Ruf und Reise nach Brasilien

Wegen meiner israelischen Abstammung war für mich während des Naziregimes eine Tätigkeit in Deutschland nicht mehr möglich. Als Br. Waurich die Verantwortung für die Gemeinde Essen übernommen hatte, ging es noch für eine Zeit. Dann aber wurde der Druck auf die „Nichtarier“ immer stärker und ich gab es gänzlich auf, in Deutschland am Wort zu dienen. Wohl sahen die meisten unserer Geschwister in der Gemeinde Essen die Gefahr nicht für so groß an und wollten mich unbedingt als Prediger behalten. Es benötigte drei Gemeindestunden, dass ich mich von der Gemeinde lösen konnte, und sie nahmen dann Br. August Borbe als meinen Nachfolger an.

Das Schwerste von allem war, mich von den Mitarbeitern und Mitpredigern zu lösen. Ich war so sehr mit ihnen verbunden, dass es mir schwere Kämpfe bereitete, von ihnen zu scheiden. Durch die Jahre der gemeinsamen Arbeit waren wir miteinander verwachsen. Ich hatte große Sorgen um die Zukunft des Werkes. Da kam mir der Herr entgegen und sprach zu mir: „Wenn das Werk auf dich gebaut ist, mag es untergehen. Wenn es aber auf den Herrn gegründet ist, wird es bestehen.“ So konnte ich mich innerlich lösen und übergab mich, meine Familie und das Werk in Gottes Hände.

Die Gemeinde wagte es auch nicht, mich noch weiter zu unterstützen und so war auch die finanzielle Versorgung plötzlich abgeschnitten. Da wir nichts Erspartes hatten, standen wir plötzlich mittellos da. Der Herr aber sorgte auf seine Weise für uns und ließ uns nicht untergehen. In jener Zeit kam von Brasilien die Bitte, einen Prediger zu senden. Der Brief ging an Br. Rose, der damals der Vorsteher der Missionszentrale war. Br. Rose sandte den Brief an mich und nach vielen Gebeten sahen wir deutlich unsern Weg nach Brasilien.

Br. Zuber gab mir damals den Rat nach Polen zu gehen, weil dort die Notwendigkeit so sehr groß war. Als ich aber bei dem polnischen Konsulat anfragte, bekam ich keine Einreiseerlaubnis. Was wäre aber aus uns geworden, wenn wir nach Polen gegangen wären? Wahrscheinlich hätte man mich mit vielen anderen Israeliten umgebracht. Bekanntlich wurden ja unter Hitler 6 Millionen Juden kaltblütig vernichtet. Meine beiden Söhne, die zurückblieben, mussten auch darunter leiden und kamen nur wie durch ein Wunder mit dem Leben davon.

Unvergesslich ist mir, dass Geschwister Grannas damals den Mut hatten, uns für einige Tage in ihrer Wohnung aufzunehmen, bis unsere Papiere zur Ausreise in Ordnung waren. Als die Stunde der Abreise kam, hatten einige Geschwister trotz großer Gefahr die Liebe, uns auf den Bahnhof zu begleiten und von uns Abschied zu nehmen.

Nun sind schon 31 Jahre vergangen, seitdem wir unsere Kinder, Enkelkinder und die Gemeinden nicht mehr gesehen haben. Mancher Ruf kam in der Zeit von drüben, wieder zurückzukommen, auch zur Mitarbeit. Als Br. Zuber noch lebte, schrieb er mir unter anderem: „Mit Tränen denke ich an die Zeit, als du noch in Deutschland warst. Mit welcher Liebe und Einheit haben wir zusammengearbeitet!“ Und er bat mich, wieder zurückzukommen und mit ihm im Werke zusammen zu wirken.

Das menschliche Gefühl war manchmal stark, insbesondere als meine Frau noch lebte, unsere Kinder, Enkelkinder und das Werk noch einmal zu sehen. Bis jetzt aber hat mir der Herr noch keine Erlaubnis dafür gegeben. Wir stehen in dem heiligen Krieg. Wenn Gott uns an einen Platz gestellt hat, haben wir kein Recht, diesen zu verlassen, auch wenn Gefahr oder der Tod drohen – es sei denn, wir bekommen dazu wieder den Befehl von oben.

Als ich noch in Deutschland war und mir der Gedanke an Brasilien schwer wurde, redete der Herr zu mir und tröstete mich mit dem Gedanken, dass der Himmel in Brasilien geradeso nahe ist wie in Deutschland. Und wenn unser Heiland aus Liebe für uns den Himmel mit seiner Herrlichkeit verlassen konnte, wo er doch genau wusste, was ihn auf dieser Erde erwartete, so kann ich auch aus Liebe zu ihm und zu seinem Werk nach Brasilien gehen.

Durch Beschreibungen, Bücher und Fotos wusste ich etwas, was uns begegnen würde und war darum mit dem Leben im Urwald nicht ganz unbekannt. Denn die Gemeinden, denen wir in Brasilien dienen sollten, waren Gemeinden von Siedlern, die dort ihren Anfang gemacht hatten. Darum machte ich auch demgemäß eine Übergabe. Und als wir ankamen, war ich nicht enttäuscht. Dem Herrn sei Dank für alles – auch für die Gnade, eine solche Umstellung zu ertragen.

Dabei möchte ich meiner Frau besonders gedenken. Auch sie war ganz ergeben. Nicht einmal sah ich sie unzufrieden; auch nicht hier in Brasilien, wo so viel Schweres auf sie wartete. Sie war ergeben bis zu ihrem Abscheiden am 3. August 1963. Denken wir an ein Mutterherz, was es ihm kostet, sich von den Kindern zu trennen und sie nicht mehr zu sehen.

Vor unserer Abreise bekam ich ein Schreiben von dem Werk in Deutschland, dass wir im Vertrauen von ihnen scheiden und sie mit ihren Gebeten hinter uns stehen. Von der Gemeinde in der Schweiz erhielt ich eine Generalvollmacht, die mir erlaubte, in ihrem Namen geschäftlich zu verfügen. Ebenso standen wir in einem Vertrauensverhältnis mit allen unseren Gemeinden in den übrigen Ländern Europas, in denen unsere Geschwister lebten.