Meine Vorfahren

(Aus mündlicher Überlieferung)

Meine Urgroßeltern sind Ende des 17. Jahrhunderts von Deutschland nach Kongress-Polen, das damals zu Russland gehörte, ausgewandert. Die Bezeichnung „Kongress-Polen“ diente für Russisch-Polen, das nach Beschluss des Wiener Kongresses 1815 durch die vereinigten Großmächte geschaffen worden ist.

Die ersten großen Einwanderungen der Deutschen nach Russland fanden im 14. und 15. Jahrhundert statt. Aber die am Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts waren die Größten. Die Deutschen waren als Kaufleute und Gewerbetreibende (ein städtebildendes Element) damals für die Weiterentwicklung des Wirtschaftslebens sehr willkommen, ja auch nötig. Der Aufbau vollzog sich nach deutschem Muster. Nach dem dreiseitigen Teilungsvertrag Polens, der am 4. Oktober 1795 unterzeichnet wurde, war es der Wunsch der russischen Kaiserin Katharina, dass in dieses große eingenommene Gebiet Deutsche kommen sollten.

Meine Urgroßeltern ließen sich an der Weichsel (Wisla) nieder. Mein Großvater Christow war damals erst 8 Jahre alt. Die Weichsel ist der Hauptstrom Polens und hat eine Länge von 1076 km.

Meine Mutter und ihre Ahnen stammen von deutschen Bauern, die sich in dem Weichseltal in der Gegend von Thorn angesiedelt hatten. Hier ist die Weichsel von dem deutschen Ritterorden vor Jahrhunderten, etwa von 1370 ab, eingedeicht worden. Die damals noch unter Wasser liegenden Teile des Werders, wie auch das eigentliche Weichseltal bis Thorn, wurden mit Dämmen umgeben, durch Schöpfwerke entwässert und von deutschen Bauern besiedelt. Nach dem zeitweisen Zerfall der Dämme und Gräben während der Wirren des 16. und 17. Jahrhunderts wurden auch niederländische Mennoniten zum Wiederaufbau herangezogen.

Durch das jahrhundertelange Zusammenleben bildete sich unter den Bewohnern des Weichseltales eine besondere Nidrunger plattdeutsche Mundart, auf die sie sogar stolz waren. Die hochdeutsche Sprache wurde nur noch in den Gottesdiensten und in den Büchern gebraucht.

Am Anfang des 18. Jahrhunderts übersiedelten die Eltern meiner Mutter nach Neuhof-Modlin bei Warschau, in der Weichselniederung. Mein Vater ist 1820 in der eben erwähnten deutschen Kolonie geboren. Als er 4 Jahre alt war, verlor er seinen Vater, und mit 9 Jahren – seine Mutter. Als Waisenknabe kam er dann auf Veranlassung des Vormundes in seinem 15. Lebensjahr nach Pultusk (ein Städtchen zwischen der Bug und Narew) in die Lehre und erlernte dort die Schuhmacherei. Nach seiner Lehre kehrte er dann wieder in seine Heimat zurück.

In den Jahren als Waise, auch in der Lehre und in seiner ersten kurzen Ehe führten seine Wege durch mancherlei Trübsale und dadurch näher zu Gott. Aus seiner ersten Ehe entsprossen 4 Kinder, 2 Söhne und 2 Töchter: Johann, Michael, Susanne und Juliane. Michael ist als Kind von einem Baum erschlagen worden, während mein Vater Bäume rodete. Das Kind wollte von hinten unerwartet zum Vater kommen, ein fallender Baum aber erreichte es mit seiner Spitze. Mein Vater bemerkte es erst, als er den Todesschrei hörte. Susanne ist auf dem Fluss Ush ins Eis eingebrochen und ertrunken. Durch all diese Trübsale und schmerzlichen Erlebnisse wurde mein Vater im Innern sehr bewegt. Er bekehrte sich etwa um 1848 zu Gott.

Gläubige gab es zu jener Zeit dort recht wenig. Hier und da war nur jemand, der sich zu den „Kämpfern“ zählte. Mit denen versammelte mein Vater sich öfter, sie hatten ein gutes Miteinander und Verstehen. Die Gesinnung dieser „Kämpfer“ war auch so tief in meinen Vater hineingedrungen. Es machte sich dadurch der Kampf für das Gerechte bis an sein Lebensende bemerkbar. Auch in seinen Kämpfen und schwierigen Stunden verscheuchte er durch seine mutigen Gesänge alles, was ihn bedrücken wollte. Eine schwere Heimsuchung war ihm auch der Tod seiner Frau. Doch sein starkes Gottvertrauen hielt ihn auch in dieser Trübsal aufrecht.

Im Jahre 1860 verheiratete sich mein Vater wieder, und zwar mit Anna Kordt (geb. 1841). Sie wie auch ihre Eltern wandten sich zu Gott, als sich 1855 der Dorflehrer und mehrere Kinder bekehrten. Da meine Mutter sehr musikalisch war und eine gute Singstimme hatte, wurde sie auch in den Erweckungszeiten unter den deutschen Gläubigen zum Gesang herangezogen. Nach etwa 60 Jahren erzählte mir ein alter Vater namens Schuster von meiner Mutter. Er hatte sie schon in ihrer Jugend gekannt und drückte sich folgendermaßen aus: „Deine Mutter sang mit der besten Geige mit“.