Auf meiner Kolportage

Ich schätzte die Bücher, aus denen ich für mein Leben einen Nutzen ziehen konnte, ob für meinen Beruf oder für das geistliche Leben, sehr hoch. Am meisten interessierten mich Lebensbeschreibungen. Romane und ähnliche Bücher, mögen sie auch noch so fesselnd geschrieben sein, las ich nicht. Ich machte die Beobachtung, dass Leute, die ohne Unterschied viele Bücher lesen, auch nur Leser sind, ohne davon einen Nutzen zu bekommen. Man kann durch wahlloses Lesen auch das Unterscheidungsvermögen zwischen guten und schlechten Büchern verlieren.

Schon Ende des Jahres 1903 bezog ich allerlei empfehlenswerte und gute Bücher vom In- und Ausland. Ehe ich sie aber verbreitete, las ich sie erst einmal durch und prüfte den Inhalt.

Im Januar 1905 leitete der Herr es so, dass ich mit dem Bibelkolporteur Müller aus Roshischtsche zusammenkam. Ich half ihm mit bei der Bücherverbreitung von der Berliner, Britischen und Ausländischen Bibelgesellschaft. Dieses tat ich bis zu meiner Musterung.

Auch bei dieser Arbeit sammelte ich gute Erfahrungen für mein zukünftiges Leben. Erstens lernte ich die Gläubigen, die hie und da zerstreut wohnten, besser kennen und schätzen. Sie sind ja die Träger der gerechten Sache. Sie sind in Gottes großem Garten als fruchtbare Bäume zwischen den anderen. Trotz aller Stürme und Trübsale bringen sie ihre Früchte. Beim Anpreisen religiöser Bücher bin ich auch auf manchen Widerstand gestoßen. Dabei lernte ich auch die andere Art von Menschen kennen. Ich hatte bis dahin keine Ahnung, wie weit die Leute von Gott und seinem Wort abgekommen sind. Sehr oft nahmen sie auch dagegen Stellung.

Als sehr geselliger Charakter, war es für mich als junger Mann sehr schwer, immer in der Fremde alleine zu sein. Ich fühlte mich oft sehr einsam und verlassen. Ich erinnere mich gut an einen Nachmittag. Ich ging in einer nahe dem Walde gelegenen deutschen Kolonie auf der Straße. Die Häuser waren voneinander weit entfernt, die Sonne schien durch die Baumspitzen so freundlich auf mich einsamen Wanderer. Wieder ergriff mich ein tiefes Gefühl der Verlassenheit. Doch bald bekam ich ein anderes Empfinden. Eine Anzahl junger Männer in meinem Alter standen an dem Straßenzaun. Bei meinem Anblick schrieen sie mir laut: „Landstreicher!“ nach. Weil ich aber gewiss war, dass diese Arbeit zum Aufbau des Werkes Gottes diente, konnte ich diesen Spott leicht verschmerzen.

Ich hatte bei dieser meiner Missionsarbeit auch mancherlei andere Erlebnisse. Ich ging von der Straße auf ein Haus zu, da schrie mir ein Mann in den mittleren Jahren entgegen: „Bringen Sie uns lieber Schkafika (versiegelte Schnapsflaschen) und Bier und Tabak. Diese sind uns viel nötiger, als die heiligen Bücher!“ Ein anderer Mann aber, der das mitangehört hatte, kam von seinem Hof, nahm mich freundlich in sein Haus. Er tröstete und ermutigte mich, treu und unerschrocken bei meiner Arbeit zu bleiben. Durch mein Missionieren würden manche Menschen, die sich noch in tiefster Finsternis befinden, aus ihrer Sklaverei befreit werden.

