Er führte mich

Einer meiner Brüder trat an mich mit dem Vorschlag heran, mit ihm zusammen eine Mühle zu bauen. Der Platz dazu und der Plan dafür waren nicht übel. Aber innerlich war ich abgeneigt. Trug ich doch die verlorene Welt auf meinem Herzen. Ich dachte auch an mein Gelübde – und sagte ab. Aber des Herrn Weg war mir so dunkel.

Meine freie Zeit benutzte ich hauptsächlich zum Gebet. Eifrig suchte ich in der Schrift und besprach mich hin und her mit älteren, erfahrenen Gotteskindern über geistliche Dinge. Früher glaubte ich oft meinen Vater missverstanden zu haben, wenn ich ihn von der Notwendigkeit, ein heiliges Leben zu führen, sprechen hörte. Jetzt aber gelangte ich mehr und mehr, besonders durch die Briefe des Apostel Johannes, aber auch durch viele andere Schriftabschnitte, zu der Überzeugung, dass rechte Gläubige unbedingt ein heiliges Leben führen müssen. Wenn ich meine Gedanken hierüber mit anderen austauschte, versuchte man mir dieses auszureden. Man versuchte mich zu überzeugen, dass wir auf dieser Erde niemals ein heiliges Leben führen könnten. Im Allgemeinen bezweifelte man es, dieses zu vermögen, und solche Reden wollten mich oft mutlos machen. Noch gut erinnere ich mich, einmal zu jemanden in solchem Gespräch gesagt zu haben: „Und wenn ich im Sack und in der Asche Buße tun müsste wie die Leute zu Ninive – solch ein Leben, wie die Schrift sagt, müssen wir führen!“

Anfang April des Jahres 1908 hatte ich einen besonderen Traum. Mir war, als reiste ich mit einem unserer älteren Brüder (Prediger) von Platz zu Platz. Als wir eben wieder in einer Stadt Versammlung hielten, erfuhr ich, dass unter den dortigen Gläubigen große Lauheit eingerissen sei. Die Leute stellten sich auch so arm und gaben uns zu verstehen, dass sie uns weder Quartier noch Essen geben könnten. Alles um mich herum belastete mein Herz und Gemüt so, dass ich mich unwillkürlich fragen musste, ob das hier wohl Kinder Gottes seien.

Kurz vor der Nachmittagsversammlung raunte mir der ältere Prediger im Vorbeigehen zu: „Geistlich ist es mit den Leuten hier nur schwach bestellt!“ Dann trat er in den Versammlungsraum ein und eröffnete den Gottesdienst. Ich blieb im angrenzenden Zimmer an einem Tisch stehen. Ich dachte bei mir: Was soll ich jetzt machen? Lohnt es sich noch in die Versammlung hineinzugehen? Oder nicht? Mit diesen Gedanken beschäftigt, sah ich plötzlich durch die Tür eine ältere Frau hereinkommen – Mutter Schlachter aus Christfelde, die ich in Westpreußen kennengelernt hatte. Sie trat an mich heran, hielt lange mit beiden Händen meine Hand fest und sagte: „Na, Rudolf, was stehst du hier so betrübt und hältst dich bei diesen toten Leuten auf? Sie sind tot, sie haben für Gott und auch für dich keinen Platz! Komme zu uns, bei uns wirst du wieder alles haben, auch Quartier und Essen. Wie du es hattest, als du vor einem Jahr bei uns warst“.

Sie ließ mich nicht mehr los und zog mich mit sich. Wir gingen einen wunderschönen Weg, sie in der einen Radspur, ich in der anderen. Zu beiden Seiten des Weges standen große Linden. Auf dem Fußweg, an der Seite, gingen ihre Töchter. Der Weg war mit Rasen bewachsen und schien mir so schön zu sein, wie ich noch keinen gesehen zu haben glaubte. Die alte Schwester erzählte mir von einer großen Freude in ihrem Herzen über das, was bei ihnen in der Versammlung vorginge. Ich freute mich mit ihr so, dass wir vor Freude fast hüpften. Darüber erwachte ich und sah, dass es nur ein Traum war und ich mich in Wolhynien befand.

In jener Nacht vermochte ich nicht mehr in meinem Bett zu bleiben. Obwohl es erst Mitternacht war, stand ich auf und betete. Nicht, dass ich nicht mehr hätte schlafen können, o nein, ich hatte tagsüber viel Arbeit und viele Aufgaben. Etwa 45 Kinder waren meinem Unterricht in deutscher und russischer Sprache anbefohlen.

