Prüfungen

Unmittelbar nach jener großen, schon beschriebenen segensreichen Versammlung in Wolhynien, während der sich 80 Personen bekehrt hatten, wurde ich krank. Seit längerer Zeit hatte ich bereits ein Unbehagen in meinem Körper gespürt. Es war vorgekommen, dass ich in Gebetsversammlungen nach langem Knien kaum mehr aufzustehen vermochte. Zweimal empfing ich auf ernstes Gebet Hilfe vom Herrn. Gott gab mir die nötige Kraft und Gesundheit, immer noch weiterarbeiten zu können.

Eines Morgens, als ich mich wieder ganz elend und schwach fühlte, blieb ich im Bett. Es wurde mit mir so schlimm, dass ich innerhalb dreier Tage nicht mehr soviel Kraft besaß, allein aufzustehen und mich anzukleiden. Am Sonnabend Abend kamen die Leute wieder scharenweise zur Gebetsstunde. Aus einem besonderen Grund war aber mein Bett in den Saal gestellt worden. Der Saal war nämlich von der Obrigkeit noch nicht bestätigt. Und zu jener Zeit bestand das Gesetz, dass ein Raum nicht beschlagnahmt werden durfte, wenn jemand darin seine Schlafstätte hatte. Deshalb diese eigenartige Vorkehrung. Die Geschwister und die Versammlungsbesucher wussten aber nicht, dass ich im Bett bleiben musste. Das Bett war auch so gestellt, dass man mich nicht so schnell bemerken konnte. Als sich der Versammlungsraum mehr und mehr füllte, ging ein Flüstern herum: „Wo ist denn der Bruder?“ Schließlich erzählte einer dem andern, dass ich krank sei. Das ging den Geschwistern in ihrer Liebe und in ihrem Eifer sehr zu Herzen. Obwohl jung im Glauben, waren sie doch sehr ernst und eifrig. Ich kann es keinem Menschen beschreiben, was für Gefühle mich an jenem Abend bestürmten. Eine Schwester stand auf und schlug ein Lied vor. Und so stimmte die ganze Versammlung in das herrliche Lied:

 

Trau den Verheißungen, Bruder!

Fasst denn dein Glaube sie nicht?

Warum soll Zweifel dir nehmen

Das, was das Wort dir verspricht?

 

Jesus hat dir durch sein Leiden

Alles erkauft, und nun glaub,

Trau der Verheißung von Herzen,

Dass dir der Feind ja nichts raub!

 

Was du auch mögest bedürfen,

Bringe dem Herrn es nur dar.

Glaube, dass er dich erhöret;

Seine Verheißung ist wahr!

 

Offen für dich steht der Himmel,

Himmlische Schätze sind dein,

Bitte, so wird dir gegeben!

Glaube, so dringst du hinein!

 

Dieses Lied ging mir tief zu Herzen und ermutigte mich. Waren doch die meisten der Versammlungsbesucher unbekehrt, und sie sangen aus vollem Herzen und aus Liebe. In der Gegend war es schon sprichwörtlich geworden: „Wenn du feurige Gesänge hören willst, dann musst du nach Kuple gehen“. Nach dem Lied sagte dieselbe Schwester noch: „Lasst uns im Gebet auch an Bruder Malzon gedenken. Er liegt krank und kann uns heute Abend nichts sagen“. Beim Beten hat aber keiner auf den anderen warten brauchen, denn „wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“.

Als noch alle auf ihren Knien waren, strömte eine Kraft durch meinen Körper. Ich richtete mich auf meinem Lager auf. Nach dem Gebet sagte ich zu den Versammelten, dass ich gesund geworden sei. Ich würde ihnen eine Ansprache halten, wenn ich nicht im Bett wäre. Sie aber sagten, ich könne doch auch vom  Bett aus zu ihnen reden. So tat ich es auch, und wir hatten einen gesegneten Abend. Als Abschluss lud ich alle zu dem morgigen Sonntag ein. „Denn ich bin gesund“, wiederholte ich noch einmal. Am Sonntag Morgen stand ich auf, kleidete mich an und machte mich zum Gottesdienst fertig. Wieder versammelte sich die Menge, und ich habe vormittags und nachmittags gepredigt. Dem Herrn sei Preis und Dank!

