Hinaus in die Fremde

Mehr und mehr bahnten sich mir die Wege, ins Ausland zu reisen. Mein Vorhaben konnte ich allerdings niemanden offenbaren, auch nicht meinen Verwandten. Es wäre sonst mein Weggang wegen meiner jüngsten Schwester noch schwerer gewesen. Obwohl ich spürte, dass dieses des Herrn Weg war, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Mir fehlte die klare Weisung von Gott.

So reiste ich nach meiner militärischen Losung noch im November 1905 planlos von daheim ab. Hätte mich da jemand gefragt, wo ich hinwollte, ich hätte es ihm nicht sagen können. Ich fuhr ohne festes Ziel in die Richtung Deutschland. Ich war noch nie dort gewesen. Aber ich hatte mein Leben dem Herrn zur Verfügung gestellt, und ich empfand es als Führung, ins Ausland zu fahren. Ich verspürte einen innigen Drang zur Hingabe. Und immer mehr legte es sich mir auf mein Herz, Leib und Leben ganz und gar dem Dienste Gottes zum Opfer zu bringen. Am liebsten wäre ich zu den Heiden gegangen...

Als ich erfuhr, dass in Hamburg ein Seminar sei, das Leute für den Dienst im Reiche Gottes an den Heiden ausbildete, lenkte ich meine Schritte dorthin. Pass-Schwierigkeiten an der Grenze veranlassten mich jedoch, nach Wloclaweck, einer Stadt unweit der damaligen deutsch-russischen Grenze, zu fahren. Diese Stadt war mir dem Namen nach bekannt, weil mein Vater seine erste Dreschmaschine und den Göpel im Jahre 1888 von dort bezogen hatte. Ansonsten ging es mir hier auch wie einem Fremden, denn ich hatte dort keinen Bekannten. Auf der Straße fragte ich einen Polen nach Gläubigen in dem Ort. Bald hatte ich auch gute und hilfreiche Leute gefunden. Diese redeten mir zu, bei ihnen zu bleiben. Als sie erfuhren, dass ich vorhatte nach Deutschland zu fahren, ließen sie mich ziehen. Sie gaben mir eine Adresse von einem Prediger S. in Njeschawa, ganz in der Nähe der Grenze.

Das Eistreiben war aber so stark, dass der Dampfer nicht fahren konnte. Ich musste wieder mit dem Zug fahren und kam vor Abend noch an. Prediger S. begleitete mich noch schnell zur Fähre, und fort ging es mit einem Kahn. Schnell brach der Abend herein, und wir kämpften mitten auf dem Weichselstrom zwischen den großen Eisschollen. Die kleinen Grundeisscherben froren schnell zu großen Tafeln zusammen. Und wenn es auf einer Stelle sich verstopfte, drückten und froren die Stücke sofort zusammen. Und bald war die Eisbrücke fertig. Noch am Abend kam ich auf der anderer Seite der Weichsel bei Familie Jabs an. In Wloclaweck hatte ich schon erfahren, dass Familie Jabs und andere Familien nach Westpreußen zu übersiedeln vorhatten. Bald wurden wir miteinander bekannt, und ich fühlte mich bei ihnen sehr heimisch.

Ich bekam den Namen „Sänger“, da ich dort in jenen Tagen viel gesungen habe; in manchen Gottesdiensten 10 bis 20 Lieder. Zwei Prediger und ich fuhren eines Sonntags mit einem Kahn stromaufwärts nach Winduga zu einem Gottesdienst. Weil man die Leute dort nur schwer zum Gottesdienst zusammenbekam, machten sie bekannt: „Der Sänger ist mitgekommen!“ Der Raum für den Gottesdienst war nicht groß, und er war noch nicht voll. Aber draußen an den offenen Türen und Fenstern standen viele Leute. Diese gingen aber, sobald ich mit Singen aufhörte, davon, und es blieben nur die wenigen Leute, die im Raum waren.

