Er weiß, warum

Mein erster Gedanke war ein Verwundern, dass Gott mich diesmal nicht beschützt hatte. Ich konnte es nicht verstehen, warum er seine Hilfe versagte. Als die Beschießung aufhörte, kamen die Offiziere und ein Arzt, um nach uns zu sehen. Sie boten uns Sekt an, den ich aber verweigerte. Am Abend wurden wir per Wagen ins Feldlazarett gebracht und erhielten Impfungen gegen Starrkrampf. Auf schmutzigen, blutigen Betten, in denen manch ein tapferer Krieger sein Leben ausgehaucht hatte, verbrachten wir die Nacht. Am anderen Tag wurden wir wieder untersucht und in ein Privatspital weitertransportiert. Hier mussten alle Verwundeten vom vergangenen Tag – und es waren derer viele – zuerst baden, dann bekam jeder ein schneeweißes Bett.

Nun konnte ich erst meinen Vater im Himmel verstehen. Wie lange schon hatte ich gebetet, dass er es so führen möchte, dass ich mich wieder einmal entkleiden und in ein Bett legen könnte! Und darum ließ er es zu, dass ich verwundet wurde und etwas Blut fürs Vaterland vergießen musste, damit ich nach langen Monaten endlich einmal die ersehnte Wohltat der Ruhe genießen konnte. Welch ein wunderbarer Gott! Er zählt auch die Haare auf unserem Haupt.

Als ich fast ganz hergestellt war, erhielt ich zum ersten Mal Heimaturlaub. Es war Weihnachtszeit. Welch ein Wiedersehen! Welch eine Freude! Nach langer, banger Zeit durfte ich meine Lieben in die Arme schließen, durfte mich in ihrem trauten Kreise erfreuen. Wie dankbar war ich Gott, dass mir dieses Glück noch beschieden war, während es für so viele, viele keine Heimkehr mehr gab. Nur zu schnell entflohen die glücklichen Tage. Meine Lieben begleiteten mich auf der Bahnfahrt bis zur Grenze. Schon lange vor meiner Endstation flossen unsere Tränen, wussten wir doch nicht, ob es noch ein Wiedersehen gab. Doch schauten wir glaubensvoll zu unserem himmlischen Vater auf, ihm unser Geschick anvertrauend. Der Zug hielt. Noch ein letztes Umarmen, ein letzter Kuss und mit raschen Schritten eilte ich davon.

Im Lazarett blieb ich nur noch kurze Zeit. Obwohl ich noch immer Kopfschmerzen hatte, wurde ich Anfang Januar felddienstfähig geschrieben und packte am nächsten Tag traurig meinen Tornister, um mich an die Front zu begeben. Zurückblickend war ich Gott für diese Zeit der Ausspannung und Ruhe von Herzen dankbar. Mit manchem Verwundeten konnte ich dort über sein Seelenheil sprechen und von der Liebe Gottes zeugen. Viel Traktate verteilte ich im Lazarett und in der Kaserne in der Hoffnung, dass manche dieser stillen Boten den Weg zu dem Herzen der Soldaten finden möchte. Im Lazarett war auch eine Schar Kinder untergebracht, die von einer Krankenschwester beaufsichtigt wurde. Ich knüpfte bald Freundschaft mit den lieben Kleinen an und lehrte sie das Lied singen: „Dir, Herr, sei Dank.“ Vielleicht mögen sich heute noch manche dieser Kinder daran erinnern.

Nach mehrstündigem Marsch erreichte ich meine alte Kompanie, wo ich wieder meinen Dienst des Postenstehens antrat. Mit wenigen Ausnahmen waren fast alles fremde Leute in der Kompanie; verwundet, tot oder erkrankt waren meine Bekannten ausgeschieden. Ich gab mir Mühe, meinem Bekenntnis als Christ alle Ehre zu machen und versuchte, Zugang zu den Herzen zu gewinnen. Die meisten waren durch die Schrecknisse des Krieges gegen göttliche und ewige Dinge verbittert und verschlossen. Manchmal hatte ich eine Schar um mich, denen ich die göttlichen Wahrheiten erzählte. Einige gaben mir recht, andere kämpften dagegen. Das Wichtigste aber war mir, ihnen ein Leben, wie es die Bibel lehrt, in der Tat vorzuleben. Ein Kamerad, der auch gerne ein Christ sein wollte, war mit seinem Los hier nicht zufrieden. Er meldete sich freiwillig an eine andere Front, wo es schlimmer zuging als bei uns. Trotzdem ich ihm entschieden davon abriet, beharrte er auf seinem Entschluss. Doch noch ehe er versetzt wurde, erreichte ihn der Tod. Er wurde von einer Granate zerrissen.

So ging die Zeit dahin und noch immer tobte der Krieg. Ich fühlte mehr und mehr, wie die Kräfte schwanden. Die vielen Strapazen, Kälte und Nässe, schlaflose Nächte, wenig und mangelhaftes Essen, dazu das nervenaufreibende Schießen, das Ungeziefer, die Rattenplage und all die anderen Beschwerden des Krieges zehrten an meinem Körper. Fast dauernd litt ich an Erkältung, so dass auch die kurzen Ruhepausen zur Qual wurden. Mein einziger Trost war, dass Gott meine traurige Lage wusste und dass er mein Gebet um einen anderen Platz kannte.