Die Gutherzigkeit meiner Eltern

Im Jahre 1888 kam zu meinen Eltern ein Mann namens K. und nahm die Mühle bei uns in Pacht. Er konnte sehr freundlich und gut sprechen. Er gewann das Vertrauen meiner Eltern, und meine Eltern nahmen ihn auch ins Haus. Als K. mit unseren häuslichen und wirtschaftlichen Verhältnissen etwas vertraut war, fing er an, uns bei dem Eigentümer unseres Pachtgutes zu verleumden. Er trieb es mit Hinterlist so lange, bis es ihm gelang, dessen Vertrauen zu meinen Eltern zu untergraben. Das ging so weit, dass meinen Eltern die Pacht gekündigt wurde.

Dieses war für meine Eltern ein harter Schlag. Mein Vater lies aber auch da den Kopf nicht sinken. Wie er seinerzeit jene 5000 Rubel hingegeben hatte, so trennte er sich auch von dieser großen Wirtschaft. Immer wieder hörte ich meinen Vater sagen: „Es ist doch seliger Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun“. Er war trotz allem nie verzagt, und wir haben ihn darüber nie murren oder klagen hören. Dieser Verlust konnte ihn auch nicht in seinem Gottesdienst stören. Er sagte öfter mit Hiob: „Der Herr hat es gegeben, und er hat es auch zugelassen, dass es wieder genommen wurde. Und wenn er es will und für nötig sieht, kann er es uns auch wiedergeben!“

Wir siedelten dann wieder auf 25 Hektar Zins-Pachtland etwa 90 km nordwestlich in einer schon gegründeten Kolonie Andreufka, bei Olewsk, am Fluss Ubor. Hier bauten wir außer dem Wohnhaus, Scheune und Stall auch eine Öl- und Hirsegrützmühle, sowie eine Anlage für Häckselschneiden. Solch eine Fabrik war in dieser Gegend die erste. Bis von 50 km Entfernung kamen die Leute herzugeströmt. Öl wurde aus Leinsamen, Raps, Dodder, Mohn, auch von Kürbis und Sonnenrosenkörnern, Hanf und anderen Samen gewonnen. Sehr bald wussten die Leute, dass wir an den Sonntagen nicht arbeiteten. Aber am Sonntag Nachmittag war oft schon Haus und Hof gefüllt. Besonders in den beiden großen Fasten, sechs Wochen vor Weinachten und sieben Wochen vor Ostern. Der Andrang war in den Zeiten so groß, dass wir gezwungen waren, gleich nach 12 Uhr zu beginnen und bis 12 Uhr nachts am Sonnabend zu arbeiten. Die Abfertigung ging genau der Reihe nach.

Aus dem Gouvernement und aus anderen Gegenden brachten die Leute ihre Hirse in 2 Meter langen Fässern. Säcke waren rar. In dieser Gegend wurde besonders viel Kascha (Hirsegrütze) gegessen. Die Makuchen (Ölkuchen) ließen sie uns für die Arbeit. Sie kannten dafür keine Verwendung. Wir verkauften sie teils an Deutsche und fütterten selbst das Vieh und die Schweine damit. Aber die Makuchen von Mohn und Hanf ließen sie uns nicht. Sie benötigten sie selbst zum Essen und vor allem, um die Piroggen (gefülltes Gebäck) herstellen zu können. Sie brachten auch von ihren tagelangen Reisen Stroh zum Häckselschneiden mit.

Bei all dieser Arbeit achteten meine Eltern sehr darauf, dass sie und ihre Kinder ein christliches Leben führten. Zank und Streit, auch gerichtliche Auseinandersetzungen hat mein Vater vermieden. Er schärfte uns immer wieder ein, dass es besser sei Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun. Auch ging er gegen Leute, die ihn um irdisches Gut betrogen, nicht gerichtlich vor. Lieber wollte er arm sterben – wie er geboren war –, denn seine Seligkeit hielt er für den größten Reichtum.

Der Herr schenkte uns auch überall gute Nachbarn. Es machte meinen Eltern auch große Freude, wenn sie ihren Nachbarn mit irgend etwas dienen konnten. Wer in Not war, wusste, dass er bei meinen Eltern Hilfe und Rat fand, sei es im Irdischen oder auch auf geistlichem Gebiet. Ich kann mich noch gut erinnern, dass meine Eltern in irgend welche Nöte geratene Leute aufsuchten. Besonders tat dies meine Mutter. Meine Eltern wurden nicht müde auch in den schwierigsten Fällen, wo Hilfe not tat. Sei es auch in Krankheiten der Seele und des Leibes, sie gingen freudig und unerschrocken zu den Leuten und versuchten alles, um ihnen zu helfen.

Nach dem Tode meines Vaters erzählte mir eine Nachbarin folgendes: „Während der langen Zeit, die wir hier wohnten, war dein Vater nicht zu uns gekommen. So glaubten wir, dass er uns nicht achtete. Durch andere Nachbarn erfuhren wir dann, dass er gern kommt, wenn man es wünscht; selbst in der Nacht oder auch wenn er bei einer dringenden Arbeit ist“. Eines Tages verunglückte diese Frau im Stall beim Melken. Die Kuh fiel auf sie und verursachte dabei eine schwere körperliche Schädigung, so dass sie zu sterben glaubte. Sie ließ den Küster kommen und bat ihn, für sie zu beten. Aber kurz nach dem Weggang des Küsters besann sie sich darauf, dass mein Vater vor Jahren einmal etwas vom „Gebet des Glaubens“ gesagt hatte. Sogleich schickte sie zu meinem Vater und ließ ihn bitten, zu ihr zu kommen. Mein Vater kam sofort, betete ernstlich mit ihr, legte ihr auch die Hände auf. Während er betete – so erzählte die Frau nachher –, verspürte sie große Besserung ihrer Schmerzen und Beschwerden. Es war ihr, als ob jemand mit der Hand die ganze Geschwulst hinwegstrich. Von Stund an besserte sich ihr Befinden sichtlich, und sie konnte bald wieder ihre Arbeiten und Pflichten ausführen. Noch viele andere Siege des Glaubens und der Liebe aus dem Leben meines Vaters sind bekannt geworden. Sie sind in den Herzen seiner Kinder und Nachbarn unvergesslich geblieben.

Wenn mein Vater nicht ein so inniges Gebetsleben mit seinem Gott geführt hätte, wäre ihm wohl manches zu schwer geworden. Aber in jeder Lage und zu allen Zeiten nahm er Gottes Hilfe in Anspruch und eignete sich Gottes Verheißungen an. Oft habe ich ihn des Nachts und früh morgens ernst beten hören. Er hat auch immer seine Kinder ins Gebet eingeschlossen und dem Herrn geweiht. Mir tönen noch oft seine schönen Melodien in den Ohren, die er gewöhnlich früh auf seinem Lager sang. Sie waren alle lebhafter Art, zum Teil auch selbst gedichtet.