Anfänge in anderen Gegenden

Die köstlichen Wahrheiten des Wortes Gottes brannten heiß auf meinem Herzen. Ein großes Verlangen beseelte mich, dass das helle Licht der Wahrheit nicht nur in dieser Gegend, sondern auch auf vielen anderen Plätzen Verbreitung finden möchte. So fuhr ich zunächst nach der Kreisstadt Rowno (eine Getreidehandelsstadt mit 39.000 Einwohnern, später Polen zugehörig) und erwirkte mir bei dem Wolhynier, Kieewer und Podoler Gouverneur das Recht, einen Schriftenvertrieb einrichten zu können. Zu gleicher Zeit begann ich, gute christliche Bücher und Schriften, wie auch Bibeln und Bibelteile unter die Leute zu bringen. Bald fand ich auch fähige Mitarbeiter, die nicht allein in dem Wolhynier, Kieewer und Minsker Gouvernement den guten Samen des gedruckten Wortes ausstreuten, sondern auch im nördlichen Kaukasus, im Wolgagebiet, in der Krim und Sibirien.

Hierbei benutzte ich auch die Gelegenheit, eine Familie Manske zu besuchen, die in der Nähe von Rowno wohnte. Mit Bruder Manske war ich bereits auf der Tschernjachower Konferenz bekannt geworden. So hielten wir nun in seinem Hause eine Versammlung – die erste in dieser Gegend. Unter anderen kam sein Nachbar, Alexander Wilde mit seiner Frau. Beide bekehrten sich sehr bald zu Gott. Sie waren sehr liebe Menschen. Mit Freuden nahmen sie sehr bald die Versammlung in ihr Haus, das dafür noch günstiger war (mehr Platz und besser zu erreichen).

Die Leute in der Gegend waren über die Kunde verwundert, dass Wildes sich bekehrt hätten. Man sagte: „Wovon haben die sich eigentlich bekehrt? Sie führten doch ein so vorbildliches Leben!“ Bruder Wilde sagte aber öfter: „Stille Wasser haben tiefe Gründe. Ich weiß, wovon ich mich bekehrt habe!“ Ihr Leben war schon vorher nach außen ohne Tadel. Sie gaben beide das Zeugnis, dass sie sich in den 23 Jahren ihrer Ehe nie beleidigt hätten. Sie sagten, dass sie während der ersten Predigt in ihrem Herzen tief ergriffen wurden, und seien überzeugt, dass vor Gott nicht das Äußere gelte, sondern eine Herzenserfahrung. Sie hatten vorher auch nicht bekannt, bekehrt zu sein. Die Kunde von der Herzensbekehrung bei Ehepaar Wilde verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Wer mit sich selbst aufrichtig war, dem war die Zeit nicht zu schade und der Weg nicht zu weit, unter das Wort Gottes zu kommen. In den Tagen übergab auch Familie Peglau aus der Nachbarkolonie ihr Herz dem Herrn und ihr Haus zur Stätte der Anbetung.

Eines Tages kamen aus der Kolonie Kuple zwei Kundschafter in die Versammlung. Nachdem sie alles Gesprochene richtig und gut befunden hatten und in ihren Herzen erfasst zu sein schienen, baten sie mich gleich am 1. Ostertag (dies war im Jahre 1910) bei ihnen und am 2. Ostertag sechs Kilometer weiter an einem anderen Platz, Versammlung zu halten. Ich empfand es als des Herrn Leitung, ging hin, und so bildeten sich an diesen beiden Orten kleine Gemeinden. Zu den Veranstaltungen kamen Leute aus den verschiedensten Ortschaften zusammen. Klein-Kuple wurde gewissermaßen der Hauptort. Dort fanden die größten Versammlungen statt. Aus allen Richtungen wurden heils- und wahrheitssuchende Menschen angezogen.

Eines Sonntags kam ein Mann namens Gläsmann aus Sergeufka, Kreis Rowno, in den Gottesdienst. Nach der Predigt lud er mich ein, ihn zu besuchen. Er versprach mir, mich am Sonnabend mit dem Wagen von Rowno abzuholen. Ich willigte ein. Zur festgesetzten Zeit kam er mit seinem Wagen. Ich stieg auf den Wagen. Als ich schon saß, sagte er, ich solle damit rechnen, heute bei ihm zu übernachten. Er würde mich heute kaum zurückfahren können. Ohne viel zu überlegen, antwortete ich: „Wenn der Herr will, bleibe ich acht Tage bei euch“. Er wurde still und ließ seine Rappen tüchtig traben. Bald hatten wir die 10 Werst hinter uns.

Zu Hause angekommen, sagte er zu seiner Frau: „Jetzt habe ich einen Mann gebracht, der hat sich geäußert, dass er acht Tage bei uns bleiben will“. Die Frau sagte: „Warum hast du ihn denn gebracht?“ „Nun, er saß schon auf dem Wagen“, gab er zur Antwort. Ich aber wusste von alledem nichts, redete mit den Leuten von göttlichen Dingen und begab mich dann zur Ruhe.

