Das Lamm lehrt uns die Selbstverleugnung

Wir lesen in Phil. 2:7-8: „Er entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an... Er erniedrigte sich selbst und wurde gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz“. Die tiefste Bedeutung des Kreuzes ist die Erlösung vom eigenen Leben, wie Paulus sagt: „Er ist darum für alle gestorben, damit die, die da leben, hinfort nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist“ (2.Kor. 5:15). Wir haben erst dann das Kreuz verstanden und die Kraft des Kreuzes erfahren, wenn wir mit Paulus sagen können: „Unser keiner lebt sich selber!“ (Röm. 14:7).
In allem, was selbstisch ist, wirkt die Macht Satans. Solange wir das eigene Leben nähren, halten wir uns unter dem Fluch, denn Gott hat das Eigene im Menschen verflucht in dem Kreuz. Das „eigene Ich“ ist gleichbedeutend mit „Fleisch“, und fleischlich gesinnt sein, ist Feindschaft gegen Gott (Röm. 8:7). Fleisch ist der tiefeingewurzelte Egoismus. Der egoistische Mensch will alles für sich haben, sich überall zum Mittelpunkt machen, und wo ihm dies nicht gelingt, zieht er sich tiefgekränkt zurück. Das eigene Ich oder das Selbst wird uns in der Heiligen Schrift in sechs Hauptgestalten gezeigt. Sonst wird es auch das tausendköpfige Ungeheuer, „die Mutter aller Sünde und allen Elends“ genannt. Wir betrachten die sogenannten sechs Gestalten. 
Selbstvertrauen. Es ist nicht genug, dass wir uns Gott anvertrauen. Er muss sich auch uns anvertrauen können. Wir lesen in Joh. 2:24: „Aber Jesus vertraute sich ihnen nicht an, denn er kannte sie alle“. Welchen Leuten kann sich Jesus anvertrauen? Solchen, die ihm folgen bis zum Kreuz, die nicht mehr Gaben und Segnungen suchen, sondern ihn. Johannes folgte Jesum bis zum Kreuz, und ihm vertraute der sterbende Meister seine Mutter an – sein Bestes, das er auf Erden hatte. Gott zieht uns alles unter den Füßen weg, bis uns nichts mehr bleibt als er allein. Er hat immer das höchste Ziel im Auge, die Erlösung vom eigenen Leben. Wir müssen lernen, ihm zu vertrauen. Und dazu gehören oft auch Niederlagen. Man erzählt von Jakob, dass er mit Gott gerungen habe. Wenn wir aber 1.Mose 32 lesen, so finden wir, dass geschrieben steht: „Da rang ein Mann mit ihm“ (V. 24). Und als Jakob verrenkt am Boden lag, da rief er aus: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“ Nachdem Paulus blind und hilflos am Boden gelegen hatte, konnte er rühmen: „Ich vermag alles ...“ Als er nichts mehr vermochte, vermochte er alles.
Selbsthilfe ist eine andere Gestalt des eigenen Ich. Nichts scheint für unsere Natur schwerer zu sein, als zu schweigen und zu warten. Unzählige Male haben wir uns selbst geholfen oder doch wenigstens helfen wollen und haben uns so große Schwierigkeiten bereitet und unsern Gott betrübt. In Psalm 37 finden wir drei Arten der Gebetserhörung:
1. „Habe deine Lust am Herrn; der wird dir geben, was dein Herz wünscht“,
2. „Befiel dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn“,
3. „Sei stille dem Herrn und warte auf ihn“.
Nur wer sich Gott übergeben hat, kann sich ihm überlassen. Bewusst übergibt man sich ihm Stunde für Stunde, und so lernt man, auch im Dunkeln sich Gott zu überlassen. Erst wenn wir Glauben üben, kann Gott unseren Glauben prüfen. In 1.Mose 15 lesen wir von Abraham, wie sein Glaube geprüft wurde, indem er bei seinem Opfer auf Gott warten musste. Ein weiteres Merkmal der Selbsthilfe ist, dass wir den Beschwerden aus dem Weg gehen. Wir versuchen immer, es uns leichter zu machen. So machte es Jesus nicht. Er trug sein Kreuz. Und am Kreuz erkannte er seine Nachfolger. Du sagst: „Dieser und jener muss aus dem Haus, er beschwert uns das Leben!“ Reiße dich nicht aus den rauhen Händen. Rauhe Hände braucht Gott, um uns vollkommen und schön zu machen. Wir lesen von Jesus: „Die Kriegsknechte flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie auf sein Haupt“ (Joh. 19:2). „Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen ... Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel“ (Jes. 50:6). Er hatte die Macht, sich selber zu helfen; aber er hat es niemals getan.
Selbstsucht ist eine weitere hässliche Gestalt des eigenen Ich. Was ist Selbstsucht? Wie das Wort sagt: Suchen für sich selbst. Sie ist das Gegenteil von Selbstlosigkeit. Der Selbstsüchtige ist ein Räuber; er stiehlt Gott das Seine und bringt an sich, was anderen gehört. Nicht nur auf dem Weltmarkt treibt die Selbstsucht ihr unseliges Spiel, sondern unter den Frommen, in den Hütten der Gerechten, in den Herzen derer, die vorgeben, dem selbstlosen Jesus nachzufolgen. Selbstsucht ist es, wenn man frömmer sein will, schöner beten will, als andere, wenn man beständig den Vorzug auf seiner Seite haben will. Die Schrift sagt: „Verflucht ist der Betrüger“, (der seinen Vorteil sucht) (Mal. 1:14).
