat auch seinen Jünger die Füße gewaschen.“

„Aber die strengen Fesseln und diese starre Zwangsordnung im Mutterhause, haben die Sie nie gedrückt?“

„Nun, Ordnung muss sein in solcher großen Anstalt, das ist wahr, und es ist recht und billig, dass jeder sich ihr willig füge, zum Wohl des Ganzen. Aber von lästigem Zwang haben wir bei uns, Gott sei Dank, nichts gespürt. Wohl geht alles seinen geregelten Gang in Ordnung und Pünktlichkeit. Unsere Oberschwester führt ein weises Regiment, aber sie hat auch ein Herz voll mütterlicher Liebe für die Schwestern von der ältesten bis zur jüngsten hinab. Jede darf mit ihrem Anliegen zu ihr kommen und einer freundlichen Teilnahme und hilfreichen Beistandes sicher sein. Untereinander aber sind wir wie wirkliche Schwestern, die alle zusammen Jesu heilige Liebesglut verbindet. Und eins mit ihm geworden um den Groschen, dienen wir ihm alle gern und freudig mit den Gaben, die er jeder unter uns verliehen hat. Wir sind neidlos ob der anderen höheren Aufträge und freuen uns, wenn wir eine besonders begabte Schwester gefischt haben, die dann Gemeingut ist, an der wir alle unseren Anteil haben wollen. Es geht immer wie in einem Bienenstock zu, emsig und geschäftig fliegt es aus und ein. Doch alle sind wir dabei froh und glücklich, dass wir dienen dürfen. Denn Jesus selbst ist unser Hausvater, der uns seine Aufträge erteilt. Und er ist es wert, dass man ihn ehrt und sich in seinem Dienst verzehrt als sein erkauftes Eigentum.“

„Sie scheinen in Ihrem Mutterhause lauter Engel zu sein“, warf Meta mit einem halben Seufzer dazwischen.

„Keineswegs! Wir sind im Gegenteil Menschenkinder, die alle noch ihre Fehler und Mängel haben, leider. – Aber wir sind sein und bemühen uns, ihm, unserem Herzenskönig, immer ähnlicher zu werden.“

„Und da macht man keinen Unterschied zwischen den Großen und den Kleinen? Ich meine, da dürfen die Probeschwestern auch schon ein Anrecht darauf erheben, die bei uns doch gar nicht wagen würden, an die Grenze der Heiligkeit der Eingesegneten zu streifen.“

„Aber Kindchen, welch eine Auffassung! Der Herr Jesus ist doch für alle da! Da gibt es doch kein Privilegium für äußere Formen. Die Sache muss im Herzen sitzen. Wir alle dürfen Jesu ähnlich werden.“

„Sind sie denn da eine wie die andere – das heißt, gleichen sie in der Veranlagung dazu alle Ihnen?“

„Im Verlangen danach, ja, da sind wir so ziemlich eins, nach außen hin aber sind wir alle verschieden. Da ist die Eine still und ernst, die Andere fest und bestimmt, die Dritte sanft und zart, die Vierte gar schüchtern, die Fünfte wieder mutig, die Sechste frisch und fröhlich und die Siebte sogar lebhaft übersprudelnd wie ...“ – Gabriele sah Meta lachend an, und diese nickte: „Wie Sie.“

„Sie sehen also, dass es am Temperament und Charakter durchaus nicht liegt, obwohl wir natürlich auch das heiligen müssen. Doch der Herr hebt es nicht auf, sondern offenbart seine Kraft und Herrlichkeit gerade durch die verschiedensten Werkzeuge. Hatte er doch schon unter seinen Jüngern einen feurigen Petrus und einen liebevollen Johannes, einen Donnersohn Jakobus und einen vorsichtig prüfenden Nathanael, und wie sie alle heißen. Und gerade in ihrer Mannigfaltigkeit haben sie uns ein herrliches Vorbild in der treuen Nachfolge des Meisters gegeben. So sollte es auch im Diakonissenberuf sein. Der Herr kann jede Charakterveranlagung und jede Kraft gebrauchen, die sich ihm willig zur Verfügung stellt. Wenn wir nur von der einen großen Liebe beseelt sind, ihm wirklich zu dienen. Doch auch diese muss uns erst geschenkt werden. Aber wenn wir es lernen, aus seiner Liebesfülle zu schöpfen, dann geht es von Kraft zu Kraft. Und der Herr kann aus uns etwas machen zum Lobe seiner herrlichen Gnade, sodass wir Kinder des Wohlgefallens werden vor seinem Vater im Himmel.“

Meta war bei der fremden Schwester fröhlichen Berichten sehr ernst geworden. Sie fühlte, dass ihr dabei ein großer Mangel, eine öde Leere aus dem eigenen Herzen entgegengähnte. – Und, ohne dass sie es wollte, rollte ihr eine heiße Träne die Wangen hinab.

