Von den Aufständen in Polen

In diesen Jahren ging es auch nicht ohne Schwierigkeiten ab. Ganz besonders in der Zeit der Aufstände und während der Cholera, die 1830 herrschte. Seit dem Frühjahr 1831 wütete die Cholera, mit Ausnahme Sibiriens, in allen Gegenden Russlands. Sie soll etwa 100.000 Menschen hingerafft haben. In diesen trüben Zeiten entstanden außerdem auch Unruhen und Revolten. In der Nacht vom 29. zum 30. November 1830 hatten die Verschwörer mit ihrer primitiven Bewaffnung losgeschlagen. Es waren schwere Zeiten, die ganz besonders die Deutschen durchmachen mussten. Meist waren die Überfälle in den Nächten. Aus diesem Grund blieben die Leute eine lange Zeit nicht in ihren Häusern. Auch wagten sie nicht, sich unter einen Strohhaufen zu legen. Es kam vor, dass Strohhaufen plötzlich angezündet wurden und die Leute sich aus den Flammen nicht mehr retten konnten. Mein Vater, damals ein 10-jähriger Knabe, konnte sich an diese gefährliche Zeit bis zu seinem Tod immer noch gut erinnern.

Was die Cholera vor kurzem noch am Leben gelassen hatte, das versuchte man jetzt mit Messern, Sensen, Heugabeln und anderen scharfen Gegenständen niederzumetzeln.

Mein Vater hat auch während der Unruhen in Polen, im Jahre 1848, sehr viel durchgemacht. Von den Polen wurde er gezwungen, mitzugehen und mitzukämpfen. Dadurch setzte er sich der Gefahr aus, bei der russischen Behörde als Landesverräter zu gelten. Oft hat er davon gesprochen und immer wieder betont, dass er solch eine Zeit nie mehr erleben möchte. Niemals sicher vor den räuberischen Überfällen, mussten sie wieder eine längere Zeit hindurch die Nächte im Freien oder in den Wäldern zubringen. Ihr Geld und die wenigen Wertsachen, die sie noch hatten, sowie das Kochgeschirr, ohne welches sie kaum existieren konnten, haben sie auf dem Holzhof unter dem Hauklotz eingegraben. Betten und andere zum Leben notwendige Sachen vergruben sie unter einem Haufen Holz, das vom Hause entfernt lag. Wenn sie Gefahr witterten, mussten sie laufen und sich zerstreuen, damit nicht alle getötet wurden. So haben sich doch immer mindestens einige retten können. Eine Lade, die von sehr kernigem Holz hergestellt worden war, ist auch, wie meine Eltern oft erzählten, in die Erde eingegraben gewesen. In dieser Lade haben dann im schlimmsten Fall mein Vater und andere ihr Leben gerettet. Wenn die „Labusen“, so nannte man die Aufständischen, in Sicht waren und sie sich nicht mehr vom Hof entfernen konnten, flüchteten sie in die Scheune und in diese Lade. Einer musste sie dann mit Erde und etwas Stroh zudecken. Er musste dann unauffällig weglaufen... Meine Eltern haben diese Lade auch von Polen nach Wolhynien mitgenommen. Meine Schwester bekam sie dann 1900 als Erbstück mit. In dieser Lade blieben sie so lange drin, bis die Flucht möglich war.

Alle Deutschen, deren Eltern in Polen gewohnt haben, und ganz besonders die älteren Leute, werden wohl noch viel von den „Kuschneren“ gehört und davon zu erzählen gewusst haben. Denn diese „Kuschnerenzeit“ war eine von den ersten  großen Leiden, die unsere Deutschen im Ausland durchmachen mussten. Das Schrecklichste war, dass die Menschen niemals wussten, woran sie waren. Stets bestand Gefahr, dass ihre Häuser, die aus Holz und mit Strohdächern gebaut waren, plötzlich angezündet wurden. Von ihrer ganzen Habe blieb dann nichts, nur vom Herd und Schornstein ein kleiner Haufen zermürbter Lehm. Es war noch ein großes Vorrecht, wenn sie ihr Leben aus dem schnell um sich greifendem Feuermeer alle retten konnten.