Die Siege der Wahrheit in meiner Heimat

Gerade zu Pfingsten des Jahres 1909 kam ich wieder in meiner Heimat an. In Andreufka (Wolhynien) wohnten meine nahen Verwandten.

In meiner Abwesenheit (über ein Jahr) hatte ich manches erfahren und dazu gelernt. Nachdem ich einen festen Grund des Glaubens unter meinen Füßen hatte, konnte ich auch eifriger ans Werk gehen. Ich ging mit großer Freudigkeit an die Arbeit für Gott. Ich hatte mich entschlossen, in meiner Heimat eine Hilfe zu sein, dass meine erweiterte Familie und die anderen Leute dort im Innern neu belebt würden. Gern wollte ich eine Hilfe sein, damit das ganze Christentum eine Neubelebung und Auferstehung des Glaubens erleben sollte. Ich war durch meine äußeren und inneren Erfahrungen im Glauben und auch in diesem Entschluss noch fester geworden.

Von Herzen war ich überzeugt, dass die Sünde die Hauptursache ist, die die Leute zum tiefen geistlichen Verfall bringt. Ich zweifelte auch nicht daran, dass dieser Verfall bis in die gläubigen Kreise hineinreichte. Ebenso sah ich, dass eine innere Umgestaltung bei den Menschen zustande kommen müsse, wenn ihnen geholfen werden soll. Ich nahm eine entschiedene Stellung gegen alle Unreinheit und Sünde ein und wirkte auf die Menschen ein, dass sie ein besseres, heiliges Leben führen sollten. Das nagende Gewissen würde dann verstummen und sie könnten mit Freude Christi Nachfolger werden. Dieses blieb auch nicht ohne Erfolg. Es ging den Leuten zu Herzen und es begann, in ihrem Innern zu arbeiten. Dieses sprach nicht nur die großen Sünder an, sondern auch die, die bekannten gläubig zu sein und es mit ihrem Wandel und Jesu Nachfolge nicht ernst nahmen.

Durch eine Unterredung meines Bruders mit einem Bekannten, namens Samuel, wünschte dieser junge Mann auch mit mir zu sprechen. Er gab eine bestimmte Zeit an zu diesem Gespräch. Seine Mutter war sehr gegen das Göttliche und sollte davon nichts wissen. Mein Bruder vermittelte mir dies, und wir gingen gemeinsam zu ihm. Mit großem Interesse hörte er zu, stellte einige Fragen, und wir beteten zum Schluss zusammen. Gleich am nächsten Tag fragte er mich, ob es möglich wäre, in seinem Haus Gottesdienst zu halten. Gern willigte ich ein. Und nun machte Samuel sich große Mühe, Leute dazu einzuladen. Er ging von Haus zu Haus, die eine Seite der Straße herunter, die andere hinauf. In den deutschen Kolonien in Wolhynien lagen die Häuser weit auseinander. So war auch diese Kolonie 4-5 Kilometer lang. Samuel lud sehr viele Leute ein und sagte ihnen, dass ein neuer Prediger heute Abend in seinem Haus Gottesdienst abhalten werde. Hätten die Leute gewusst, dass dieser neue Prediger der Rudolf war, den sie schon eine Reihe von Jahren kannten, wären sie wohl nicht so zahlreich erschienen. Das aber hatte ihnen Samuel nicht verraten. Es nahm sie nur wunder, warum der neue Prediger gerade bei Samuel im Haus predigen werde, da doch zwei Bethäuser im Dorf standen.

Im Laufe des Tages bat ich meine Schwestern, Emilie und Auguste samt ihren Töchtern, auch meinen Bruder Eduard, an diesem Abend auch mitzukommen. Alle konnten gut singen. Wir rechneten mit etwa 10 Versammelten. Aber zu unserem freudigen Erstaunen sahen wir schon von weitem, dass eine Anzahl Laute draußen an den Fenstern stand. Darüber wunderten wir uns sehr. Am Ziele angekommen, war unser Erstaunen noch viel größer: Alle Zimmer waren dicht mit Leuten besetzt. Jeder schaute gespannt auf die Ankunft des neuen Predigers. Zunächst sangen wir einige neue Lieder und beteten zusammen. Dann stand Samuel auf (wir hatten zuvor nicht darüber gesprochen) und erzählte seine geistlichen Erfahrungen. Er bekannte, dass er ganz von sich aus diese Einladungen machte. Nachdem ihm Gott den rechten Weg des Heils gezeigt hatte, hatte er ein großes Verlangen, dass auch alle seine Nachbarn zu derselben Erfahrung kommen möchten. Deutlich war es zu spüren, dass diese seine Worte allen Zuhörern tief zu Herzen gegangen waren. Dann sagte ich etwas von der völligen Erlösung und dass Gott will, dass alle Menschen in diesem Leben von der Sünde frei sein und werden sollen.