Da fasste Schwester Gabriele im warmen Mitgefühl ihre Hand und bat sie schlicht und herzlich, ihr die Ursache ihres Kummers anzuvertrauen. Und Meta klagte ihr willig ihre große Not, wie sie sich in schweren Seelenkämpfen fast aufgerieben und es ihr dennoch nicht gelingen wolle, sich Gottes Wohlgefallen zu erwerben, obwohl sie doch tat, was nur irgend in ihren schwachen Kräften stand.

Schwester Gabriele hatte mit ihrem klaren Blick ihr längst auf den Grund der Seele gesehen; sie wusste, wo es ihr fehlte. „Arme, kleine Schwester! Sie sind noch nicht in des Meisters Hand. Sie wollen selbst noch zu viel für ihn tun, statt durch ihn, und schaffen sich dabei müde in eigener Kraft!“

In diesem Augenblick pfiff der Zug.

„O, das ist ja schon meine Station, da muss ich aber eilen!“, rief Gabriele fast erschrocken und raffte schnell ihre Sachen zusammen. Meta durchzuckte es in diesem Augenblick plötzlich wie ein Strahl der Erkenntnis. Es brannte ihr auf der Seele, die fremde Schwester noch zu fragen, ob sie vielleicht wiedergeboren sei, doch da neigte diese sich schon Abschied nehmend über sie.

Meta fühlte einen warmen Kuss auf ihrer Wange. „Gebe Gott, dass wir uns droben wiedersehen, wenn es hier unten nicht mehr sein Wille ist!“, klang es an ihrem Ohr vorüber. Dann wurde die Tür aufgerissen, und im nächsten Augenblick war die fröhliche Schwester in dem Menschengewühl des Bahnsteigs untergetaucht. Der Zug brauste weiter. Noch einmal flatterten zwei weiße Taschentücher einander grüßend zu dann war alles dahingeschwunden wie ein schönes Traumbild.

Auf Meta hatte die Begegnung mit dieser plötzlich zu ihr „hereingeschneiten“ Schwester Gabriele einen tiefen Eindruck gemacht. Sie hatte nie geglaubt, dass es eine solche Schwester geben könne. Wie gar verschieden war sie von den eingesegneten Diakonissen in ihrem eigenen Mutterhause! Gerade umgekehrt als wie bei diesen war es Meta im Verkehr mit ihr ergangen. Schwester Gabriele hatte eigentlich nichts Engelhaftes, sondern etwas rein Menschliches an sich. Nicht einmal an den „Heiligenschein“ hatte sie erinnert trotz der weißen Haube. Sie hatte ihr so natürlich auf dem nussbraunen Haar gesessen, als gehöre sie eben einfach zu ihr – als Uniform, die sie ebenso gut im Notfall auch entbehren konnte. Der Zauber hatte tiefer gelegen und hatte Meta je länger, desto mehr angezogen. In ihrem ganzen Wesen war ein Stück von dem verkörpert, was Meta mit so tiefer, heißer Sehnsucht suchte.

So gab es also doch Menschen, auf denen Gottes Wohlgefallen ruhte, und das war ein solcher. Sie selber hatte von Kindern des Wohlgefallens gesprochen, ohne dass es hochmütig klang. Ja, es hatte in der Tat ein Stück Jesusähnlichkeit aus ihr geleuchtet, ohne dass sie es vielleicht wusste. Ob sie auch die Gerechtigkeit besaß, die vor Gott gilt? Wie gern hätte Meta sie nach diesem und noch vielen anderen Punkten gefragt! Doch ach, da wurde sie ihr so schnell wieder entrissen! Sie wusste nun wohl, dass man wirklich so sein konnte, wie sie es brennend wünschte, aber sie wusste nicht, wie man es werden konnte.

