Ausbreitung des Wortes Gottes trotz äußerer Widerstände

Nie werde ich eine Versammlung vergessen, die wir im Jahre 1910 eines Sonntags in Bruder Kerns großer Scheune in Kuple hatten. Ein solch zahlreicher Besuch war uns noch nicht vergönnt worden. Bruder Schmidt gab sich große Mühe, die Versammelten zu zählen. Er kam bis auf 700, musste aber dann seine Zählung abbrechen.

Einige Männer des Nachbarortes hatten sich vorgenommen, mich an diesem Sonntag mit keulenartigen Knüppeln totzuschlagen. Über Mittag war mir ihr Vorhaben zu Ohren gekommen. Als ich nun von meinem Zimmer die Leute scharenweise zum Gottesdienst kommen sah, freute ich mich. Aber andererseits brach sich in meinem Innern immer wieder die Frage Bahn: „Wie wird es dir heute ergehen?“ Kurz vor Beginn der Versammlung beugte ich mich nochmals vor dem Angesicht Gottes. Ich befahl Leib und Leben in seine Hände. Ich sagte am Schluss meines ernsten Gebetes, dass Gott es nur machen solle, wie es sein Wille ist. Sollte ich sterben müssen, so möge er auch das nur zu seines Namens Ehre dienen lassen. Wäre es aber sein Wille, dass ich am Leben bleiben sollte, so fände er auch Mittel und Wege, mich zu bewahren. Innerlich gestärkt stand ich auf und ging mutig in die Versammlung.

An die Menge herangekommen (es standen gegen zweihundert Personen draußen), musste ich mich hindurchdrängen. Ich stieß dabei gerade auf die Männer, die mich umbringen wollten, zuerst auf deren Führer. Hinter sich hielten sie ihre Knüppel. Noch hatten sie mich nicht gesehen. Ich hörte, wie sie in Plattdeutsch untereinander fragten: „Wo ist er, wo ist er?“ Ich fasste den Anführer am Arm und bat ihn, mich vorbeizulassen. Dabei erschrak er so, dass ihm die Keule aus der Hand fiel und er den anderen zurief: „Lasst ihn durch!“ In dem Augenblick wusste ich noch nicht, was mir geschehen würde. Aber mit der Hilfe Gottes kam ich bis zum Podium. Es war der Herr, der ihnen diesen plötzlichen Schrecken eingejagt hatte. Wir aber hatten an diesem Nachmittag einen Gottesdienst wie nie zuvor. Der Herr ließ seine Kräfte so mächtig wirken, dass nachher, als wir ins Gebet gingen, gleich zwei- bis dreihundert Menschen zugleich in Reue und Buße zu Gott schrieen. Beinahe eine ganze Stunde blieben wir auf den Knien.

Nach dem Gebet fragte ich, wer während des Gebets Frieden gefunden hätte. Die Betreffenden möchten es durch Aufstehen bekunden. Soweit mir in Erinnerung ist, waren es dreißig. Darunter war auch ein Mann, der mit verschiedenen anderen wegen Platzmangel auf die Balken heraufgeklettert war. Der stand nun oben auf dem Balken und bekannte freudestrahlend, dass er Frieden im Blut des Lammes gefunden habe. Preis und Ehre dem Herrn! Während ich auf die Balken zeigte, wies ich darauf hin, dass der Herr auch Menschen auf den Balken erlösen kann. Während die Leute zum Teil auf die Balken und die dort befindlichen Menschen schauten, gingen fast alle Leute wieder auf die Knie. Es beteten noch mehr als vorher. Wir waren ca. 5 Stunden zusammen. Ehe wir auseinander gingen, bezeugten etwa 80 Personen, dass sie Frieden mit Gott gefunden haben. Zu diesem Erfolg trug wohl bei, dass die Geschwister sich ganz dem Herrn hingegeben hatten und ein ernstes Gebetsleben führten. Trübsale, durch die manche zu gehen hatten, wirkten auch dazu mit.

