Die Liebe bedeckt

„Die Liebe verträgt alles“ (1.Kor. 13:7).

Etliche Ausleger übersetzen hier: „Die Liebe bedeckt alles“. Ich möchte hier dieser Übersetzung folgen. Der Sinn von „verträgt alles“ kommt ja am Schluss des Verses noch zu seinem Recht, wo Paulus sagt: „Die Liebe duldet alles“. Das ist bei mir der Grund, weshalb ich die Übersetzung „bedeckt alles“ vorziehe, weil sonst der Apostel in diesen beiden Ausdrücken am Anfang und am Schluss des Verses so ziemlich dasselbe gesagt hätte. Dass wir davon reden dürfen, dass die Liebe alles bedeckt, erlaubt uns jedenfalls 1.Petr. 4:8: „Vor allen Dingen aber habt untereinander eine inbrünstige (wörtlich: eine ausgespannte) Liebe; denn die Liebe deckt auch der Sünden Menge“.

Die Liebe ist wie eine Decke, sie deckt zu. Und was tut die Welt? Sie reißt hervor, sie zerrt ans Licht: „Haben sie schon gehört, was Herr Müller gemacht hat?“ „Was denn? Bitte erzählen sie es doch!“ Und nun wird hervorgezerrt, geredet, geklatscht, gerichtet, verleumdet. Die Liebe reißt nicht hervor. Die Liebe deckt zu. Nicht also, als ob sie unwahr wäre. Nicht, als ob sie die Sünden beschönigt und vertuscht. O nein, sie nennt schwarz: schwarz und weiß: weiß; aber sie spricht nicht davon. Wozu auch? Wem nutzt das? Wer hat einen Gewinn davon? Und wenn in ihrer Gegenwart die Sünde eines anderen hervorgezerrt wird, dann deckt sie zu mit Entschuldigungsgründen. Dann weiß sie mildernde Umstände aufzuzählen, welche die Sache in einem günstigeren Lichte erscheinen lassen. Die Liebe ist ein guter Anwalt. „Nun, es mag ja sein, dass sie dies unüberlegte Wort gesprochen hat, aber man muss doch auch bedenken, wie schwer sie es hat. Es ist doch keine Kleinigkeit in solchen Verhältnissen zu leben. Die Kinder machen ihr doch auch den Kopf oft warm,“ – so tritt die Liebe für den Angeschuldigten ein.

Die Liebe bedeckt. Ach, wenn doch überall diese bedeckende Liebe waltete. Aber wie steckt uns diese hässliche Unart des Hervorziehens im Blut! Wie bemüht sind die Menschen darum, niedrige Beweggründe ausfindig zu machen! Wie schwer ist es ihnen zu glauben, der Bruder könne uneigensinnig gehandelt haben. – „Was hat er dabei wohl gehabt? Er hat dabei doch einen Hintergedanken gehabt. Das ist von vornherein ausgemachte Sache.“

In 2.Samuel 10 finden wir ein klassisches Beispiel, wie viel Unheil dadurch entstehen kann, wenn man nach niedrigen Beweggründen sucht. Nahas, der König der Amoriter, war gestorben. Sein Sohn Hanun bestieg den Thron. Da sprach David: „Ich will Barmherzigkeit tun an Hanun, dem Sohn Nahas, wie sein Vater an mir Barmherzigkeit getan hat“ (V. 2). Und er sandte hin und ließ ihn trösten durch seine Knechte über seinen Vater. Das war königlich, das war freundlich gehandelt. Er schickte dem jungen König eine Gesandtschaft, um ihm sein Beileid auszudrücken. Aber wie ging es den Gesandten? „Da nun die Knechte Davids ins Land der Kinder Ammon kamen, sprachen die Gewaltigen der Kinder Ammon zu ihrem Herrn, Hanun: ,Meinst du, dass David deinen Vater ehren wolle, dass er Tröster zu dir gesandt hat? Meinst du nicht, dass er darum hat seine Knechte zu dir gesandt, dass er die Stadt erforsche und erkunde und umkehre?‘“ (V. 2-3). Da war also ein richtig niedriger Beweggrund gefunden: „David meint ja das nicht, so wie er sagt. Er hat doch natürlich Hintergedanken“. „Da nahm Hanun die Knechte Davids und schor ihnen den Bart halb und schnitt ihnen die Kleider halb ab, bis an den Gürtel und ließ sie gehen. Da das David ward angesagt, sandte er ihnen entgegen; denn die Männer waren sehr geschändet. Und der König ließ ihnen sagen: ,Bleibt zu Jericho, bis euer Bart gewachsen; so kommt dann wieder.‘“ (V. 4-5). Was gab es nun? Natürlich gab es nun Krieg. Denn diese Beleidigung seiner Gesandten konnte David doch nicht so lassen, dass die Berater Hanuns so darauf gewesen waren, dem König David niedrige Beweggründe unterzuschieben.