Während sich so die Gedanken in Metas Seele jagten, hastete auch der Zug mit nimmermüdem Räderrollen vorwärts und trug sie weiter dem eigenen Reiseziele zu. Es wurde Zeit, dass sie den kleinen Schläfer weckte und ihn zum Aussteigen fertigmachte. Bald darauf waren sie am Bestimmungsort angelangt, wo Meta sich, wie aus einem Traum erwachend, erst wieder auf ihre Pflicht besinnen musste. Sie hob das Bübchen aus dem Wagen und nahm es fest an die Hand. Doch kaum hatten sie sicheren Boden unter den Füßen, da hatte sich der Kleine schon mit einem Jubelschrei von ihr losgerissen und lag im nächsten Augenblick seiner Mutter in den Armen, die ihn mit einem Aufschluchzen lang entbehrter Wonne an sich presste. Dann reichte sie auch der herantretenden Schwester freundlich die Hand und sprach auf dem Heimweg lebhaft auf sie ein. Meta konnte kaum auf alle Fragen Antwort geben, die sich förmlich überstürzten, um alles genau zu erkunden, wie die Krankheit des Kindes verlaufen war. Auch zu Hause dauerte der Jubel im Verein mit dem glücklichen Vater noch fort. Dabei taten die guten Leute alles, was sie konnten, um die „barmherzige Schwester“ gastlich zu bewirten und sie in den Stunden bis zur Rückfahrt ihres Zuges auch ordentlich zu unterhalten, wobei natürlich das wieder gesund gewordene Karlchen das Hauptthema bildete. Aber Meta war diesmal doch recht froh, als sie den Eltern ihr Glück über die Genesung ihres Bübchens, das sie ihnen wieder gesund pflegte, allein überlassen und wieder abreisen konnte.

Bald nach ihrer Rückkehr wurde die junge Probeschwester auf die Frauenstation versetzt. Und da kam sie unter die direkte Leitung jener eingesegneten Diakonisse, der sie um ihres sanftmütigen Aussehens willen eine heimliche Verehrung zollte. Auf Metas tiefempfängliches Gemüt machte diese Entdeckung einen ganz wunderbaren Eindruck. Sie war im höchsten Grade gespannt, wie ihr bewundertes Ideal sich zu ihr stellen würde.

Denn die zarte, sanfte Schwester Elfriede musste es doch empfunden haben, dass die junge Novize damals ganz hingerissen war in begeisterungsvoller Schwärmerei für sie. Ob sie nicht auch zu ahnen vermochte, welch heißes Weh ihr weiches Herz durchzuckte, als man ihr diese ersten, scheuen Huldigungsblüten so rau knickte? Oder ob sie ihr wohl gar zürnte, dass damals um ihretwillen schließlich auch jener eine peinliche Szene bereitet worden war?

Doch Schwester Elfriede schien von alledem nichts mehr zu wissen. Sie übersah Metas verlegenes Wesen bei der ersten Begrüßung als Mitarbeiterin auf der Frauenstation ebenso geflissentlich, wie damals ihren schüchternen Annäherungsversuch. Sie wies ihr einfach in ihrer sanften, ruhigen Art die ihr zukommende Arbeit an. Ihr Regiment war auch in der Folgezeit kein strenges. Sie ordnete alles in stiller Weise an, und Meta setzte ihren ganzen Stolz darein, diesen sanften Befehlen aufs Pünktlichste nachzukommen. Sie glühte förmlich vor Eifer, Schwester Elfriede alles nach Wunsch und Willen zu tun, wobei sie jener mitunter ein flüchtiges Lächeln entlockte. Dabei war auch ein neuer Hoffnungsstrahl in ihr aufgeglommen, dass die so still und sanft waltende Diakonisse doch noch ihr erstes Urteil über sie rechtfertigen werde und sich als eine wirklich Heilige, die mit Gott lebte, erweisen würde. Wahrscheinlich ließ das nur ihre zarte Zurückhaltung nicht so leicht erraten, wie sie im Innern zu Gott stand. Desto mehr aber bemühte sich Meta, ihr dieses geheimnisvolle Atemwehen der Seele abzulauschen. Sie dachte dabei an den Bibelspruch: „Euer Leben ist verborgen mit Christus in Gott.“

O, wie froh wäre sie gewesen, den keusch verhüllenden Schleier heben zu dürfen und von diesem ewigen Lebenshauch zur eigenen Stärkung auch mitberührt zu werden! Doch so fleißig auch Meta im Stillen Schwester Elfriede beobachtete, nie trat auch nur ein Funke des göttlichen Lebens bei ihr zutage, das damals aus der fremden Schwester Gabriele Herzen gleich bei der ersten Begegnung so überfließend strömte. Ach, und eines Tages musste sie auch an ihr die schmerzliche Entdeckung machen, dass sie hinter der sanften Außenseite auch gar nichts Inneres verbarg, was Metas heiße Sehnsucht stillen konnte. Auch bei dieser von ihr für besonders heilig gehaltenen Diakonisse begegnete sie einem maßlosen Erstaunen bei der Berührung tieferer göttlicher Fragen, die vor eine sofortige Entscheidung stellten.