Nach diesem Sonntag begann die Ernte. Dennoch hatten wir von jenem Tage an alle Abende Gebetsstunden, die gut besucht waren. Die Leute kamen, trotzdem in dieser Jahreszeit die Tage lang und die Erntearbeit schwer ist. Sonst wurde in der Ernte bis zum Dunkelwerden gearbeitet.

In der Herbstzeit hatten wir weitere große Erweckungsversammlungen.

Dem Bruder Kern lag Gottes Sache sehr am Herzen. Als er sah, dass der Raum in seinem Hause im bevorstehenden Winter zu klein würde, kaufte er ein geräumiges Haus, das er auf seinem Grundstück wieder aufstellen konnte. In diesem Haus waren schon mehrere Jahre Gottesdienste gehalten worden. Es wurde auch als Volksschule benutzt. Die Kolonie, in der dieses Haus stand, wurde aufgelöst, weil die Regierung diese Fläche mit Wald bepflanzen wollte. Dieses Haus baute er auf seinem Hof auf. Und nun hatten wir genug Räumlichkeiten und Platz, so dass sich Hunderte ungehindert versammeln konnten. Im Herbst wurde auch dieses Haus noch zu klein. Wir hatten da des Öfteren erfolgreiche Gebetsstunden, in denen sich auch noch viele bekehrten. An einem Abend, der mir noch besonders in Erinnerung ist, suchten und fanden über dreißig Menschen Frieden im Herrn.

Da ich sah, dass mich der Herr so segnete, bat ich ihn ernstlich, dass er mich recht demütig erhalten möchte. In mir war schon immer Furcht vor dem Stolzwerden. Mit Gottes Hilfe versuchte ich, auch darauf immer ein wachsames Auge zu haben. Ich musste noch vieles lernen, und es war auch ein großes Verlangen in mir, vom Herrn selbst gelehrt zu werden. Der Herr erhörte auch diesen meinen großen Wunsch. Er führte mich aber zu diesem Zwecke auch manche Wege, auf die ich nicht vorbereitet war. Da die Grundlage der Gemeinde im Besonderen Liebe, Demut und Einheit ist, versuchte ich, den mir anvertrauten Seelen zu helfen, dieses immer vollkommener zu erlangen. Doch der Herr unterließ auch nicht, das Wort der Predigt auch an mir selbst reden zu lassen. So blieb es auch nicht aus, dass die Beugung und Demut, die ich von jemanden erwartete, ich selbst erst praktizieren musste.

Im Dezember 1910 fuhr ich nach Essen (Deutschland) zu einer großen Konferenz. Inzwischen hatte der Teufel einen bösen Plan geschmiedet. Es hatte nämlich jemand an den Gouverneur eine lügenhafte Anklageschrift gesandt, die gegen mich gerichtet war. In dieser wurde ich schwer beschuldigt. Ich würde von Dorf zu Dorf reisen und predigen, dass alle Kirchen und Schulen und alle Leute, die sich mir nicht anschlössen, Teufel seien und mehr dergleichen Dinge... Dann noch, dass ich schlimme Dinge treibe, die man so ohne weiteres gar nicht nennen kann. Zwölf Männer hatten diese Anklageschrift unterschrieben.

Unter der alten Regierung in Russland hatte eine Klage, die von 12 Personen unterzeichnet war, eine sehr große Bedeutung und Kraft. Aufgrund dieser Klage erließ der Gouverneur sofort einen Haftbefehl gegen mich. Ich aber war zu der Zeit gerade in Deutschland. Als die Gemeinde von den Nachstellungen der Polizei erfuhr, war sie sehr bekümmert und um mich besorgt. Sie beschlossen, mir den Sachverhalt sofort mitzuteilen und mich dringend zu bitten, unter diesen Umständen zu meiner Sicherheit vorerst in Deutschland zu bleiben, bis sich diese Sache überlebt hätte. Tatsache war, dass ich nach dem damaligen Gesetz aufgrund dieser Anklage hätte nach Sibirien verbannt werden können. Eigenartigerweise wusste aber niemand aus der Gemeinde meine Adresse. Es lief einer zum anderen, doch niemand wusste, wie ich zu erreichen war. Trotz der großen Anstrengungen, die deshalb gemacht wurden, konnte ich nicht benachrichtigt werden, dass ich noch nicht zurückkommen sollte. Ich aber hatte von alledem, was da gegen mich lief, keine Ahnung. In meinen Papieren hatte ich Erlaubnis nur 28 Tage in Deutschland zu bleiben. So fuhr ich nach Ablauf dieser Zeit frohen Mutes wieder auf mein altes Arbeitsfeld zurück. Meinem Hauswirt war befohlen worden, bei meiner Rückkehr der Polizei sofort Anzeige zu erstatten.