Eine gläubige Frau aus diesem Ort sagte eines Tages zu mir, dass ich sie besuchen möchte. Ihr Mann hätte es erlaubt. Sonst durfte von den Gläubigen niemand kommen. Sie bedauerte nur, dass ich nicht platt sprechen konnte, weil ihr Mann von der hochdeutschen Sprache nichts wissen wollte. Als ich auf ihren Hof kam, bearbeitete ihr Mann gerade einen Balken mit einer Axt. Ich wurde schnell mit ihm bekannt, denn mit den Arbeiten mit dem Beil (Holz- und Schwellenbehauen) war ich auch vertraut. Es stimmte ihn freudig, dass er dabei noch von mir etwas gelernt hatte. Freundlich lud er mich ins Zimmer und bestellte bei seiner Frau ein gutes Vesper. Die Frau war sehr erfreut, da sie von ihrem Mann etwas anderes erwartet hatte. Vor und nach dem Essen betete ich in Hochdeutsch mit ihnen. Wir hatten ein gutes und gesegnetes Beisammensein.

In dieser Gegend fand ich einige Gläubige, von denen ich viel Gutes und Bleibendes lernen konnte. Ich war und bin Gott sehr dankbar, dass er mich dort hingeführt hat.

Eines Tages besuchten wir auf der anderen Seite der Weichsel einige Familien. Für die Rückfahrt fanden wir unser angekettetes Boot dort, wo wir es zurückgelassen hatten. Wir waren eine ganze Anzahl Leute, die Nacht war stürmisch und finster. Holzschwemmer aus Russland hatten mitten auf dem Strom ihre Holzflöße verankert. Da dort die Grenze war, mussten sie meist einen Tag auf die Weiterfahrt-Erlaubnis warten. Mitten auf den Flössen hatten sie ihre Hütten aufgebaut und eingerichtet. Wir waren eben ein Stück von Ufer abgestoßen, da meldete sich ein Russe und bat auf russisch, dass wir ihn auf seine Traffte (Floß) bringen möchten. In der Dunkelheit sahen wir einander nicht, aber er hörte unsere Stimmen und das Schlagen der Ruder. Als ich diese kleinrussische Sprache aus meiner Heimat hörte, ergriff mich ein starkes Heimwehgefühl. Ohne darüber nachzudenken, rief ich: „Komm!“ Kurz danach merkte ich, dass die Rudernden den Kahn umwandten. Das war in dieser Nacht durch die hohen Wellen und wegen der starken Strömung sehr gefährlich. Dass sie wieder zurück ans Ufer wollten, verwunderte mich, und ich fragte erstaunt: „Ja, was macht ihr nun?“ Sie gaben zur Antwort: „Du hast es ihm doch versprochen!“ „Oh, das habe ich nicht so gemeint!“ – antwortete ich. Ich bekam zur Antwort: „Das ist egal. Aber was wir versprechen, müssen wir halten“. Solche und ähnliche Erlebnisse unter den dortigen Gläubigen machten einen tiefen Eindruck auf mich. Sie halfen mir, gegen Gott und Menschen viel gewissenhafter zu werden.

„Fürchtest du dich nicht?“ – fragte mich wiederholt ein alter Fischer, als wir ein anderes Mal, an einem stürmischen Tage, die Weichsel überqueren und zu einem Gottesdienst fahren wollten. Am Ufer sah es nicht so gefährlich aus. Aber als wir mitten auf den Strom kamen, so erzählten uns später die uns bis ans Wasser begleitet hatten, waren wir oft in den Wellen nicht zu sehen. Wir machten uns auf alles gefasst, auch der alte Steuermann verspürte stark die Todesgefahr. Ich dachte auch an meine Angehörigen, die gar nicht wussten, wo ich mich befand. Trotzdem das Boot in diesem starken Wellengang gut gesteuert wurde, schlug so viel Wasser in das Boot, dass wir es kaum schafften, herauszuschöpfen. Der 107. Psalm und das Wort: „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten“ machten mich ruhig und zuversichtlich. Und Gott sei Dank, er half wieder! Wir gelangten glücklich ans andere Ufer.

