Wie eine neue Regierung gewählt wurde

Im Frühjahr 1917, nachdem die Zarenregierung gestürzt war, kam ein Befehl, dass in allen Dörfern für je 100 Personen ein Mann gewählt werden musste. Und zwar sollten immer 3 Bauern und als vierter ein Flüchtling gewählt werden. Diese sollten alle aus den Bezirken nach Omsk zur Gründungsversammlung der Regierungsbildung zusammenkommen. Ganz Russland war in jenen Tagen ohne Regierung. Ich hielt mich damals von den Dorfwahlen zurück, weil ich nicht gewählt werden wollte. In der Bezirkszusammenkunft wurde ich aber doch, in Abwesenheit, gewählt. Ich musste dann noch, während sie zusammen waren, dort hinkommen. Von dort ging es etwa 60 Kilometer mit der Fuhre nach Omsk. Aus ganz Westsibirien waren dort 404 Delegierte zusammengekommen. An Vertretern von allen Parteien und vielen guten Versprechungen fehlte es nicht. Es war auch nicht so einfach, sich durch dieses „Parteienlabyrinth“ durchzufinden. Wir wollten doch das Rechte nicht verfehlen. In den 10 Tagen unseres Zusammenseins ist dann eine „zeitweilige Regierung“ zustande gekommen. Wir kamen dann gerade noch zu Ostern heim.

Bei dieser neuen Regierung gab es oft und viele Versammlungen und Wahlen. Wenn ich diese meiden konnte, tat ich es sehr gern. Als mich eines Sonntags aber glaubwürdige Männer baten mit einzugreifen, denn es lägen Unterschlagungen von Flüchtlingsgeldern vor, sagte ich zu den Meinen: „Heute werde ich mich wählen lassen“. Nun wurden für jeden Bezirk 4 Mann zu einer Revisions-Kommission gewählt. Wir hatten an den einzelnen Plätzen die Kassenbücher und auch das Hauptbuch zu prüfen. Dabei stellte sich heraus, dass die Armen um 11.000 Rubel betrogen worden waren. Wie froh atmete dann so manches Herz der Armen auf! Und auch manch Lob und Dank stieg deshalb zu Gott auf.

 

Noch war das Verbot der alkoholischen Getränke nicht aufgehoben. Die Leute glaubten sich bei der neuen Regierung in Freiheit zu befinden. So gab es in etwa jedem zehnten Haus, in Wäldern und in manchen versteckten Räumen Schnapsbrennereien. Als aber nun der Hunger den Leuten ins Fenster hineinzuschauen begann, erwachten die Bewohner jener Gegend darüber. Es wurde beschlossen, die Brennereien zu zerstören. Es wurde dafür eine Kommission aus 6 Mann gewählt. Weil sie wussten, dass ich auch ein Gegner des Alkohols war, wurde ich auch dazugenommen.

Wir kamen auf einen Hof zur Kontrolle, zu Leuten, von denen wir es nicht fassen konnten, dass sie sich damit beschäftigen sollten. Wir zerstreuten uns und fingen an zu suchen. Da kam der Hauswirt an mich heran und sagte: „Meinen Angehörigen und mir tut es herzlich leid, dass auch Sie wegen dieser schmutzigen Angelegenheit auf unseren Hof kommen mussten. Weil wir es wissen, dass Sie es gut mit uns meinen, und dass Sie uns zu helfen und nicht zu verderben suchen, bekenne ich heute vor ihnen und vor Gott, dass wir heute mit all diesem scheußlichen Alkoholwesen gründlich abbrechen und für immer ein Ende machen werden. Wir sind ganz sicher, dass die Kommission heute bei uns nichts finden wird. Aber Sie wollen wir in unser Geheimnis hineinblicken lassen“. Und so führte er mich an die Tür seines Untermieters, hob dessen Schlaf- und Sitzgelegenheiten hoch und zeigte mir einen eingeteigten und für heute Abend zum Kochen vorbereiteten Trog. Dann führte mich der zweitälteste Sohn in den Kuhstall, scharrte das Futter vor einer Kuh weg und zog aus dem Futtertrog große, mit Schnaps gefüllte Flaschen hervor. Er sagte: „Solche haben wir hier noch mehr!“ Als sie später mit allem aufgeräumt hatten, offenbarten sie diese Sache auch im Dorfrat.

