Im Dämmerschatten

Als Meta wieder heimgekehrt war, hatte sie keine Mutter mehr. Die edle Dulderin, die schon längere Zeit kränkelte, war still über den Todesjordan gegangen – gerade in den Wochen, wo ihre fromme Tochter auch dem Tode nahe war. Sie war gestorben, als Meta in der allerschwersten Krisis lag. Da hatte es sich von selbst geboten, dass sie vorderhand nichts von dem schweren Verlust erfuhr. Er traf sie ohnehin noch früh genug und bitter schwer, als man ihr diesen nicht länger mehr verschweigen konnte. Nur langsam und vorsichtig hatte man ihr denselben beigebracht, aber der Eindruck war doch ein tieferschütternder auf das ohnehin niedergedrückte Gemüt des jungen Mädchens gewesen. Hatte Meta doch in der geliebten Mutter das treueste Herz verloren, das auf Erden für sie schlug und das sie auch noch immer am besten verstanden hatte, wenn auch die edle Frau trotz all ihrer landläufigen Frömmigkeit es nicht vermochte, ihrem Kinde den Weg zu Jesu Herzen zu zeigen.

Nach ihrem Tode aber grüßte Meta doch ein wundersamer Hauch des ewigen Friedens, in den sie eingegangen sein musste. Eine letzte Botschaft der sterbenden Mutter an sie deutete ihr eine ahnungsfrohe Hoffnung an, dass die Teure selig heimgegangen war. Zur unumstößlichen Gewissheit wurde ihr dies allerdings erst viel später, als sie Gottes ewigen Liebesrat über die Menschen verstehen lernte. Ihre ältere Schwester Ella hatte ihr auf dem Gang nach dem Friedhof erzählt, dass die Mutter in ihrer letzten Krankheit oft so seltsame Aussprüche tat, als ob sie wunder wie schlecht gewesen sei, und sie alle wüssten doch, wie gut und fromm die liebe Mama immer gewesen und was sie alles für die Mission tat.

„Und denke dir nur, Meta, ich habe ihr sogar versprechen müssen, dir eine ganz besondere Botschaft auszurichten, die wir alle nicht begreifen können!“, hatte Ella noch zuletzt gesagt, als Meta sich zum Abschied noch eine weiße Rose von der Mutter Grab brach, ehe sie sich wieder heimwärts wandten. „Sie lässt dir nämlich sagen, sie sei noch auf ihrem Sterbebett eine große Sünderin geworden. Das aber müssten wir alle werden, denn es sei die Vorbedingung, um die Gerechtigkeit zu erlangen, die vor Gott gilt. Die arme Mama! Ich glaube, sie war zuletzt oft recht schwach im Kopf. Nun, sie hat wenigstens einen sanften Tod gehabt. An ihrem Sterbetag habe ich ihr noch einmal das Lied singen müssen: „Mir ist Erbarmung widerfahren“, und dabei ist sie ganz friedlich eingeschlafen.“

Meta war in tiefen Gedanken vom Friedhof wieder heimgekehrt. Sie spannen sich auch noch weiter, als sie in der Abenddämmerung, in einem weichen Lehnstuhl ruhend, am offenen Fenster saß, so müde und hinfällig von dem Viertelstündchen Weg nach der Mutter Ruhestätte. Sie dachte wehmütig darüber nach, wie sie vor Jahresfrist an derselben Stelle saß, mit einem Herzen voll begeisterter Pläne und mutiger Lebenshoffnung, sie alle auszuführen, um sich damit im feurig kühnen Schaffensdrang den Himmel zu erstürmen. Was aber hatten ihr all die guten Werke, die sie in sich steigerndem Übereifer vollbrachte, auch genützt? Ihre Schaffenskraft war gebrochen, ihre Gesundheit untergraben, aber ihr hohes Ziel hatte sie nicht erreicht. Sie hatte gedacht, sie müsse erst besser werden und etwas aufzuweisen haben, ehe sie mit gutem Gewissen vor Gott treten konnte. Und nun ließ ihr die tote Mutter sagen, sie solle zur Sünderin herabsinken, ehe sie die heiß ersehnte Gerechtigkeit erlange, mit der sie sich so gern, ach, so gern schmücken wollte! Sie schüttelte leise den Kopf: War das nicht ein Widerspruch?