In wunderbarer Weise benutzte der Herr diesen Abend zum Durchbruch der freimachenden Wahrheit in dieser Gegend. Einige taten Buße, darunter war auch Samuels Vater und seine beiden Schwestern.

Mehrere Abende hintereinander versammelten wir uns nun in diesem Haus. Es war nur schade, dass wir nicht genug Raum hatten. Einige Leute fanden Frieden mit Gott. Samuels Mutter wütete. Aber sie konnte nichts durchsetzen, da sich nun die ganze Familie dafür einsetzte. Eines abends trieb sie die Neugierde ans Fenster um zu sehen, was sich im Haus abspielte. Denn keines von ihren Leuten ließ sich mehr zurückhalten. Das war für sie sehr schlimm.

Am Fenster standen aber schon so viele Leute, sie konnte nichts mehr sehen. Nun wollte sie ins Vorzimmer gehen und sich möglichst ungesehen an ein verborgenes Plätzchen stellen. Aber auch dort waren schon so viele Leute. Sie wurde, ohne es zu wollen, bis dicht an die Tür des Versammlungsraumes gedrängt. Das war ihr sehr unangenehm. Sie spähte umher nach einem Ausweg. Plötzlich sah sie im Versammlungszimmer noch ein niedriges, geschütztes Plätzchen, es muss wohl eine Fußbank gewesen sein. Gebückt, um nicht gesehen zu werden, schlich sie sich dort hin. Aber in diesem Moment setzte sich jemand anders auf dieses geschützte Plätzchen. So stand sie gerade da, wo alle Leute sie sehen konnten. Ich rief ihr zu: „Mutter Abraham, hier ist noch ein Platz!“ Schließlich folgte sie der Aufforderung und nahm den Platz ein. Während der Predigt brach ihr hartes, widerstrebendes Herz. Sie fand noch an dem Abend Frieden mit Gott durch das teure Blut Jesu.

In dieser Zeit wurde auch ihr sechsjähriges Töchterchen auf das Gebet hin von schwerer Krankheit plötzlich geheilt. Dieses diente zur weiteren Befestigung ihres Glaubens und Vertrauens zum Herrn. Diese Begebenheit sprach sich herum, und kurz danach interessierten sich mehrere Freunde für uns und kamen zur Versammlung.

Dazu gehörte auch Bruder Pedde. Er gehörte schon siebzehn Jahre einer Gemeinschaft an und war auch als Leiter der Versammlung tätig. Er hatte ein großes Verlangen nach einem tieferen geistlichen Leben. Infolge der vielen Arbeit, die ihm in seiner Gemeinschaft aufgetragen war, vermochte er kaum Zeit zu finden, unseren Gottesdienst auch einmal zu besuchen. Dennoch hatte er es sich fest vorgenommen, an einem bestimmten Sonntagnachmittag in unsere Versammlung zu kommen. Entgegen seinem Plan wurde er aber am Vormittag dieses Sonntags wieder dazu gedrängt, auch in der Nachmittagsversammlung der Gemeinde zu dienen. Er wollte aber sein Vorhaben nicht so leicht aufgeben. So sagte er am Vormittag den Versammelten: „Wenn ich heute Nachmittag den Gottesdienst wieder leiten soll, dann müsst ihr schon eine Stunde früher kommen“. So geschah es auch. Er machte es kurz und machte sich noch auf den Weg. Er ging auf Umwegen, weit durch den Wald, damit ihn niemand sehen sollte. Ungefähr mitten in meiner Predigt kam er bei uns an. Der Aufforderung nach vorn zu kommen, wer etwas auf dem Herzen hätte, folgte er als erster. Er beugte sich vor dem Herrn und bekannte reumütig, dass er schon lange das innere Drängen empfindet, das zu sein und auszuleben, was er den anderen verkündigte. Von Stund an wurde er ein treuer Zeuge. Er trat entschieden gegen alle Ungerechtigkeit und Sünde, auch bei sich selbst, auf. Und er tat es bis an sein Ende.

