Die gestohlene Frühstückstasche

Als Bruder Otto Volts und ich eines Tages Federalsburg verlassen wollten, händigte uns eine Schwester ein Frühstückspaket von ziemlicher Größe aus. Ein gebratenes Hähnchen sowie manche andere gute Dinge zum Essen waren darin.

Nach einiger Zeit erreichten wir Baltimore, wo wir zwei Stunden Aufenthalt hatten. Bruder Volts schlug vor, eine kurze Besichtigung der Stadt vorzunehmen. Ich schob die Frühstückstasche unter eine Bank im Warteraum und bemerkte, dass sie während unserer Abwesenheit gestohlen werden könnte. Der Bahnhof war von einer Menschenmenge belebt, doch als wir zurückkehrten, waren die meisten bereits fort – und unsere Frühstückstasche auch. Nach kurzem Nachdenken sagte ich zu Bruder Volts:

„Ich will versuchen, unsere Frühstückstasche zu finden oder den Burschen, der sie genommen hat.“

„Du wirst weder die Tasche noch den Dieb finden“, entgegnete er.

„Ich will wenigstens einen verzweifelten Versuch machen.“

Bruder Volts schaute mir nach, als ich zum Fahrkartenschalter ging, wo ein Polizist stand und die Ellbogen auf das Gesims lehnte. Mit einem freundlichen Lächeln näherte ich mich ihm, legte meine Ellbogen auch auf das Gesims, schaute ihn wahrscheinlich ziemlich dumm an und sagte:

„Vorhin schob ich unter jene Bank eine Frühstückstasche und jetzt ist sie fort. Können Sie mir vielleicht sagen, wo sie ist?“

„Nein, das weiß ich bestimmt nicht, vielleicht hat sie jemand gestohlen.“

„Wird denn hier gestohlen?“

„Sicher stehlen sie hier“, sagte der Polizist und biß sich dabei auf die Lippen, denn meine Haltung und der Ton meiner Worte reizten ihn zum Lachen.

„Wer wird es wohl gestohlen haben?“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen.“

Aus meiner scheinbaren Unkenntnis schloss der Polizist, dass ich wohl noch nicht viel gereist wäre und sagte: „Wir wollen einmal sehen, was wir für Sie tun können.“ Nachdem er ohne Erfolg alle Plätze unter den Bänken abgesucht hatte, fragte er mich, ob ich schon am Paketschalter gewesen sei.

„Paketschalter, was ist das?“

„Es ist ein kleines Zimmer draußen am Bahnhof, wo die Reisenden ihre Taschen und ihr Handgepäck abgeben. Dort wollen wir einmal fragen.“

Er fragte den Beamten am Paketschalter, ob ihm eine Frühstückstasche ausgehändigt worden sei, und erhielt die Antwort, dass seit drei Tagen nichts Derartiges eingegangen sei. Darauf sagte der Polizist:

„Vielleicht weiß es der Zugabfertiger, der dort steht.“

So erzählte ich meine Geschichte jenem Mann und erhielt die freundliche Auskunft, dass er selbst nicht wisse, wo der gesuchte Gegenstand sei, aber mir gerne helfen wolle, ihn zu finden. Wir gingen wieder in den Bahnhof und fragten einen Gepäckträger, aber auch er hatte nichts gesehen. Dann fragte der Mann einen anderen Zugabfertiger, der in der Nähe stand. Auch dieser wollte nichts von der Frühstückstasche gesehen haben. Als ich ihm jedoch eine besonders deutliche Beschreibung davon machte, sagte er endlich:

„Ja, ich sah, wie Pete mit jener Tasche hinausging.“

„Pete, wer ist Pete?“ fragte ich, nahm schnell ein Stück Papier und Bleistift zur Hand und schrieb mir die Merkmale dieses Mannes auf, der ein Mulatte von vielleicht 21 Jahren war. „Wo ging er hin?“

„Er ging zum Paketschalter und zuletzt sah ich ihn, wie er die Schienen entlang ging.“

Mit der Beschreibung in der Hand schlug ich die erwähnte Richtung ein. Es galt, mehr als zwanzig Weichen und Nebengleise zu überqueren. Nachdem ich eine Zeitlang gegangen war, sah ich einen Mann, auf den die Beschreibung paßte. Ich rief ihm zu:

„Heißen Sie Pete?“

„Das stimmt“, entgegnete er.

„Sie sind gerade der Mann, den ich suche. Wo ist meine Früh-stückstasche?“

„Ich weiß nichts davon.“

„Sie wissen es doch. Sie sind gesehen worden, wie Sie mit ihr aus dem Bahnhof eilten. Wo haben Sie die Tasche hingetan?“

„Ich brachte sie zum Paketschalter.“

„Aber der Mann am Paketschalter sagt, dass er seit drei Tagen keine Tasche gesehen habe.“

„Er lügt, denn vor drei Minuten habe ich sie ihm ausgehändigt.“

„Kommen Sie mit mir, Pete! Die Geschichte muss aufgeklärt werden.“

Der Mann folgte mir ziemlich widerstrebend. Als der Paketschaffner uns sah, sagte er: „Ich habe jetzt keine Zeit für euch. Ich möchte jetzt das Gepäck für den nächsten Eilzug fertig machen.“

“Gut“, sagte ich und wir schritten in eine Ecke, wo er uns nicht sehen konnte. Kaum waren wir außer Sichtweite, da stand unser Mann schon wieder am Schalter. Sofort standen wir wieder vor ihm und forderten die Frühstückstasche.

„Sagte ich Ihnen nicht, dass seit drei Tagen nichts Derartiges eingelaufen ist?“

„Das stimmt, aber Pete sagte, dass Sie lügen.“ Nun sah der Mann zwischen seinem Gepäck und in jedem Fach nach, um den Anschein zu erwecken, dass er sich geirrt haben könnte, aber meine Frühstückstasche fand er nicht. Jetzt stützte ich meine Hände auf den Abfertigungstisch und erklärte: „Geben Sie jetzt mein Eigentum zurück, sonst werde ich es mir selbst holen.“

Nun griff er in ein Fach, vor dem er stand, zog die Tasche heraus und gab sie mir, ohne ein Wort zu sagen.

Dann sagte ich: „Ich danke Ihnen“ und gab Pete zu verstehen, dass jetzt gehen könne.

Bruder Volts hatte aus einiger Entfernung die ganze Geschichte beobachtet und als ich ihm die Tasche zeigte, rief er aus: „Ich dachte, du würdest sie nie wiedersehen.“ Der Inhalt jener Frühstückstasche schmeckte uns später besonders gut.