Sie wies ganz erschrocken auf die von altersher überlieferte christliche Regel und Richtschnur des Diakonissenlebens im Mutterhause hin, die doch wahrlich an Frömmigkeit nichts zu wünschen übrig ließen. Ja, darin hatte sie allerdings recht. Es konnte gar nicht frömmer zugehen, als wie es in der Tat geschah. Die Andachten, gottesdienstlichen Übungen, Lehr- und Erbauungsstunden und was man sonst noch alles machte, waren so gewissenhaft und regelrecht auf die Schwestern verteilt und forderten von diesen strenge Einhaltung und willige Unterwerfung, dass man sich nach außen hin lauter Muster von Frömmigkeit erzog. Auch mahnte die ganze Umgebung beständig an religiöse Gesinnung.

Im stilvoll eingerichteten Empfangszimmer des Mutterhauses stand in der besonders dazu hergerichteten Erkerabteilung eine wundervolle, mächtige Christusstatue von Chorwaldsen auf hoher Säule aus schwarzen Ebenholz. Ringsum waren große Palmen und andere edle Blattpflanzen gruppiert, von deren sattem Grün sich das matte Elfenbeinweiß der segnenden Heilandsgestalt wirkungsvoll abhob und die Blicke jedes Eintretenden mit fast zwingender Gewalt zu rückhaltloser Bewunderung aufforderte. Auch sonst schaute überall in prachtvollen bildlichen Darstellungen die Lebensgeschichte des Erlösers von den Wänden herab. Groß gemalte Bibelsprüche brachten die Hauptwahrheiten der christlichen Lehre in trefflichen Kernworten zum Ausdruck. Kurz, es war für alles Sorge getragen, was das Gemüt zu Gott erheben konnte. Nur eins schien in diesen wunderschönen Formen zu fehlen: Die geist- und lebenssprühende Gotteskraft, die mit heiligen Liebesflammen durchweht ist und neue Menschen schafft. Der lebendige, selig machende Glaube, der sich an den persönlichen Christus selber als die Quelle seines ewigen Seelenheils hält und mit diesem Jesus siegend über die brandenden Wogen des Lebensmeeres schreitet, bis hin zum seligen Hafen der Ewigkeit. Aber den Lebensfürsten in seiner Siegesmacht schienen sie nicht zu kennen.

Meta aber hatte aus dieser letzten bitteren Erfahrung das eine gelernt, dass selbst solch ein engelgleiches Wesen, wie Schwester Elfriede es besaß  – und sie war wirklich sanft und gut – nicht ausreichte, um vor Gottes Augen Gnade zu finden und sein verheißenes Himmelreich zu erwerben. Ihre Sanftmut war einfach natürliche Charakterveranlagung, die mit dem Lebenselement aus Gott in keiner Beziehung stand. So nützte es also auch nichts, die Ähnlichkeit dieses sanften Madonnenbildes zu erreichen, was Meta eine Zeit lang mit glühender Begeisterung erstrebt hatte.