Wenn die Liebe Jesu in uns erwacht, dann stirbt die Selbstsucht, dann herrscht nicht mehr das Gesetz des Fleisches, sondern das Gesetz des Geistes. Es hat jemand gesagt: „Wahre Hingabe trachtet immer danach, aufgeben zu dürfen um Jesu willen“. Selbstsucht ist es, wenn man das Mitleid der Menschen sucht, wenn man noch beleidigt wird usw. Wisst ihr, was das Geheimnis des Lebens Abrahams war? – „Nichts für mich!“ (1.Mose 14:22-24). Wie er dies praktisch in seinem Leben bewies, ist uns zur Genüge bekannt. Da haben wir die Lösung des Geheimnisses, warum Gott zu ihm sagte: „Ich will dir einen großen Namen machen ... In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden ... Das Land, das du siehst, will ich dir und deinen Nachkommen geben für alle Zeit“ (1.Mose 12:2-3; 13:15). Warum konnte Gott dies tun? Abraham suchte nichts für sich. Er war los von sich! Und das ist die schönste Frucht des Glaubens. Groß war sein Glaube und seine Selbstlosigkeit. Selbstlosigkeit ist Liebe. In der Liebe handelt es sich nicht um das Ich, sondern um das Du. Paulus schreibt: „Die Liebe ... erträgt alles, sie glaubt alles, sie duldet alles“ (1.Kor. 13:7).
Eigenwille ist die vierte Gestalt des eigenen Ich. Das Beste, was wir Gott geben können, ist unser eigener Wille. Die wahre Bekehrung besteht in nichts anderem, als ein für allemal den eigenen Willen aufzugeben und in allen Dingen Gottes Willen zu tun. Unsere ganze Lebensaufgabe besteht darin, Gottes Willen zu erfüllen! Das Lamm lehrt uns, den Willen Gottes mit Freuden zu tun. Es zeigt uns, dass wir nur darum einen Willen haben, um mit diesem Willen Gottes Willen zu tun. Gethsemane ist der wichtigste Punkt seines Lebens, und dort sprach er: „Vater, nicht mein Wille geschehe!“ Er verließ die Freude und erwählte das Kreuz, weil es des Vaters Wille war (Hebr. 12). In allem sprach er: „Ja Vater, also ist es vor dir wohlgefällig gewesen“. Er hatte nie einen Wunsch, der nicht in vollkommener Übereinstimmung mit dem Willen seines Vaters gewesen wäre. Daher erfreute er sich einer ununterbrochenen und vollkommenen Ruhe. Und er ladet auch uns ein, sein Joch auf uns zu nehmen, damit auch wir Ruhe finden für unsere Seelen. Wer gerne Frieden hätte, der breche seinen Willen, sonst kann ihn weder Gott noch alle Himmel stillen.
Israel nahm seinen Eigenwillen mit aus Ägypten, darum konnte es nicht zu seiner Ruhe kommen (Hebr. 3). Etwas wollen, was Gott nicht will, bringt unserem Inneren viel Zerrüttung, Unruhe, Schmerz und bewirkt Trennung von Gott. Der eigene Wille ist ein Tyrann. Aus dem Eigenwillen kommt der Eigensinn, und aus dem Eigensinn – der Irrsinn. Der Eigensinn hat viel mehr Leute ins Irrenhaus gebracht, als wir meinen. Der Eigenwille ist der Ruhestörer nicht nur in der Familie, sondern auch im Herzen. Wie Gott den Eigenwillen ansieht, sehen wir aus 1.Sam. 15:23: „Ungehorsam ist Sünde wie Zauberei, und Widerstreben ist wie Abgötterei und Götzendienst“.
Selbstgefälligkeit ist eine weitere Gestalt des eigenen Ich. In Röm. 15:1.3 lesen wir: „Wir aber, die Starken, sollen die Schwachheiten der Schwachen tragen und nicht Gefallen an uns selber haben ... Denn auch Christus hatte nicht an sich selbst Gefallen“. Wie sehr Christus los war von aller Selbstgefälligkeit, sehen wir am besten, wenn wir Jes. 53:3 lesen. Die Macht, die Gott seinem Sohn gab, bestand darin, der Allerverachteste zu werden. Und sein Gebot, das er ihm gab, beinhaltete, dass er sein Leben lassen sollte (Joh. 10:17-18). Nun haben wir eine praktische Auslegung für den bekannten Spruch aus Joh. 1:12: „Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht ...“ ihr Leben zu lassen! Ist das Macht? Ja, das ist des Lammes Macht. Und diese allein hat den Sieg davongetragen.
Selbstherrlichkeit ist die sechste Gestalt des eigenen Ich. „Ich suche nicht meine Ehre“, sagte unser Herr (Joh. 8:50). „Wir sahen seine Herrlichkeit“, sagte Johannes (Joh. 1:14). Wo sah er Herrlichkeit? In der Niedrigkeit des Gottessohnes! „Ganz herrlich ist die Königstochter drinnen“ (Ps. 45:14; Elbf. Ü.). Des Menschen Herrlichkeit ist immer nach außen; Gottes Herrlichkeit ist drinnen im Verborgenen. Erst wenn diese Herrlichkeit unser Herz erleuchtet, dann verstehen wir, was der Dichter sagt:
„Mein eigenes Ich sinkt hin in Schmach.
  Das Kreuz ist all mein Ruhm“.
Und dann suchen wir keine andere Herrlichkeit mehr als die Herrlichkeit des Lammes. Wenn wir uns für den Segen des Geistes öffnen, wie er in Hesekiel 36 beschrieben ist, zerstört er bei uns nicht nur das „grobe Fleisch“, sondern auch das „fromme Fleisch“. Und es wird wahr, was Gott sagt: „Und sie werden über sich selbst Ekel empfinden“ (Hes. 6:9; Elbf. Ü.) Das ist das Gegenteil von Selbstherrlichkeit.