Auch am nächsten Tag musste ich noch viel an meinen Traum denken. Eigenartigerweise erwachte dabei in meinem Inneren ein immer stärker werdendes Sehnen und Verlangen, wieder nach Deutschland zu fahren. Nach Schluss des Unterrichtes ging ich sogleich zu meinem Bruder Eduard und sagte zu ihm: „Ich fahre wieder nach Deutschland, wahrscheinlich schon in 2 Wochen, nachdem wir die Schule geschlossen haben“. Mein Bruder konnte das nicht verstehen. Er erhob manche Einwände und machte mich auf das Seminar aufmerksam, in das ich doch im Herbst eintreten sollte. Ich erklärte ihm aber, dass ich alles in Gottes Hände gelegt habe. Ich könnte mich des Eindruckes nicht erwehren, dass meine Reise nach Deutschland Gottes Wille sei.

Tatsächlich reiste ich nach etlichen Tagen ab. Auf meiner Fahrt machte ich auch wieder in Rybitwo, dicht an der polnisch-deutschen Grenze halt. Ich kehrte bei der Familie S., bei der ich schon 1 Jahr vorher mehrere Monate gewohnt hatte, ein. Nach wenigen Tagen kam auch Bruder Wahl, der Schwiegersohn von Mutter Schlachter, dort an. Er war auf der Heimreise von Wolhynien. „Dir fehlt nur ein Grenzpass“, sagte er, „dann könntest du morgen früh um 10 Uhr mit mir zusammen fahren“. Ich hörte dieses gern, es war für mich wie ein Regen auf dürres Land. „Wenn das möglich wäre“, dachte ich, „oh, wie dankbar würde ich sein!“ In jenem Augenblick strahlte ein Funken Hoffnung in mein Herz hinein. Ich blickte auf zu Gott, im stillen Gebet sagte ich zu ihm: „Herr, es waren doch bisher deine Wege. Es scheint doch auch dein Wille zu sein, dass ich dort hin soll. Ich komme jetzt zu dir, Herr, hilf mir!“

Um mir den Pass zu besorgen, hatte ich etwa 3 km bis in die Gmina, das Amtshaus, zu gehen. Auf dem Wege betete ich weiter: „Herr, wenn es dein Wille ist, dass ich herüber soll, so wirst du mir auch helfen“. Es war mit einigen Schwierigkeiten verbunden, und man ging bei der Ausstellung eines Grenzpasses sehr streng vor. Außerdem war ich ein Fremder. Da man meine Personalien dort nicht so schnell überprüfen konnte, war man für die Ausstellung des Grenzpasses dort auch gar nicht zuständig. Es war mein ernstes Verlangen, im Amtshaus keinerlei Unwahrheiten zu sagen. Einige Male flüsterte mir der Versucher zu: „Dein Weg ist umsonst. Du bekommst auf keinen Fall einen Pass“. Ich wies ihn aber allen Ernstes immer wieder mit den Worten ab: „Wenn es Gottes Wille ist, dass ich herüber soll, wird er es schon so fügen“.

In der Gmina angekommen, trat ich an den Tisch, als wäre ich da zu Hause. Ich sagte zu dem Beamten: „Ich möchte einen Grenzpass ausgeschrieben haben“. Zu meinem freudigen Erstaunen fragte er nur nach meinen Personalien, und in wenigen Minuten war der Pass ausgefertigt. Er hatte 8 Monate Gültigkeit. Ja, Gott kann Herzen lenken und Wege bahnen! Auf meinem Heimweg wusste ich vor Freude nichts weiter zu sagen, als „Gelobt sei Gott!“ Für mich war es eine Bestätigung, dass ich nach Deutschland reisen sollte. Die Freude und die Gewissheit, die ich durch diese Begebenheit erlangte, kann ich nicht beschreiben. Als ich wieder bei Geschwister Hoffmann eintrat und ihnen erzählte, dass ich den Pass so ohne weiteres bekommen hatte, waren auch sie erstaunt und verwundert. Sie sagten: „Das ist Gottes Wille!“