Im Winter 1906, noch ehe die Familie Jabs und auch die anderen nach Westpreußen zogen, fuhr ich auf Wunsch von Vater Hoffmann, der die Landwirtschaft von Familie Jabs gekauft hatte, auf das Oberland, in die Plotzker Gegend, in seine Heimat mit. Ich half ihm, sein Getreide zu dreschen, alles zum Umzug vorzubereiten und auch beim Umzug. Ich hatte in dieser Landwirtschaft (etwa 35 Hektar Ackerland und einen Hektar Weichselwiesen) und bei dem vielen Vieh recht viel Arbeit. Aber man brachte mir auch so viel Vertrauen entgegen, dass ich ganz selbständig wirtschaften durfte. Mir wurde auch angeboten, dass ich in Kürze diese Wirtschaft mein eigen nennen könnte. Auch in der Familie Hoffmann lebte ich mich sehr bald gut ein. Mein Abschied nach ein paar Monaten fiel mir direkt schwer. Nach meiner Ankunft in Westpreußen, im Juni 1906, blühte für mich im Irdischen überall das Glück auf. Es bot sich für mich manches Günstige an, das ich gar nicht erstrebte.

Mir boten sich verschiedene gute Gelegenheiten an zu heiraten. Doch wurde ich immer mehr innerlich angetrieben, für den Herrn zu arbeiten. Schließlich offenbarte ich dieses dem dortigen Ältesten der Gemeinde, da der innere Drang zur Reichsgottesarbeit immer stärker wurde. Ich sagte ihm, dass ich immer stärker den Ruf verspürte unter den Heiden zu arbeiten. Der Bruder ermahnte mich, doch gründlich zu untersuchen, ob Gott mich in die Arbeit unter den Heiden haben wolle. Zumal es auch hier reichlich Arbeit für Gott gäbe.

Ich bewegte dies in meinem Innern und betete ernst dafür, dass Gott mir meinen Weg deutlich zeigen möge. In dieser Zeit wurde auch in mir eine Geschichte von einem bekehrten Heiden, der Missionar werden wollte, wachgerufen. Diesem Bruder aus den Heiden hatte man gesagt, dass er nach London gehen müsse. Dort könne er im Seminar als Missionar ausgebildet werden. So war er dann auch freudig entschlossen dorthin aufgebrochen. Am Ziele angekommen, meldete er sich an der Pforte. Auf die Frage des Mädchens, das ihm öffnete, was sein Begehr wäre, antwortete er, er sei ein Heide und möchte gern den Direktor sprechen. Der Direktor war aber eben sehr beschäftigt und dachte: „Ein Heide, nun, er kann schon ein wenig warten!“ Nach geraumer Zeit besann er sich wieder auf den Angemeldeten und eilte hinaus. Dort bot sich ihm ein Bild, das er vor den Toren des Seminars noch nie gesehen hatte: Eine Menge Leute hatte sich um den „Heiden“ versammelt, und dieser predigte ihnen. Der Direktor arbeitete sich durch die Menge, um zu ihm zu gelangen und mit ihm zu sprechen. Der „Heide“ sagte ihm auf seine Frage, dass er nicht habe müßig stehen wollen. Er empfand, dass hier auch noch viele schlechte Leute seien. So habe er sein Testament herausgezogen und angefangen, ihnen zu predigen. Er sei aber gekommen, um hier etwas zu lernen. Der Direktor gab ihm zur Antwort: „Heute werden Sie wohl nichts von mir lernen können, ich habe aber heute etwas von Ihnen gelernt“. Diese Geschichte wurde in meinem Innern so lebendig, so dass ich meinen Plan, zu den Heiden zu gehen, aufgab und mich entschloss, nach Wolhynien zurückzugehen. Dort wollte ich erst meinen Nachbarn predigen und ihnen wahres Christentum vorleben.