Die arme junge Probeschwester war dadurch in neue schwere Seelenkämpfe gestürzt worden. O, was sollte sie denn eigentlich noch tun, um dem so heiß ersehnten Ziel wirklich nahezukommen? Sie war schon ganz schwermütig geworden vor lauter Grübeln, Zweifeln, Ringen und Sorgen. Nach außen hin aber stürzte sie sich mit einem wahrhaft verzweiflungsvollen Eifer in die Arbeit, um die laut durcheinanderschreienden Gewissensstimmen zu betäuben. Sie bürdete sich Lasten auf, unter denen ihre nur zarten Körperkräfte fast zusammenbrechen drohten. Und doch gönnte sie sich keine Ruhe, um ja alles getan zu haben, was sie nur irgend vermochte, um dereinst als treuer Haushalter des ihr anvertrauten Amtes erfunden zu werden. Und doch brachte ihr das ganze rastlose Jagen und Rennen keinen Frieden. Sie vermochte sich jetzt oft nur noch mit großer Mühe aufrecht zu erhalten. Aber sie wollte es sich nicht anmerken lassen, weil gerade in dieser Zeit fortwährend neue Kranke eingeliefert wurden und auch die übrigen Schwestern alle Hände voll zu tun hatten, um fertig zu werden. Da hätte eine ausgeschaltete Kraft jetzt doppelt gefehlt. Deshalb sagte Meta nichts und schleppte sich mit der größten Anstrengung von einem Tag zum anderen hin. Sie hätte jetzt manchmal die Kranken beneiden mögen, die so ruhig in ihren Betten liegen konnten und von ihr gepflegt wurden. Während dessen schmerzte ihr selbst der Rücken so und schmerzhafte Stiche fuhren ihr durch die Schultern, wenn sie nur einen einigermaßen schweren Handgriff tat.

In dieser Zeit lag auch eine todkranke junge Frau in ihrem Saal, die unausgesetzt der sorgsamsten Pflege bedurfte. Sie war an einem innerlichen Leiden operiert worden. Und die Folgen waren sehr bedenklich, sodass sie beständig zwischen Leben und Tod schwebte. Es musste jede Nacht bei ihr gewacht werden, worin die Schwestern sich der Reihe nach ablösten. Heute war Meta wieder dran. Die junge Probeschwester hatte schon manche schwere Stunde mit dieser Kranken durchgemacht, die beständig darüber klagte, warum der liebe Gott gerade sie in eine so schreckliche Krankheit habe fallen lassen. Sie hätte es doch wirklich nicht verdient, dass er solche schwere Trübsal über sie schickte. Denn sie sei immer brav und fromm gewesen, habe die Ihrigen ehrlich mit ihrer Hände Arbeit ernährt und dabei immer noch Zeit gefunden, alle vierzehn Tage in die Kirche zu gehen.

Ihr Mann schien kein rechter Arbeiter zu sein, der zudem das Wenige, was er verdiente, meist für sich selbst verbrauchte. Sie aber war immer die Gute gewesen, die die ganze Last der Ernährungssorge für die Kinder auf ihren schwachen Schultern trug. Und dabei hätte sie auch die Kinder noch allein erzogen, denn der Vater habe sich ja nicht darum gekümmert. Es sei immer ihr Bestreben gewesen, auch redliche Menschen aus ihnen zu machen, und sie hätte sie sogar beten gelehrt. Es fehlte also, wie es schien, an gar nichts mehr. Und das rechnete sie jetzt alles dem lieben Gott vor und konnte es durchaus nicht einsehen, wie er da so unbarmherzig sie strafen könne. Nein, das hätte sie ganz gewiss nicht verdient, dass er sie dafür so ins Elend geraten ließ.

Wie klang diese selbstgerechte Sprache so ganz anders als die heimlichen Laute der Seelenangst, die Meta im Verborgenen zu ihrem Gott stammelte! Aber im Grunde genommen war die eine so weit wie die andere von dem Ziel entfernt, das Reich Gottes einzunehmen. Nun waren sie beide in einem Raum zusammengeschlossen in der Stille der Nacht, die etwas Schauerliches hatte durch das aufgeregte Wesen der todkranken Frau. Sie erhob in abgerissenen Sätzen fortwährend neue murrende Anklagen wider Gott, die zuletzt sogar in leise Verwünschungen übergingen. Meta wurde es angst und bange in ihrer Gegenwart. Sie hatte das dunkle Ahnungsgefühl, dass hier eine Seele mit Riesenschritten der Ewigkeit entgegenging, zu deren Pforten sie trotz ihrer selbst gerühmten Frömmigkeit noch keinen Schlüssel in den Händen hatte.