Und doch konnte sie Ellas Ansicht nicht teilen, dass ihre glaubensstarke Mutter gedankenschwach geworden sei. Ihr letzter Ausspruch kam ihr vielmehr wie der Schlüssel zu einem göttlichen Geheimnis vor, den sie aber noch nicht zu gebrauchen verstand. Sie kam sich überhaupt so ohnmächtig, so grenzenlos schwach und elend und, ach!, so leer und arm im Innern vor, dass sie meinte, sie könne Gott überhaupt nie mehr etwas Gutes bringen. Von all ihren frommen Jugendträumen war ihr nichts, auch gar nichts mehr geblieben als die alte heiße Sehnsucht, die niemand stillen konnte, der brennend große Hunger und Durst nach der Wahrheit aus Gott.

Da musste sie plötzlich in ihrer trostlosen Verlassenheit an die fröhliche Schwester Gabriele denken. Die Erinnerung an sie rauschte an ihrem Geiste vorüber wie ein frischer Bergquell, der tausend perlende Tropfen um sich sprüht, die im warmen Sonnenlicht wie Diamantfunken glänzen. Ja, wahrlich, wie ein sprudelndes Bächlein voll lebendigen Wassers war es damals von der sonnigen Schwester Lippen geströmt. Doch als sie sich mit verschmachtender Seele niederneigen wollte, um in vollen Zügen Labsal daraus zu trinken, da wurde ihr der klare Lebensquell jäh abgeschnitten. Das glückliche Gotteskind hatte ihn wieder mit sich fortgetragen, und sie blieb allein zurück mit der Erkenntnis ihres eigenen tiefen Mangels. Die fröhliche Schwester Gabriele durfte ihrem Herrn und Meister weiter dienen, sie hatte Kraft dazu, aber die ihre war gebrochen, ihr Opfer hatte Gott nicht angenommen. Sie fühlte sich von ihm verlassen und ganz beiseite gestellt. Das machte sie tieftraurig und ließ sie doppelt unwert erscheinen vor seinen Augen.

Sie sah nur ihrer Seele eigene Dunkelheit, aber nicht das helle Gnadenlicht, das schon langsam an ihrem Lebenshorizont emporzusteigen begann. Sie ahnte nicht, dass sie mit ihrem gedemütigten Sinn und zerschlagenen Geist Gott weit mehr gefiel als mit ihrem glühenden Eifer, durch gute Werke sich ihm angenehm zu machen. Ja, gerade dieser gänzlich hilflose Zustand war die geeignete Zeit, wo der Herr sie an die Hand nehmen konnte, um sie freundlich weiterzuführen auf neuem Wege – dem Ziele entgegen.

Meta hatte sich unter der kräftigen Verpflegung und schonenden Ruhe, die man ihr daheim angedeihen ließ, langsam wieder erholt, aber ihr Gemüt blieb gedrückt. Sie konnte sich nicht wieder zu einem fröhlichen Lebensmut aufraffen. Und doch waren ihr auch die Sterbensgedanken schrecklich, denn das letzte grausige Totenbett, an dem sie kraftlos zusammengebrochen war, hatte ihr deutlich gezeigt, dass auch sie noch ohne Heilsgewissheit hätte dahingehen müssen, genau wie jene selbstgerechte Frau, die trotz ihrer viel gerühmten Frömmigkeit mit Gott in Feindschaft lebte.

O, welch ein trauriges Firnis war es doch, den man in der sogenannten Christenheit über die Grenzlinie zwischen Tod und Leben strich, um damit die nackte Wahrheit zu verdecken, dass es jenseits dieser Grenze nur ein Entweder-oder gab, das über eine ganze Ewigkeit entschied! Man ließ die unvorbereiteten Seelen ruhig über die glatte Fläche taumeln, ohne danach zu fragen, zu welcher von den beiden Türen sie für immer eingehen mussten. Ja, man meinte noch ein Übriges getan zu haben, wenn man sie über die sichtliche Todesgefahr in falscher Liebe hinwegzutäuschen suchte und von nichts als baldiger Wiedervereinigung sprach, während man ganz genau wusste, dass daran nicht mehr zu denken sei. Und nach dem Eintreten des längst vorausgesehenen Todesfalles nahm man es in der Leichenrede als einen ganz selbstverständlichen Tribut hin, dass die heimgegangene Seele unter allen Umständen selig gepriesen wurde. Und das wurde den trauernden Hinterbliebenen, je nach der Größe des jeweiligen Verwandten-, Freunden- und Bekanntenkreises, dann auch in so und so vielen Exemplaren geschmackvoll gepresster Beileidskarten oder schwarzumränderter Trauerbriefe geschickt. Sie sprachen allesamt und sonders in gewandten Redensarten oder schönen Versen von dem frohen Wiedersehen mit den teuren Entschlafenen, von denen man doch gar nicht einmal wusste, wo sie eigentlich hingegangen waren.