In der Schilderung aus der Zeit vor meiner Bekehrung wurde auch eine Begegnung mit einem Rückfälligen in einer Schmiede erwähnt. Jener Mann, erschrocken über meine Anklage, dass er an meinem Zustand schuld sei, hatte damals zu mir gesagt: „Rudolf, ich rate dir, bekehre du dich und lebe und wandele du uns vor“. Dieser Mann war nun immer tiefer in Sünde und die Stricke des Feindes hineingeraten. Eines Tages sah ich ihn weit auf der Straße mir entgegenkommen. Als er mich gewahrte, versuchte er mir auszuweichen. Ich aber ging auf ihn zu, breitete meine beiden Arme aus und sagte in freundlichem, erstem Ton: „Wo willst du die Ewigkeit zubringen?“ Er blieb stehen, schaute mich an. In seinen Augen waren Tränen, und ich merkte, dass sein Herz in Unruhe war. Wir standen beide stillschweigend, bis er mit bedrückter Stimme fragte: „Wo habt ihr eure Gottesdienste?“ Am nächsten Sonntagvormittag war er schon in aller Frühe da. Er war der Erste, der an diesem Sonntag in der Morgenandacht aufrichtig Buße tat und sich zu Gott bekehrte. Der Herr konnte ihn dann auch noch zu manchen Diensten gebrauchen. Er hatte bis dahin nicht glauben können, dass ein Mensch im Leben Sieg über die Sünde haben kann. Acht Tage nach seiner Bekehrung zeugte er in einem Gottesdienst folgendermaßen: „Ich habe jetzt die Probe gemacht. Ich habe erlebt: Der Herr hat mich einen Tag bewahrt, er bewahrte mich zwei Tage, er bewahrte mich die ganze Woche in den Versuchungen und schenkte mir den Sieg. Er kann mich auch mein ganzes Leben in einem heiligen Wandel erhalten!“ Durch diese freudigen Worte des Zeugnisses wurden auch noch einige andere von der freimachenden Wahrheit überführt und erlangten eine gründliche Heilserfahrung. Verschiedene sagten: „Wenn es dem möglich ist, ein heiliges Leben zu führen, dann wird es uns auch möglich sein“.

Bald nachdem ich in meiner Heimat mit der Arbeit für den Herrn begonnen hatte, traf ich auch mit dem Mann zusammen, der schon Prediger war, als ich noch zur Sonntagsschule ging. Er kam zu einer Versammlung an einem neuen Platz. Er war aus Neugierde gekommen, als er gehört hatte, dass ich bei Geschwister Linning Gottesdienst halte. Er war schon mit meinem Vater bekannt gewesen und kannte mich auch schon als Kind ganz gut. Ich sah ihn hereinkommen. Ich begrüßte ihn freudig und bot ihm gleich an, sich mit mir hinter den Tisch zu setzen. Er saß neben mir, als ich predigte. Mein  Thema an diesem Tag war: „Die Gemeinde – der einige Leib Christi“.

Während der Predigt nahm er ein Notizbuch aus der Tasche und schrieb etwas hinein. Er riss dann das Blatt aus dem Notizbuch und steckte es mir in die Tasche. Dieses verwirrte mich. Ich konnte beinahe nicht mehr sprechen, es verursachte mir große Kämpfe. Immer musste ich denken, was er wohl geschrieben haben mag. Er war auch nach der Predigt noch freundlich zu mir. Sobald ich konnte, ging ich zur Seite, zog den Zettel aus der Tasche und las: „Lieber Bruder Malzon, wie bist du so entschieden geworden! Sage es anderen Brüdern, und ich bitte auch dich, betet für mich, dass ich auch solch entschiedenen Stand einnehmen kann!“ Selbstverständlich freute ich mich darüber. Noch oft habe ich später zu meinem persönlichen Ansporn an dieses Briefchen denken müssen.