Infolge der herrlichen Erfolge, die uns der Herr in jener Gegend eingeräumt, sahen gewisse Leute etwas scheel auf unsere Arbeit. Und wenn auch nicht offen, so wünschten sie im Geheimen, dass ich nicht wieder zurückkommen möchte. Außerdem freuten sie sich und hofften, dass diese Anklage der Sache Gottes einen Dämpfer verabreichen würde. Auch die Frau meines Hauswirtes gehörte offenbar zu denen, die für den Erfolg unserer Arbeit desinteressiert waren. Als ich nun ankam, sagte sie mir sogleich, dass ich von der Polizei gesucht werde.

„Nun, dann will ich gleich hin“, erwiderte ich.

„Allein?“ – fragte sie. „Es kann doch jemand mitgehen“.

„O, ich gehe schon allein“, antwortete ich. Und obwohl müde und hungrig von der Reise, begab ich mich gleich auf den Weg zur Polizeistation. Als ich im Amtszimmer meinen Namen sagte, war der Beamte recht erschrocken. Als könnte er es fast nicht glauben, fragte er: „Sie sind Rudolf Malzon, der Prediger, der auf den Dörfern herumreist und predigt?“

„Ja, der bin ich“, gab ich zur Antwort.

„Wer hat Sie hergebracht?“ – fragte er weiter.

„Niemand“, gab ich zur Antwort. „Ich bin allein gekommen“.

Als er sah, dass ich wirklich allein gekommen war, wunderte er sich und fragte: „Wissen Sie, dass Sie verhaftet sind?“

Ich sagte: „Wenn Sie das Recht dazu haben, was kann ich da machen? Aber ich möchte wissen, warum Sie mich verhaften“.

Dann sagte er etwas von einer Anklageschrift gegen mich, in der schreckliche Dinge geschrieben stünden. Jetzt erschrak ich doch etwas. Da er jedoch eine gewisse Aufrichtigkeit an mir zu sehen schien, zumal ich von selbst gekommen war, war er sehr freundlich, und es schien auch, besorgt um mich. Er wunderte sich, dass ich erst mit dem 12-Uhr-Zug aus Deutschland angekommen und so unmittelbar nach meiner Ankunft (es war 1 Uhr) schon auf der Polizeistation vorspreche. Das veranlasste ihn, mir das Protokoll vorzulesen. Es erschreckte mich auch etwas, als ich nun hörte, was da für Sachen drinstanden. In der Tat, wenn das den Tatsachen entsprechen würde, dann hätte die Polizei gewiss recht, mich schwer dafür büßen zu lassen!

Ich wusste aber, dass ich ganz unschuldig war. Dieses machte mich dreist und sicher. Ich fragte den Beamten, ob ich erfahren könnte, wer denn die 12 Personen seien, die unterschrieben hatten. Da ich nun doch schon verhaftet war (denn er hatte den Befehl vom Gouverneur mich nicht mehr loszulassen, und er wohl ein gewisses Vertrauen zu mir haben möchte), hielt er mir das Schriftstück hin, und ich durfte es noch selbst durchlesen, auch die Unterschriften. Als ich aber unter den zwölf Unterschriften die Namen zweier unserer Brüder fand, namens Dräger und Kern, kam ein freudiges, erleichterndes Gefühl über mich. Ich erkannte sofort, dass die Unterschriften gefälscht waren. „Hier sind die Namen zwei meiner Brüder aus der Gemeinde, die haben nicht selbst unterschrieben“, rief ich aus. Der Beamte war sehr erschrocken, kam wieder heran und schaute selbst nach. Ich bewies ihm dann, dass diese drei Unterschriften und eventuell noch andere gefälscht seien. Obwohl der Schreiber sich große Mühe gegeben hatte, seine Handschrift zu verändern und die Unterschriften in die verschiedensten Lagen und Stellungen zu bringen, war es bei genauer Beobachtung doch zu erkennen, dass die einzelnen Buchstaben einander glichen. Der Beamte rief seinen Schreiber herbei. Auch dieser gewann die Überzeugung, dass die Unterschriften gefälscht seien.