Diese Empfindungen beschlichen auch Meta, als sie mit wehmütiger Freude in dem großen Kasten voll Beileidszuschriften kramte, die man ihrer teuren Mutter zollte, die in weitem Kreise eine beliebte und hoch geachtete Persönlichkeit gewesen war. Ja, trotzdem man ihre tiefreligiöse Gesinnung kannte, schwebte doch durch all die formellen wie herzlich gehaltenen Beileidsbezeugungen ein Hauch ihres eigenen hoffnungslosen „Ich weiß es nicht!“

Nur eine Kundgebung war mit klarer Überzeugungstreue ausgesprochen – und das war Onkel Eberhards Brief. Er trug am Kopfende den Bibelspruch: „Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe“. Er sprach in gar kernigen Trostworten von dem Erbteil der Heiligen droben im Licht, das der teuren Schwester nun beschieden sei. Er sei so froh, dass er bei seinem letzten Krankenbesuch die Gewissheit mitgenommen habe, dass sie zu Jesu gegangen sei, und bat die lieben Angehörigen in warmen Worten, doch auch von Herzen an den Heiland als ihren persönlichen Erlöser zu glauben.

Meta hatte diesen Brief schon mehr als zehnmal gelesen, er wirkte in seiner schlichten Bestimmtheit so gar wohltuend auf ihr schwankendes Herz. Es grüßte sie daraus wie Himmelsodemwehen – und vor dem Schreiber eines solchen Briefes hatte man sie so nachdrücklich als vor einem gefährlichen „Sektierer“ gewarnt!

Als was sollte sie da wohl die fröhliche Schwester Gabriele und das herzige Mägdlein ansehen, das so heiß gelispelt hatte: „Amen, ja, mein Glück ist groß!“ Diese und Onkel Eberhard waren alle drei einander gleich, obwohl sie anscheinend aus ganz verschiedenen Lagern stammten. War das Woher denn nicht ganz einerlei, wenn das Wohin nur nach der Stadt der goldenen Gassen ging?

Meta war nun schon fast ein ganzes Vierteljahr daheim, und das tatenlose Leben fing an sie zu drücken. Ihre Schwester Ella aber schien sie bei all ihrer rücksichtsvollen Verwöhnung nicht gern in ihre Rechte eingreifen zu lassen. Sie schien lieber allein zu herrschen. Auch war der Haushalt sehr zusammengeschmolzen. Die Brüder waren auf die Universität oder gar schon ins Berufsleben gezogen, sodass eine Tochter mithilfe eines Mädchens den Vater gut versorgen konnte. Der Wirkungskreis war zu klein für zwei so tätigen Naturen, denn auch Metas Lust zum Arbeiten regte sich wieder. Sie war des müßigen Treibens müde und sehnte sich lebhaft nach einem neuen Wirkungskreis, wo sie jemand nützen konnte, denn der stolze Ruhm, viel gute Werke zu vollbringen, war längst dahingesunken. Ihre schwache Kraft hatte nicht dazu ausgereicht. Nun waren ihre Ansprüche bescheidener geworden. Sie seufzte und betete nur im stillen: „Ach, lieber Herr, ich weiß, dass ich dir nicht gefallen kann. Aber stelle mich nur wieder in die Arbeit, ich bin ja sonst ganz unnütz auf der Welt!"

Bald darauf schickte ihr der liebe Gott eine bekannte Frau ins Haus, die in warm beredten Worten die große Hilfsbedürftigkeit einer lieben Freundin von ihr schilderte, die gänzlich erblindet sei. Sie möchte gern ein junges Mädchen um sich haben, das sie pflege und ihr Gesellschaft leiste in der Dunkelheit ihrer alten Tage. Dasselbe sollte bei ihr wie eine Tochter gehalten werden, wenn es ihr fürsorgliche Liebe und herzliches Vertrauen entgegenzubringen vermöchte. In Metas warm fühlendem Herzen glühte bei dieser Schilderung sofort der heiße Wunsch empor, hingehen zu dürfen und der armen Blinden hilfsbereit zur Seite zu stehen und sie aufs Beste zu hegen und zu pflegen.