Bevor ich mich auf meiner Kolportagereise in eine fremde Gegend begab, erkundigte ich mich immer nach Gläubigen und gewissenhaften Leuten in dem Ort, bei denen ich mich auch mit den Büchern und Geld sicher fühlen konnte. Eines Abends wollte ich bei einer, mir von einem zuverlässigen Mann empfohlenen, Familie einkehren. Als ich auf ihren Hof kam, hörte ich Zank und Streit. Beim Begrüßen beruhigten sie sich. Ich sagte ihnen, dass ich zu ihnen zum Übernachten empfohlen worden bin und fragte, ob ich die Nacht bei ihnen zubringen könne. Sie waren sofort sehr willig und führten mich in ihr Haus.

Aber sehr bald waren sie draußen, und der Zank setzte ganz kräftig ein. Ich fühlte mich dadurch sehr bedrückt, und nach einer Weile packte ich meine Sachen und war im Begriff, von ihnen fortzugehen. Als sie mein Vorhaben merkten, erschraken sie sehr und fragten mich, wo ich hinwolle. Sie waren sehr bestürzt, als ich ihnen sagte, dass ich mir einen anderen Platz suchen wolle, und bat um Entschuldigung wegen des Störens. Nach langem Forschen nach der Ursache meines Weggehens, sagte ich ihnen offen, dass ich mich ihres Streites wegen nicht wohl fühle. Nun war der Zank zu Ende, beide standen in der Tür und ließen mich nicht fort. Sie baten mich, ihnen zu helfen. Darauf stellte ich meine Büchertasche hin, hängte den Mantel und Mütze an den Nagel. Das Ehepaar setzte sich mit mir an den Tisch. Sie baten mich nochmals ihnen doch zu helfen, dass sie zurechtkämen. Beide beklagten und beweinten ihre Streitereien. Sie beteten mit gebrochenem Herzen zu Gott und versöhnten sich. Das waren gesegnete Stunden! Am nächsten Morgen ließen sie mich auch nicht so früh fort wie auf anderen Plätzen. Sie wurden meine Freunde und wir hatten längere Zeit intensiven Briefwechsel in inniger Verbundenheit. Solche und ähnliche Abschiede hatte ich öfter.

 

Einer älteren, vornehmen Dame bot ich auch eine Bibel an. Die Antwort war, sie habe eine große, schöne, ganz alte vom Großvater geerbt. Diese Redewendungen waren mir bekannt, und ich bat sie, mir diese Bibel doch zu zeigen. Sie zögerte, ging dann aber, öffnete eine große Lade, suchte und kramte, bis sie die Bibel endlich eingepackt und eingewickelt hervornahm. Als sie die Bibel öffnete, lagen in ihr 10 und 100 Rubelscheine und andere wichtige Papiere. Ich versuchte dann die Dame zu überzeugen, dass die Bibel, die sie zum Aufbewahren von Geld und wichtigen Papieren benutzte, ihr doch als Bibel nichts nützen könne. Mein Rat an sie war dann, die Bibel nicht mehr einzupacken und wegzupacken, sondern auf den Tisch zu legen und zu lesen. Nach längerem Gespräch konnte ich die Dame überzeugen, und sie sagte: „Es soll ab sofort in unserem Hause anders zugehen. Gott helfe uns dabei!“

 

Am Ende eines Dorfes begegnete ich einmal einem Kolporteur. Er zeigte mir viele der Häuser, die er schon bedient hatte. Trotzdem ging ich auf inneres Drängen in das Haus, aus dem er eben herausgekommen war. Er wartete vor der Tür und fragte mich sofort beim Herauskommen: „Haben die Leute ihnen etwas abgekauft? Es scheinen recht arme Leute zu sein“. „Ja“, sagte ich ihm, „das waren sehr arme Leute, sie hatten keine Bibel und kein Testament“. „Und jetzt?“, fiel er ein. „Jetzt aber haben sie ein Testament“. Er meinte dann, wohl eins für 15 Kopeken? „Nein“, antwortete ich, „eines für 80 Kopeken!“ Erstaunt fragte er, wie das wohl zuginge. Er habe doch auch sein Möglichstes getan, ohne Erfolg. Er drang weiter auf mich ein, und ich erklärte ihm, dass ich bemerkte, in diesem Hause fehle die Heilige Schrift. Ich legte ein Testament auf den Tisch und wollte gehen. Aber sie wollten es bezahlen und wählten die bessere Ausführung.