Sie aber konnte ihr denselben auch nicht geben. Sie tappte ja selbst noch im Finstern umher und war daher nicht imstande, jemand den rechten Weg zum Lichte zu zeigen. O, wie fiel ihr dieser Mangel jetzt plötzlich so schwer aufs Herz, als sie hier eine verirrte Seele verzweiflungsvoll mit dem Tode ringen sah, ohne dass sie ihr zu helfen vermochte! Noch nie war es Meta mit so erschreckender Klarheit zum Bewusstsein gekommen, dass der Tod die letzte, endgültige Entscheidung fällt über das Fortleben einer Seele in unaussprechlicher Seligkeit oder in nie endender Nacht und ewigem Grauen. Es war doch furchtbar ernst, wenn jemand sterben musste, ohne dass er wusste, wo er hinging. Die angstverzerrten Mienen dieser Frau redeten eine deutliche Sprache davon. Ihr Mund war jedoch schon eine ganze Weile geschlossen geblieben, die lauten Anklagen wider Gott waren verstummt. Sie schien keine mehr zu wagen vor dem flammenden Richterauge, das wohl jetzt tief in ihre Seele hinabtauchen musste, denn man sah es ihr an, dass ein furchtbarer Kampf ihr Inneres durchtobte.

Meta hatte bei ihrem Anblick den beängstigenden Eindruck, dass eine letzte göttliche Gerichtsstunde über sie hereingebrochen war, vor der keine leeren Ausflüchte mehr etwas galten. Das Entsetzen malte sich immer tiefer auf den abgezehrten Zügen der Kranken, die schwer röchelnd in den Kissen lag. Doch plötzlich fuhr sie mit einem jähen Ruck in die Höhe und umklammerte mit eisernem Griff Metas beide Handgelenke, während es in verzweiflungsvoller Angst von ihren Lippen kam: „Schwester Meta, wenn ich jetzt sterben muss, kann ich da noch selig werden?“

Meta machte erschrocken ihre Hände frei und drückte die Kranke mit sanfter Gewalt wieder in die Kissen zurück. „Bitte, regen Sie sich nicht auf, das ist jetzt ganz gefährlich für Sie!“, suchte sie die Kranke zu beruhigen. Aber sie fühlte selbst, dass dieser allgemein bräuchliche, pflichtschuldige Krankentrost leer und trostlos klang, und die Sterbende war damit auch nicht zufrieden. Sie hielt sich von Neuem in heißer Angst an Meta fest und stieß heiser heraus: „Beantworten Sie meine Frage, ob ich selig werde!“

Es war schrecklich, so nahe in die unheimlich flackernden Augen sehen zu müssen, vor denen Meta sich förmlich fürchtete. Doch sie raffte alle Selbstbeherrschung zusammen und entgegnete möglichst ruhig: „Sie haben mir ja immer erzählt, wie gut und fromm Sie stets gewesen seien. Da dürfen Sie doch vielleicht noch hoffen, aus Gnaden selig zu werden!“

„Nein, das ist nicht genug, man muss es wissen, sagt meine Nachbarin“, flüsterte sie schaudernd. Dann brach sie in die herzbrechende Klage aus: „Ach, hätte ich doch auf sie gehört, als sie so oftmals zu mir kam und mich bat, dass ich mich auch bekehren sollte! Doch ich habe sie verlacht, weil ich es nicht für nötig hielt. Da habe ich meine Gnadenzeit verscherzt und nun – nun ist es zu spät für mich!“ Sie zog ihre treue Pflegerin noch tiefer zu sich herab und flehte in der letzten verzweiflungsvollen Seelenangst mit schon halberstickter Stimme: „O gehen Sie nicht mehr von mir fort! Ach, bleiben Sie doch bei mir, ich fürchte mich so entsetzlich vor dem Tode!“

Metas Herz schnürte sich in heißem Mitleid zusammen. Zugleich aber fühlte sie auch die Grenzen menschlicher Ohnmacht, die der Tod zwischen dahinscheidenden und überlebenden Seelen setzt. Da konnte keiner dem anderen helfen sterben. Ja nicht einmal einen sicheren Hinweis zum Anklammern an das ewige Heil vermochte sie der Ärmsten als letztes Segensgeleit mitzugeben, denn sie hatte ja selbst keine gewisse Hoffnung des ewigen Lebens. Ein tiefes Grauen vor dem Tode schlich auch durch ihre eigene Seele, während sie mit Aufbietung aller Kräfte die schon langsam erkaltenden Arme der Sterbenden von sich löste, die wie eiserne Fesseln ihren Hals umklammert hielten. Nun lag sie vor ihr in den letzten Zügen, ein Bild trostlosester Hoffnungslosigkeit. Ihre schon bläulich schimmernden Lippen flüsterten wiederholt in dumpfem Murmeln vor sich hin: „Für mich gibt es keine Gnade mehr.“ Plötzlich schlug sie noch einmal die halb erloschenen Augen auf. Und wie gebannt sie auf Metas Antlitz heftend, lispelte sie mit versagender Stimme: „Schwester, wissen Sie, ob Sie selig werden?“

