Meine Schulzeit

Meinen ersten deutschen Unterricht bekam ich von meiner Mutter neben ihrem Spinnrad. Das erste Schulbuch war das Neue Testament. Während meiner Schulzeit wohnten wir gerade in solchen Kolonien, in denen es noch keine Schulen gab. Ich schätzte die Kinder, die regelmäßig die Schulen besuchen konnten, als die Glücklichen; vielleicht, weil ich auch einen großen Trieb zum Lernen hatte.

Weil meine Eltern außer der großen Landwirtschaft noch eine Grütz- und Ölmühle hatten, musste auch ich schon schwer und viel arbeiten. Meine Lese- und Schreibbücher hatte ich fast immer bei mir in den Taschen. So nahm ich jede Minute wahr, daraus zu lernen und mich darin zu üben. Das Schreibpapier wurde nicht gleich vernichtet, sondern zwei- oder dreimal beschrieben. Jede freie Zeit und Gelegenheit wurde zum Schreiben und Üben ausgenutzt: auf der Kammraddeichsel beim Pferdetreiben, beim Mahlen das Getreides usw. Auf dem Weg zur Arbeit diente mir der Sensbaum auf meiner Schulter oder andere Gegenstände, die ich trug, als Schreibunterlage. Fast jeden Brettabfall, ehe er verbrannt wurde, habe ich zuerst mit dem Bleistift, dann mit Kreide und oft auch noch mit Messer und Steinen bekritzelt. Gelesen habe ich oft in Wäldern oder wenn ich auf einem freien Platz allein war; und zwar so laut, wie ich es nur aussprechen konnte. Mein Vater vertrat die Ansicht, dass sich jeder Mensch, seiner Berufung gemäß, die Ausbildung dazu selbst aneignen könne.

Mir half auch die Sonntagsschule viel, denn da lasen wir laut ganze Abschnitte. Später hatte ich auch noch die Gelegenheit, Privatunterricht zu nehmen. Als ich dann zum Singchor genommen wurde und schon etwas Notenkenntnisse besaß, wollte ich auch sehr gern noch mehr davon erlernen. Ich wusste, dass ich dieses bei meinem Bruder Theodor, der viele Jahre Dirigent gewesen war, am besten erlernen und am schnellsten begreifen würde. Mein Bruder hatte aber in seiner Landwirtschaft sehr viel zu tun, er konnte die Zeit zum Unterrichten nicht aufbringen. So half ich ihm beim Roggendreschen. Wir nutzten dann die Zeit der Mittagspause oder früh morgens sowie in den Abendstunden zum Erlernen der Noten, das Anstimmen der Lieder nach den verschiedenen Tonarten und das Singen der verschiedenen Stimmen. Was ich dort gelernt hatte, konnte ich für mein weiteres Leben gut gebrauchen und verwenden.

Kurz darauf hörte ich, dass mein Bruder Adolf vom Militärdienst zurückgekommen war und in Kiew sich für eine Lehrerstelle beworben hatte. Er gab inzwischen schon Privatunterricht. Um mich bei ihm weiterzubilden, besuchte ich ihn dort. Stundenlang war ich dort mit etwa 60 Kindern, die in deutscher und russischer Sprache unterrichtet wurden, zusammen. Ich konnte auch dort manches lernen und wurde auch zum Unterrichten eingesetzt.

Bald erfuhren das die Leute in meinem Dorf. Sie schrieben mir, dass ich nach Hause kommen und ihre Kinder unterrichten solle. So kehrte ich dann in meine Heimat zurück. Im Nebenraum einer Kapelle begann dann der Privatunterricht für etwa 40 Kinder im Alter von 6 bis 16 Jahre, in deutscher und russischer Sprache. Ich hatte wirklich sehr viel Weisheit und Gnade nötig, um allen gerecht zu werden. Weil aber der Wunsch in mir lag, den Menschen zu helfen, fiel es mir auch nicht schwer nur 3-4 Stunden zu schlafen. Ich brauchte ja auch einige Zeit, um mich für den Unterricht von so vielen alters- und bildungsmäßig verschiedenen Kindern vorzubereiten.

 Außer dem Unterricht der Kinder gab es für den Lehrer in dieser Kolonie auch noch viele andere wichtige Aufgaben. Wenn es irgendwo etwas Schwieriges zum Schreiben oder Lesen gab, behördliche oder gerichtliche Sachen, sofern es niemand entziffern oder schreiben konnte – der Lehrer musste es wissen und können. Man kam zu ihm mit allerlei schwierigen Fragen und Klagen, manchmal auch während der Schulzeit.

Bald lebte ich mich in diesen Aufgaben ein und hatte rechte Freude an meiner Arbeit. Nur hatte ich mich an ein immer lauteres und zuletzt an ein zu lautes Sprechen gewöhnt. Es mag auch dazu beitragen haben, dass manche von den älteren Kindern das Anschreien von zu Hause gewöhnt waren und anders gar nicht Acht gaben.

Während einer Mittagspause dachte ich intensiv darüber nach, ob die Kinder aus der Schule auch einen Segen und Gewinn für ihr Leben mitnahmen und ob meine Handlungsweise dazu beitrüge? Ich bat inständig den Herrn, mir zu zeigen, wie ich richtig handeln solle. Ich sah dann bald gewisse Fehler ein und entschloss mich, weiser zu handeln. Diesen meinen Entschluss teilte ich auch den Kindern mit. Ehe ich sie an diese meine neue Weise gewöhnte, gab es Missverständnisse. Aber mit der Zeit, und dann bis ans Ende der Schule, ging es recht gut. Gott sei dafür gedankt! Am Ende des Schuljahres empfahlen sich manche der Fürbitte. Mein Gewissen war dadurch auch befriedigt.