Am nächsten Morgen setzten wir über die Weichsel. An der anderen Seite des Flusses lag ein kleiner Dampfer. Mit dem fuhren wir über die Grenze bis Thorn, dann mit der Bahn über Bromberg nach dem Kreis Schweta. In Christfelde angekommen, kehrten wir im Hause der Schwester Schlachter ein. Diese begrüßte mich eben in solcher Weise, wie ich sie im Traum sah. Mit ihren beiden hageren Händen hielt sie meine Hand fest und sagte: „Na, Rudolf, wo bist du so lange gewesen? Wir haben uns mit Schwester Jabs vereinigt, für dich zu beten, und jetzt hat dich Gott hergesandt!“ Als ich sie fragte, wann sie sich zum Gebet vereinigt hätten, erfuhr ich, dass es gerade um die Zeit gewesen war, als ich den Traum gehabt hatte. „Wenn doch Bruder Rudolf hier wäre!“   – hatte sie an jenem Tage zu Schwester Jabs gesagt. „Der ist doch auch bekümmert um das Rechte, und der würde sich doch auch freuen“.

Nach dieser Erzählung wurde mir erst recht klar, dass Gottes Hand es gewesen war, die mich durch die Gebete der Gläubigen in Westpreußen aus Wolhynien geführt hatte. Der Herr selbst hat mir den Weg gebahnt.

Nun blieb ich den ganzen Sommer hindurch dort und wohnte im Hause der Familie Jabs. Mit scharfem Auge beobachtete ich alles, was vorging. Insbesondere richtete ich mein Augenmerk auf die Schwester, die mit Freuden für die Lehre eines heiligen Lebens nach der Bibel eintrat. Der Schrift nach hatte ich bereits die Überzeugung, dass es so sein muss. Aber, weil auch ich zum gewissen Teil von Jugend auf gelehrt worden war, dass man ein heiliges Leben nicht führen kann, stand ich der Lehre skeptisch gegenüber. Ich konnte auch nicht eher davon überzeugt werden, solange ich noch niemanden fand, der so lebte. Nun war diese Schwester die erste Person, die ich traf, die zur Ehre des Herrn bekannte, solch ein Leben zu führen. Ich dachte bei mir: „Wenn es dieser Frau möglich ist, ein heiliges Leben zu führen, dann will ich es glauben und annehmen“.

Schwester Jabs hatte drei kleine Kinder, dazu ein außergewöhnlich mürrisches Dienstmädchen. Dann hatte sie viel Arbeit: die große Landwirtschaft und die Besorgung des Viehs und die anderen Hausfrauenpflichten. Außerdem hatte sie noch mit anderen ungünstigen Dingen fertig zu werden, die ich hier aus gewissen Gründen nicht nennen möchte. Ferner hatte sie die Gottesdienste im Hause, neben der vielen Arbeit auf der neuen Siedlung. Und dann war ich noch da. Ich kritisierte der Schwester gegenüber noch über diese neue Ansicht. Gewissermaßen wollte ich sie erproben. Ich trieb es so, dass andere Leute von mir schon zu ihr behaupteten, dass sie diesen Menschen schon längst aus dem Hause getan hätten. Alles aber nahm sie auf sich und ertrug es mit großer Liebe und Geduld. Für mich hatte sie noch immer Hoffnung, dass der Herr aus mir etwas machen könnte.

Unter all diesen Schwierigkeiten und Anfechtungen konnte sie durch Gebet und Zeugnis ihr Bekenntnis durch ihren Lebenswandel aufrecht halten. Ich konnte an ihr nichts einwenden, sie war in der Tat ein Vorbild für mich. Gerade wie ich es zu jener Zeit brauchte. Wäre sie nicht so siegreich durch alles hindurchgegangen, hätte ich mich veranlasst gefühlt, vom heiligen Leben zu schweigen. Sicherlich wäre ich erst längere Zeit danach zur rechten Erkenntnis und Überzeugung gekommen. Ich bin dem Herrn noch heute sehr dankbar für dieses Licht, das der Herr mir durch Menschen auf den Weg gestellt hat.

Diese Erfahrung hat das in meinem Innern bestätigt, zu dem ich schon von Kindheit an ein Verlangen hatte. Auch die wunderbaren Wege Gottes mit mir konnte ich nicht leugnen. Dennoch war die Entscheidung für mich schwer. Dazu war ich ja auch für den Eintritt ins Seminar vorgemerkt. Obwohl ich im tiefsten Grunde dazu keine Freudigkeit hatte, stellte mich dieser schnelle Wechsel doch vor eine wichtige Entscheidung. Einerseits empfand ich, dass das Seminar nicht der Weg für mich war, andererseits war der Gedanke, dass ich solch eine Gelegenheit nicht ungenutzt lassen sollte. In meiner Unsicherheit besuchte ich in der Zwischenzeit noch verschiedene Gemeinschaften.