Lebhaft kommt mir ein anderer Fall in den Sinn. Ich war in ein Haus eingetreten und bot den Leuten eine Bibel an. Der Mann antwortete in einem barschen Ton: „Wir haben Bücher genug!“ In dem Moment sah ich aber, dass der Frau, die sich am Herd zu schaffen machte, die Augen feucht wurden. Sehnsüchtig schaute sie auf das Buch, blieb aber stille. Ich merkte der Frau an, dass sie nach Gottes Wort ein Verlangen hatte. Ich entschloss mich, nicht aus dem Haus zu gehen, ohne die Bibel dagelassen zu haben. Aus den Worten des Mannes ging ja hervor, dass sie wohl Bücher, aber keine Bibel hatten. So schilderte ich die Kostbarkeit der Bibel und bat den Mann, dass er doch nicht ohne das liebe Wort Gottes leben möchte. „Es ist kein Geld da!“ – gab er mir schließlich in abweisendem Ton zur Antwort. Die Frau sagte nichts, aber ihre Blicke sprachen zu mir: Ich sollte noch mehr auf den Mann einreden.

Ich fasste den Entschluss, nicht von dort wegzugehen, ohne Gottes Wort dort gelassen zu haben. Das Letzte wäre, dass ich eine der billigeren Bibeln ihnen ohne Bezahlung überlasse. Diese hungrige Frau musste die Möglichkeit bekommen, Gottes Wort zu lesen. Zuerst wollte ich doch versuchen, ihn zum Kauf einer besseren Ausgabe der Bibel zu überreden. Ich sagte, dass es nicht am Geld, sondern am Wollen liege und zeigte aufs Nebenzimmer und behauptete, dass dort Geld wäre. Ich folgte meiner inneren Eingebung, als wüsste ich, dass dort Geld sei. „Es ist kein Geld da, nicht wahr, Frau?“ – sagte er noch einmal. Aber die Frau schwieg. Ich redete noch ein wenig und schließlich sagte er: „Wenn da Geld ist, Frau, dann gehe und gib ihm den Rubel!“ Die Frau ließ sich das nicht zweimal sagen, holte den Rubel, nahm die Bibel, drückte sie an ihre Brust, und mit Tränen in den Augen lief sie ins Nebenzimmer. Ich weiß nicht, wie es bei den Leuten weiter ging, habe sie nie mehr gesehen. Aber soviel wusste ich: Die Frau hatte Hunger nach Gottes Wort, der Mann war satt. Die Satten wissen bekanntlich nicht, wie es den Hungrigen zu Mute ist.

Der Herr kann die harten Herzen erweichen und die hungrigen Seelen sättigen. Diese Arbeit, das Anbieten und Verkaufen von Bibeln und Testamenten, war für mich sehr interessant und segensreich. Ich kam dadurch in hunderte von Häusern, in viele Dörfer und Kolonien. Dabei habe ich viele Bibeln, Testamente und Bibelteile den Leuten ins Haus bringen können. Dabei machte ich auch viele schöne und gute Erfahrungen. Ich begegnete Leuten, die nicht allein eine Bibel oder ein Testament nötig hatten, sondern die auch in vielen Situationen trost- und hilfsbedürftig waren. Der Herr weiß, an wie vielen Krankenbetten, mit wie vielen nach Frieden schmachtenden und mit wie vielen schwerbedrückten Herzen ich dabei zusammenkam. Mit vielen weilten wir zusammen vor dem Angesicht des Herrn im Gebet. Sehr oft erklangen dabei auch Trostlieder.