Etwa eine Woche danach erkrankte ich jedoch wieder in ähnlicher Weise. Es schien, als könnte ich mich jetzt nicht mehr so recht zum Glauben aufschwingen. Angesichts der vielen Arbeit war das für mich eine harte Prüfung. Der Herr gab mir auf meinem Krankenlager manche Lektion zum Lernen. Ich hatte den Herrn gebeten, mich demütig zu erhalten. Und nun kam der Herr von einer anderen Seite, als ich erwartet und gedacht, um sein Ziel bei mir zu erreichen. Mehrere waren der Meinung, dass ich von dieser Krankheit nie mehr gesund würde. Es gab in jener Gegend einige, die von dieser Krankheit befallen waren. Sie konnten entweder die Füße oder die Hände nicht mehr gebrauchen. Wieder legte ich mich ganz in die Hände des Herrn und sagte ihm: „Herr, wenn du willst, dass ich noch weiter für dich arbeiten soll, dann wirst du mich gesund machen. Und wenn du es anders beschlossen hast, so bin ich willig, nach deinem Rat alles auf mich zu nehmen“.

Nach kurzer Zeit wurde ich gesund. Ich durfte erkennen, dass dies eine Prüfung von Gott für mich gewesen war. Er wollte mich demütiger machen und für die Arbeit in seinem Reich besser zubereiten. Dem Herrn sei Preis und Dank für alles!

Später ließ es der Herr zu, dass ich noch durch eine andere Prüfung gehen musste. Meine natürliche Veranlagung ist, viel zu wagen und zu unternehmen. Es schien mir, als müsste solche herrliche Wahrheit, wie sie diese Reformationsbewegung in sich schließt, mit großem Eifer betrieben werden. Es sollten dafür alle guten Mittel angewandt werden. Schon oft musste ich an Mose denken. Obwohl er berufen war, das Volk Israel aus Ägypten herauszuführen, wurde er zu voreilig und erschlug den Ägypter. Und er musste fliehen. Bruder Ebel, an dessen gesegnetes Leben sich noch mancher erinnern wird, warnte mich einmal. Er war in Sorge, dass mich mein Wagemut in geistliche Schwierigkeiten bringen könnte.

Gerade in dieser Zeit trug es sich zu, dass in einer Gemeinde in Wolhynien allerlei Schwierigkeiten entstanden. Dieses führte zu einer gewissen Stellungnahme der leitenden Brüder gegen mich. Ich wollte auch gern gehorsam sein, und nahm es an als die Schule des Herrn. Es war doch mein fester Entschluss, alles zu lernen, was der Herr für mich zu lernen vorsah. Meine Seele verlangte danach, wirklich demütig zu sein. Aber es ist leicht erklärlich, dass der Feind sein Möglichstes tat, mich zu entmutigen und zu Fall zu bringen. Es waren mir vorher schon, und besonders zu dieser Zeit, gute irdische Angebote gemacht worden. Mein Bruder Adolf, der in der Stadt Omsk in Sibirien ein gutes Geschäft hatte, wollte mir den dritten Teil davon schenken. Ich sollte zu ihm kommen und sein Teilhaber werden. Jetzt flüsterte mir der Feind zu: „Das ist ein guter Ausweg, nun gib die geistliche Arbeit auf!“ Mir ging aber trotz allem das Werk des Herrn über alles, und ich behielt den Sieg. Gerade das Einnehmen der demütigen Stellung sicherte mir dann bei allen aufrichtigen Brüdern vollstes Vertrauen. Für diese Erfahrung bin ich heute noch Gott sehr dankbar. Sie hat mir in den späteren Jahren meiner Tätigkeit sehr gute Dienste geleistet. Und nicht nur mir allein, sondern auch anderen, denen ich davon erzählte. Oh, wie gut ist es, in Zeiten, in denen man vollkommen ratlos und allein steht, auf den Herrn zu schauen und ihm den Ausweg zuzutrauen. Er bahnt die Wege und hat in allen Prüfungen einen Ausweg. Die Bewährung zieht nach sich, dass uns größere Aufgaben übertragen werden können.

Es war mir ein großes Anliegen, dass in Kostopol, einer Stadt in Wolhynien, sich die Gemeinde vergrößerte. Um dieses zu begünstigen, versuchte ich, einige einzeln wohnende Familien zu veranlassen, in diese Stadt zu ziehen. Erst später erfuhr ich, dass es nicht immer gut ist, dass Leute von verschiedenen Plätzen in einen Ort zusammen ziehen. Es wäre besser, dass sie an dem Ort, an dem sie geistlich geboren sind, verbleiben. So war es in gewisser Hinsicht auch hier der Fall.