Sie war doch schon zu sehr Schwester gewesen, um nicht mit lebhaftem Interesse auf die Not leidender Menschen einzugehen. Deshalb bestürmte sie ihren Vater mit Bitten, sie doch gehen zu lassen, sie fühle sich wirklich schon wieder ganz kräftig. Professor Teuthorn willigte nach einigen Bedenken betreffs ihrer zarten Gesundheit ein, denn er sah, dass sein Kind mit dem Herzen doch nicht daheim, sondern bei kranken Leuten war. Er meinte lächelnd, sie könne es ja einmal versuchen.

Wenn es ihr zu schwer wäre, stände ihr ja das Vaterhaus jederzeit wieder offen. Auch bei Ella stieß sie auf keinen Widerspruch, Meta hatte sogar eine warme Fürsprecherin in ihr beim Vater gefunden. Anscheinend war es ihr viel lieber, das Hausregiment nicht mit der jüngeren Schwester zu teilen, die ihr dann und wann schon etwas abzunehmen anfing, da sie doch den ganzen Tag nicht müßig zusehen könne. Auch waren ihr Metas sonderbare religiöse Ansichten unbequem. Diese hatte sich ein paar Mal mit Ella auszusprechen versucht, was wohl die gute Mutter mit ihrer letzten Botschaft an sie eigentlich gemeint habe. Doch Ella wollte keine Sünderin sein. Es gefiel ihr viel besser, dass sie des Vaters erkorener Liebling war, der getreulich in seinen Anschauungen wandelte. Da war sie fromm genug. Auch teilte sie seine Liebe, die er während Metas Abwesenheit stärker auf sie übertrug, nicht gern wieder mit der jüngeren Schwester. Sie hatten sich zu zweit so gut verstanden, dass nach ihrer Meinung ein Drittes im Bunde nur störend wirkte.

Meta selber aber vermochte sich auch nicht recht wohlzufühlen in dem Geiste des Hauses, der ihr seit der teuren Mutter Tod noch viel fremder geworden war. Auch drückten sie die engen Schranken, die ihr beständigen Müßiggang zudiktieren wollten.

So fiel ihr auch diesmal der erneute Fortgang aus dem Vaterhause nicht besonders schwer, denn sie fühlte, dass trotz allen Rücksicht, die man ihr der schwachen Gesundheit halber erwies, im Grunde genommen doch kein Platz mehr für sie darin war. Nur in einem unterschied sich ihr jetziger Weggang von dem hoffnungsfrohen ersten Auszug in ein neues Leben hinein. Statt der damaligen glühenden Begeisterung barg der Kelch der Trennung manchen bitteren Wermutstropfen.

Meta erwartete keine stolze Zukunftsträume voll frommer Siegestaten mehr. Ihr war im Gegenteil bange vor der neuen Lebensaufgabe, als sie nun wirklich an sie herantrat. Würde sie dieselbe auch zur Zufriedenheit lösen können? Ein tiefes Verzagen an sich selber hatte sie ergriffen. Doch mitten in demselben streckte sie plötzlich hilfeflehend die Hände empor und klammerte sich unwillkürlich fester an den Herrn. „Verlass mich, o verlass mich nicht, du guter Gott!“, flüsterte sie mit bebenden Lippen. „Gib du mir Kraft, damit dein schwaches Kind bestehen kann!“

Dazwischen erschütterte sie wieder die bange Zweifelsfrage, ob sie denn überhaupt des Vaters Kind sei, das ihn in dieser Weise um Kraft und Hilfe bitten dürfe, denn sie fühlte sich noch nicht mit Gott versöhnt. Deshalb vermochte sie auch nicht in fröhlicher Glaubenszuversicht seine Verheißungen als für sich geltend zu ergreifen und kam deshalb zu keiner beruhigenden Gewissheit, ob ihr Gebet auch wirklich erhört sei.

Sie saß noch im geistlichen Dämmerschatten. Aber es war in ihrem Ringen mit Gott doch jener Zeitpunkt eingetreten, wo der Engel des Herrn wie einst dem Jakob dort zu Pniel auch ihre Hüfte verrenkt hatte – im Zerbrechen der eigenen Kraft. Es war schon Morgendämmerlicht, das ihre Seele, ihr selber noch halb unbewusst, mit sanftem Flügelschlag umfing. Es flog dem jungen Tag voraus, der bald leuchtend hell im goldenen Sonnenglanze über ihr emporsteigen sollte, um ihr ganzes Sein und ihres Wesens Tiefen leise wachzuküssen – zu einem neuen Leben aus Gott.