„Wenn das so ist, dann sind sie frei!“ – meinte der Beamte. „Dann werden wir nur am Sonntag zu Ihnen kommen und eine kleine Hausdurchsuchung vornehmen, wie unser Gesetz es uns vorschreibt“. Ich nahm mir nun die Freiheit und fragte, ob sie nicht an einem anderen Tag kommen könnten, vielleicht am Sonnabend oder Montag, am Sonntag wäre ich nicht zu Hause. Das mag ihm meinerseits etwas zu dreist vorgekommen sein. Oder ich hatte damit seine Beamtenehre ein wenig angetastet. Er fragte mich etwas barsch: „Ja, wo werden Sie denn sein? Sie wollen wohl wieder auf der Kolonie und in den Dörfern predigen?“

„Ja, das habe ich vor“, – gab ich zur Antwort.

„Haben Sie überhaupt Erlaubnis zum Predigen?“ – fragte er nun.

Ich antwortete: „Ja!“ Dann wollte er meine Erlaubnis sehen. Ich griff in die Tasche, zog meine Bibel heraus und zeigte sie ihm.

„Was ist das für ein Buch?“ – fragte er.

Ich antwortete: „Das ist die heilige Bibel!“

„Wollen Sie mit mir scherzen?“ – fuhr er mich an.

„Nein“, sagte ich. „Das ist mein heiliger Ernst. Hier stehen die Befehle drin, wie sie auch den Aposteln gegeben waren“.

Eine behördliche Erlaubnis zum Predigen für einen Nichtorthodoxen zu jener Zeit zu bekommen, machte sehr viel Schwierigkeiten. Weil man den Evangelisten eine solche überhaupt nicht geben wollte, dauerte das Auswirken einer solchen Erlaubnis Jahre. Dem Beamten schien meine Antwort durchaus nicht stichhaltig. So sagte er wieder in recht barschem Ton: „Sie wissen doch, dass ich Sie verhaften kann?“

„Ja“, gab ich zur Antwort. „Mich zu verhaften, haben Sie die Erlaubnis. Und zum Predigen habe ich die Erlaubnis. Und wenn Sie mich ins Gefängnis stecken, werde ich dort predigen, sofern ich Gelegenheit habe. Und wenn Sie mich nach Sibirien verbannen, werde ich auch dort predigen!“

Schließlich entließ er mich.

Fröhlich ging ich heim. Anfangs blieb ich auch am Sonntag zu Haus, um die Polizei nicht zu ärgern. Als sie aber nicht kamen, fuhr ich doch noch weg. Und sie sind überhaupt nicht gekommen. Die Gefahr war also abgewandt. Und wie schade wäre es gewesen, hätte ich benachrichtigt werden können! Wir alle betrachteten es als Führung vom Herrn, dass niemand meine Adresse ausfand. Bald danach erfuhren wir auch, wer diese Anklageschrift aufgesetzt und die Unterschriften gefälscht hatte. Die Polizei drängte uns, den Betreffenden von uns aus anzugeben. Er wäre wohl für die Unterschriftenfälschung und für die Irreführung der Polizei nicht minder bestraft worden, als ich für das zur Last Gelegte. Ich sagte aber der Polizei, dass wir niemanden anklagen möchten. Wenn der Betreffende sich bekehren würde, dann würde er selber kommen und es bekennen.