Obwohl ich noch immer die Führung Gottes nicht so klar sehen konnte, empfand ich, dass Gott mit mir etwas vorhatte, und dass dies alles für mich eine besondere Schule war. Sobald mein Plan von einer Seite durchkreuzt wurde, öffnete sich von der anderen Seite wieder etwas Neues. Oft musste ich eine Weile auf Gottes Führung und auf seinen weiteren Weg mit mir warten. Auch dieses war für mich zum Guten und stärkte mein Vertrauen zu Gott und seiner Führung. So sagte ich auch hier wieder dem Herrn in meinen Gebeten: „Wenn es dein Wille ist, dass ich nach Hause fahren soll, so schenke mir bitte eine Arbeit, damit ich mir das Reisegeld verdienen kann“. Nach menschlichem Ermessen war dazu sehr wenig Aussicht, denn die Ernte war vorüber, und andere Arbeit gab es nicht. Aber der Herr ließ mich nicht lange warten. Sehr bald kam ein Mann und rief mich, ich sollte ihm beim Dreschen helfen. Dazu stellte ich mich eine halbe Stunde früher ein. So konnte ich mir meine Lieblingsarbeit wählen: Die Garben aus dem Tass zuzuwerfen. Ich bekam auch die Arbeit. Ich war gewöhnt, beim Zugabeln immer einen Vorrat zu haben. Aber die beiden Männer, die diese Arbeit mit mir zu verrichten hatten, ließen immer auf sich warten. Dadurch hatte ich es schwer. Nach meinem voreiligen Arbeit-Wählen dachte ich an Mose. Er war berufen, das Volk herauszuführen. Er wartete aber nicht auf den Befehl, sondern er handelte eigenmächtig. Die Folge war: Er musste fliehen, musste einen Umweg machen. Erst als er den Befehl von Gott bekam, konnte er wiederkommen und seine Aufgabe ausführen.

Am 2. Tag wechselte der Chef und gab mir meine Arbeit vorn am Spreukorb. Anfangs empfand ich es als Strafe und fühlte mich sehr beschwert. Mir war es auch aus dem Grunde so unangenehm, weil ich als junger, kräftiger Mensch zu der leichtesten und geringsten Arbeit eingeteilt war. Außerdem fühlte ich schlecht, da der Chef und alle an dieser Stelle vorbeigehen mussten und mich dann stehen sahen. Nachdem ich mich dabei mehrere Stunden gequält hatte, bat ich den Chef, ob er für mich nicht eine andere Arbeit hätte. Ich sagte ihm, dass ich doch den Tagelohn wie die anderen bekomme und so oft müßig herumstehe. Er klopfte mir lachend auf die Schulter und sagte: „Junger Mann, beruhigen Sie sich nur. Der Maschinist hat es so gewünscht. Sie sind, ohne dazu aufgefordert zu werden, ihm in der Mittagspause und früh und spät bei der Maschine, am Dreschkasten und beim Aufräumen sehr zur Hand“. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich strahlte vor Freude und war mehr an der Lokomobile als am Spreukorb. Weil mir diese Arbeit nicht ganz fremd war und ich große Lust dazu hatte, besorgte ich in seiner Abwesenheit beides. Aber er schien enttäuscht zu sein, wenn er einen „Kornus“ (Schnaps) aus der Tasche zog und mir hinter der Lokomobile eins einschenken wollte. Dieses lehnte ich entschieden ab. Er meinte: „Solch ein guter Mensch, und er trinkt keinen Schnaps!“ Auch der Chef sagte: „Gibt es noch Leute, die diesem entsagen können? Aber von solch einem Menschen ist es doch ein Wunder!“ Ich bekam dann, anstatt einen Kornus, ein Kännchen Kaffee. Und von der Zeit an aß ich auch am Familientisch mit.

Als der zweite Nachbar die Maschine bestellte, sorgte der Maschinist dafür, dass ich auch zur Arbeit mitkam. In Christfelde, in der Weichselniederung, wohnten eine Anzahl solcher kleiner Gutsbesitzer. Die Dreschmaschine ging von einem zum anderen, bis in den Herbst hinein. Ich blieb, wie es beim ersten Gutsbesitzer eingeführt worden war, auch bis zum Ende mit dabei. Ich hatte mir dabei „einen guten Groschen“ gespart, so dass ich mich einkleiden und auch nach Hause fahren konnte.

Gleich nach meiner Ankunft in Wolhynien hörte ich, dass mein Bruder Adolf eine Privatschule eröffnet hatte. Und zwar bei einem Dampfmüller in einer deutschen Kolonie, bei Emiltschin. Selbstverständlich besuchte ich ihn auch gleich an seinem Wirkungsort. Ich kam dorthin, um etwas zu lernen. Aber auch hier, wie auch schon von meiner Schulzeit beschrieben, wurde ich gleich Lehrergehilfe.

Als dieses die Leute aus meiner Kolonie hörten, schrieben sie mir, dass ich doch gleich nach Hause kommen und ihre Kinder unterrichten möchte. So begann dann dort die Schule noch vor Weihnachten in einem Bethaus.