Von diesen zugezogenen Familien sagte mir eines Tages ein alter Mann, dass er mit mir reisen wolle. Er wollte Buße predigen, und ich den Glauben. Dies bot er mir mehrmals fast aufdringlich an. Ich hatte erfahren, dass sein Leben und Wandel nicht so war, wie die Schrift es von Christen verlangt. Er führte kein gutes Familienleben. Wohl nannte er sich ein Christ, hatte aber keine innere Erfahrung und keine Verbindung mit den Kindern Gottes. Ich konnte deshalb in diesen seinen Vorschlag nicht einwilligen. Schließlich zeigte er seine wahre Gesinnung. Drohend kündigte er mir an, dass etwas Unangenehmes für mich geschieht, wenn ich nicht zu seinem Angebot meine Einwilligung gebe.

Er suchte sich noch einige, die ebenso gesonnen waren wie er. Sie beschlossen zusammen zu bewirken, dass auch ich gezwungen würde, nicht mehr zu predigen. Eines Tages gab mir seine Tochter einen Wink, mit ihrem Vater nichts mehr zu schaffen zu haben. Er beabsichtigte, mir nur Schwierigkeiten zu machen. Drei Männer waren es, die sich gegen mich vereinigt hatten. Kühn hatte er zu den anderen gesagt, er werde es durchsetzen, mich zum Schweigen zu bringen. Ich würde nicht mehr lange predigen. Sein erster Versuch dazu bestand darin, dass er sich in der Stadt an einen Platz stellte und ein großes Geschrei und Geschimpfe anfing, so dass viele Leute zusammen kamen. Dann zog er mit bösen Worten über mich her. Er beschuldigte mich aller schlechten Dinge, die er sich nur ausdenken konnte. Ich ging zu ihm hin und fragte ihn, ob er etwas von mir wünsche. Wenn möglich, würde ich es ihm geben. Seine Absicht aber war, mich zu einem aufgeregten und harten Gegenwort zu veranlassen. Wenn ich dann wieder predigte, hätte er eine Anklage gegen mich gehabt.

Als dieser Versuch fehlgeschlagen war, kam er bald darauf in mein Zimmer, in dem ich ganz alleine war. Er beschimpfte mich mit harten Worten. Als er merkte, dass er auch damit nichts erreichte, schlug er mir ins Gesicht. Als ich immer noch nicht böse wurde und ihm kein Wort entgegnete, spie er mir ins Gesicht. Schließlich drohte er mit dem Tode und sagte, dass durch seine Faust schon mehrere ins Grab kamen. In diesem Moment kam mir die Schriftstelle in den Sinn: „Ihr habt noch nicht bis aufs Blut widerstanden in den Kämpen wider die Sünde“ (Hebr. 17:4). Ich schaute auf zu Gott und betete leise: „O Gott, jetzt ist die Zeit, wo ich Gnade und Geduld von dir nötig habe!“ Und Gott sei gelobt! Er gab mir Kraft, stille zu sein. Da der Mann nun sehen und erfahren musste, dass alle seine Anstrengungen nichts auszurichten vermochten (ich hatte ihn noch freundlich angeredet), nahm er seinen Kopf in beide Hände und lief brüllend in einen Holzschuppen hinein.

Ich kannte seine wahre Absicht nicht und dass er zu den anderen gesagt hatte, er werde mich auf jeden Fall zum Schweigen bringen. Nun war es ihm nicht gelungen, seinen Plan durchzuführen. Seine Versuche hatten fehlgeschlagen. Jetzt hörte ich ihn im Holzschuppen laut heulen. Ich befürchtete, dass er etwa von Sinnen ist und gar wahnsinnig wird. Ich ging zu ihm hinaus, er solle es sich nur nicht so zu Herzen nehmen, er könnte Schaden leiden. Dann rief ich meine Frau und sagte ihr, sie solle ihm ein gutes Vesper bereiten. Ich lud ihn ein, mit hereinzukommen. Es hat mir aber viel Überredungskunst gekostet, bis er es tat. Meine Frau hatte schon lange mit dem Essen warten müssen, ehe ich mit ihm zu Tisch kam. Geschlagen und beschämt aß er. Nach dem Essen sagte er gebrochen, ich möchte ihm verzeihen, der Teufel hätte ihn betrogen.

Am darauf folgenden Sonntag aber konnte ich mit Freuden wieder predigen. Ich konnte vom Sieg in meiner Seele sprechen und Gottes Gnade und Hilfe bezeugen. Ich konnte dieses in seiner und seiner Kameraden Anwesenheit tun. Gott sei gedankt!