„Nein, ich weiß es nicht!“, sagte Meta mit todblassen Lippen und schlug schaudernd die Hände vors Gesicht. Da gellte ein markerschütternder Schrei durch das stille Totengemach, so schauerlich und grauenvoll, dass es Meta eiskalt durch den Körper rann: „Schwester, dann sind wir beide verloren, obwohl wir fromm gewesen sind!“

Nach diesem Schreckensruf sank die Kranke hintenüber. Ein kurzes, verzweiflungsvolles Ringen, ein letztes schweres Röcheln noch dann war sie dahin. Die „Armesündergnade“ war hier nicht in Kraft getreten, man kann sich also nicht in allen Fällen auf sie verlassen, um sie für die Todesstunde aufzusparen.

Als am nächsten Morgen beim ersten Tagesrauen die ablösende Schwester ins Zimmer trat, fand sie im Bett eine Tote mit ganz verzerrten Zügen und vor dem Sterbelager die junge Probeschwester Meta in tiefer Ohnmacht hingesunken.

Sie klingelte sofort nach Hilfe und trug mit dieser die gänzlich leblos scheinende Gestalt ins Schwesternkrankenzimmer, um sie dort mit dem herbeigerufenen Arzt wieder zum Bewusstsein zu erwecken. „Sofort ins Bett, es ist eine schwere Krankheit im Anzuge!“, befahl dieser nach den ersten Belebungsversuchen. Und kaum aus ihrer tiefen Ohnmacht erwacht, war sie schon in ein heißes Fieber verfallen, das mit jeder Stunde höher stieg. „Hochgradige Lungenentzündung“, hatte der Arzt konstatiert, „aber auch vollständige Entkräftung und starke Arbeitsüberbürdung, der solch zarter Körper nicht gewachsen ist.“ Dabei streifte ein vorwurfsvoller Blick die leitende Schwester der Frauenstation, die gerade am Kopfende des Bettes stand. Doch Schwester Elfriede entgegnete in ihrer gleichmütig sanften Art ganz gelassen: „Sie hat es nicht anders gewollt. Ich selbst habe Sie vor ihrem Übereifer gewarnt, aber sie konnte sich nie genug tun – um hirnverbrannter Ideen willen.“

Das konnte solch ein „sanfter Engel“ sagen!

Schwester Metas Krankheit erwies sich als eine überaus gefahrdrohende. Aber der Herr hielt seine schützende Hand über sie, dass der Tod sie nicht hinwegnahm, ehe ihre Seele den Einlassbrief in die ewige Heimat noch erlangt hatte. Der Vater wusste, dass sein irrendes Kind ihn von ganzem Herzen und mit aufrichtigem Wollen suchte, wenn auch noch auf verkehrtem Wege. Er hatte ihm seine selbst gewählten Umwege nur zugelassen, um es auf denselben zur Erkenntnis zu bringen, dass es das so heiß ersehnte Ziel nie und nimmermehr erreichen konnte – in eigener Kraft.

Mehr als sechs Wochen brachte Meta auf dem Krankenlager zu. Sie erfuhr dabei die sorgsamste Pflege, wie sie dem weithin gerühmten Mutterhause alle Ehre machte. Dennoch war es nicht möglich gewesen, der jungen Probeschwester eine vollständige Genesung und neue Dienstfähigkeit zurückzugeben. Der Arzt hatte nach wiederholt angestellten genauen Untersuchungen rundweg erklärt, das junge Mädchen sei in Zukunft nicht mehr für den Diakonissenberuf tauglich, dieser erfordere stärkere Kräfte. Das war für Meta ein harter Schlag. Nun war ihr die schöne Gelegenheit, durch gute Werke sich den Himmel zu verdienen, plötzlich wieder genommen! Auch das Ideal der Heiligen in der weißen Haube war ihr geraubt. Sie selbst war ebenso wenig eine gewesen wie die anderen. Sie alle waren staubgeborene, sündige Menschen. Verweht die stolze Hoffnung, Großes zu erreichen; der fromme Wunsch, sich selber Gottes Wohlgefallen zu erringen, jäh vernichtet und in gebrochener Kraft nach Leib und Seele – so kehrte Meta wieder zurück ins Vaterhaus.