Willst du nicht aus dieser Geschichte lernen? Die Liebe bedeckt alles. Man kann von dem Nächsten und seiner Verfehlung in verschiedener Weise reden: „Freilich hat er mir früher schon manchen Dienst geleistet, aber was er jetzt gesagt hat, das ist ganz unerhört. Ich hätte doch nie gedacht, dass er dazu fähig wäre usw.“ Je länger man redet, desto mehr redet man sich in die Hitze hinein. Die andere Art ist die: „Es mag sein, dass er jetzt ein Wort zu viel gesagt hat. Aber ich habe doch ihn immer als einen treuen Freund kennen gelernt. Ich habe doch sonst so viel Liebes von ihm erfahren,“ und so kommt eine Fortsetzung. Welche Art und Weise gefällt dir besser? Die erste tut das Gute kurz ab und verweilt bei dem Bösen. Die zweite tut das Böse kurz ab und verweilt beim Guten. Bei der ersten erhält der Tadel das letzte Wort, bei der zweiten die Liebe. Wollen wir’s nicht mit der letzten Art halten?

Die Liebe bedeckt alles. Wie ungerecht ist die erste Art! Ich sprach einmal mit einer vornehmen Dame, die sehr entrüstet war über ihr Dienstmädchen, das irgend ein Versehen gemacht hatte. „Ich habe ihr aber einmal gehörig alles vorgehalten, was sie in den 16 Jahren für Dummheiten gemacht hat“. Nun wusste ich, wie treu das Dienstmädchen immer gewesen war, wie treu sie auch den heimgegangenen Mann dieser aufgeregten Dame gepflegt hatte. Darum fragte ich: „Haben sie ihr bei der Gelegenheit auch für ihre 16-jährige Treue gedankt?“ Nein, daran hatte sie gar nicht gedacht. Ist das nicht ungerecht? Da kommt ein Versehen vor, und das wird dann so wichtig gemacht. Und von all den guten Eigenschaften, von all den treuen Diensten ist keine Rede. Die Liebe bedeckt alles. Die Liebe sagt: „Nun ja, das Mädchen hat da mal eine Dummheit gemacht, gewiss, aber wir wollen nicht so viel davon sprechen. Sie hat uns immer so treu gedient. Sie ist immer so führsorgend, besonders für meinen Mann, gewesen.“ So spricht die Liebe.

Und die Liebe bedeckt nicht nur die Sünde des anderen, sie bedeckt auch die eigenen guten Werke. Die gehören ja so selbstverständlich mit dazu, die sind so natürliche Äußerungen ihrer Liebe, dass sie gar nicht ein Buch darüber führt, dass sie gar keine Notizen darüber macht. Und wenn ein Tag kommt, wo der Herr Jesus sagt: „Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt. Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich beherbergt.“ Dann antwortet die Liebe ganz verwundert: „Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dich gespeist? oder durstig und haben dich getränkt? Wann haben wir dich als einen Gast gesehen und beherbergt?“ (Mt. 25:34-38). Die Liebe hat es ganz vergessen. Die Liebe bedeckt alles.