Der Schnapsbrenner Robert trug auch den Beinamen „Pugan“ (Scheuche). Er hatte wegen seines unehrlichen und abscheulichen Ehelebens, auch als Deserteur während der ganzen Kriegszeit, mit der Behörde vielerlei Schwierigkeiten. Er verstand es aber, immer wieder der Strafe zu entkommen. Die Bewohner des Dorfes gingen ihm gern aus dem Weg. Auch er selbst hielt sich zeitweise versteckt. Ihn anzuzeigen, fürchtete sich ein jeder. So brütete er im „Finstern“ seine Sünde immer weiter aus. Und diese Brandweinkocherei betrieb er sehr rege. Als die neue Regierung erst alles in ihren Händen hatte, schloss er sich auch der Partei an. Dadurch fühlte er sich freier und sicherer. Bei unserer Nachbarsfrau hatte er eine Filiale eingerichtet. Er hatte sie belehrt, es mir zu sagen. Unter Androhungen ließ er mir bestellen, dass ich es im Dorfrat nicht angeben dürfe, wenn ich etwas von seinem Treiben bemerkte. Seine massive Drohungen brachten mich auch etwas in Verlegenheit. Aber der Herr leitet die Seinen immer auf richtigen Wegen, wenn sie sich vertrauensvoll in seine Hände begeben.

Je mehr der Robert sich mit seinem schmutzigen Geschäft verbreitete, desto mehr Feinde bekam er. Und als er zu sehr in die Enge geraten war, ließ er alles fallen. Er kam an die Öffentlichkeit und mengte sich sofort in Wahl- und Versammlungsangelegenheiten. Als Parteimitglied war es ihm leicht möglich, an seinen jahrelangen „Verfolgern“ die aufgehäufte Rache auszuüben. Er fand sich auch etliche Anhänger. Sie fingen miteinander an, das Ansehen der Männer an der Spitze zu untergraben. Sie trieben es so lange und so arg, bis sich die Vertrauensmänner, einer nach dem anderen, mutlos zurückzogen. Den Dunkelmännern gelang es dann bald, den „Pugan“ zum Dorfvorsteher und kurz darauf zum Bezirksvorsteher heraufzubringen. Einige von seinen Gesellen ernannte er zu Kommissaren, die dann mit großer Strenge (Gemeinheiten) auf die Bewohner einstürmten und sie quälten. Als dann sein Gehilfe im Januar 1919 bei dem Durcheinander sein Leben einbüßte, sagte „Pugan“: „Für diesen einen sollen hundert sterben!“

Kurz darauf ließ er die angesehensten Männer aus dem Bezirksdorf von etwa 600 Höfen ins Kreishaus kommen. Es waren Bauern, Geschäftsleute und Beamte. Er befahl, dass sie sofort nach Omsk abmarschieren sollten. Hierüber erschraken nicht nur die betroffenen Männer, sondern alle Bewohner, Frauen, Kinder, Eltern und sogar die Männer selbst. Alle baten den „Pugan“, er möchte sie doch nicht zur Nacht in diesem Frost und bei den Schneestürmen die 60 Kilometer zu Fuß auf diesen Weg schicken. Dies ist ohnehin in Sibirien unmöglich. Aber alles half nichts. Während sie noch baten, reihte er die Männer einen hinter dem anderen ein, und fort ging es! Es durfte sie auch niemand begleiten. Etwa 3 Kilometer hinter dem Dorf wurden sie noch einmal eingereiht und alle mit ein paar Kugeln von hinten erschossen. Obwohl sie dort einige Tage lagen, durfte niemand, auch nicht ihre Angehörigen, zu ihnen hingehen.

Unbeschreibliche Gefühle legten sich durch dieses Geschehen auf die Gemüter der Menschen in jener Gegend. Denn diese Männer waren bekannt und von vielen geschätzt und geliebt. Auch ich kannte einige darunter als gutherzige und wohltätige Menschen. Ich habe diesen Kämpfen in den Zusammenkünften von Anfang an beigewohnt. Ich musste da auch die Ungerechtigkeit, die ein Mensch am anderen tat, miterleben. Mir ging das alles sehr zu Herzen. Immer wieder musste ich erleben, dass gottlose Menschen viele gute Einrichtungen vernichteten. Von der Zeit an bat ich Gott, noch viel mehr als zuvor, um Errettung für die in Dunkelheit gehüllte und verblendete Menschheit.