Auch der Sonntag wurde noch mit guter, geistlicher Unterhaltung im Beisein mehrerer Nachbarn zugebracht. Angeregt durch den guten Geist des Wortes, beschloss man, am Montagmorgen noch eine Gebetsstunde miteinander zu haben. Zu dieser sollten eine Anzahl suchender Seelen mitgebracht werden. Nach Schluss der Gebetsstunde baten mich die Leute, doch noch bis zum Abend zu bleiben. Am Abend aber fanden sich weitere suchende Menschen ein. Wir konnten nicht anders und setzten für den folgenden Morgen noch eine Gebetsstunde an. In Anbetracht des spürbaren, herrlichen Segens, den der Herr gab, forderten mich Gläsmanns auf, noch einmal bis zum Abend zu bleiben. Die Eheleute, meine Gastgeber, waren inzwischen Geschwister im Herrn geworden. Die Gottesdienste nahmen ihren Fortgang. Ich musste schließlich die ganze Woche hindurch dort bleiben. So erfüllte sich, was ich nach dem Aufstieg auf dem Wagen gedankenlos gesagt, und was anfangs der guten Frau zur Besorgnis Anlass gegeben hatte. Nachher erzählten sie mir vergnügt ihre anfänglichen Bedenken, und wir hatten große Freude über alles, was der Herr getan hatte.

Wunderbar sind doch die Führungen Gottes! Die Tochter von Geschwister Gläsmann bezeugte nachher, dass sie schon seit längerer Zeit Tag und Nacht keine Ruhe in ihrer Seele gehabt habe. Nun hat Gott ihr jemanden gesandt, der ihr den Weg zu Gott gezeigt hat. Ich musste an das Haus des Kornelius denken (Apg. 10). Fürwahr, Gott hat Mittel und Wege genug!

An einem dieser Tage kam in die Versammlung auch eine Frau, über deren Erscheinen sich alle sehr verwunderten. Weit und breit war es bekannt, dass diese Frau und ihr Mann sehr frech in Sünden gelebt haben. Sie scheuten sich auch nicht, offen das zu proklamieren. Sie ging wieder nach Haus, erschien auch in der nächsten Versammlung und dann immer wieder. Schließlich tat sie Buße und bekehrte sich. Eines Nachmittags, als sie wieder zum Gottesdienst gehen wollte, wurde ihr Mann sehr zornig, als wäre der böse Feind in ihn gefahren. Er misshandelte sie, und zwar in sehr roher Weise. Er zog sie an den Haaren auf den Hof hinaus in die Jauche hinein, die aus dem Stall abfloss. Über die Maßen verwundert war er aber doch, dass sie in keiner Weise sich gegen ihn stellte, wie sie es bei unliebsamen Zusammenstößen sonst zu tun pflegte. Sie stand auf, wusch sich, legte andere Kleider an, ging ins Zimmer und betete für ihren Mann. In seinem Gewissen beunruhigt, lief er an die Zimmertür. Zu seiner großen Verwunderung musste er wahrnehmen, dass seine Frau, anstatt sich gegen ihn zu empören, nun für ihn betete. Gleich einem tiefen Stachel bohrte sich das Verhalten seiner Frau in sein Herz und verursachte ihm einen großen inneren Kampf. Seine Frau ging wieder zur Versammlung. Er erzählte mir später selbst, dass seine Frau ihm wie ein Engel vorkam. Seine Misshandlungen an ihr stellten sich ihm so vor Augen. Er wusste nicht, wo und wie er Ruhe finden konnte und lief vor großer Unruhe mehrere Male von der einen Seite des Hauses zur anderen.

Ich stand auf dem Podium und merkte während der Predigt plötzlich, dass die Anwesenden erschrocken zum Fenster hinausschauten. Sie sahen den Mann kommen und wussten auch, was vorgefallen war. Nichts Gutes ahnend, befürchteten sie, dass er eine große Störung in der Versammlung verursachen würde. Sie befürchteten auch, dass er seine Frau wieder misshandelt. Er kam herein, setzte sich ganz untenan, verhielt sich ganz still. Mit verstörtem Gesichtsausdruck lauschte er gespannt allem, was gesagt wurde. Nachdem die Predigt geendet und ein einladendes Lied gesungen worden war, gingen wir auf unsere Knie, um zu beten. Während des Betens schrie er auf: „Mein Gott, ist auch noch Vergebung für solch einen Sünder, wie ich es bin?“ Er tat ernstlich Buße und bekehrte sich zu Gott.

In ähnlicher und wunderbarer Weise wirkte die Kraft Gottes auch an vielen anderen Seelen und an anderen Plätzen. Von Rowno aus besuchte ich auch einmal die Kolonie Matschulek. Nachdem wir einige Versammlungen gehalten hatten, gab es auch dort eine Erweckung. Mehrere taten Buße, darunter auch der Kirchenvorstand. Als dieser des anderen Tages zu dem Küster kam, erzählte er ihm, was geschehen war. Der Küster hatte offensichtlich eine aufrichtige Liebe zu den Wahrheiten des Wortes Gottes und fragte: „Wo war denn die Versammlung?“ „Im Versammlungsraum der Baptisten“, gab der Vorstand zur Antwort. „Wer war denn der Prediger?“ – fragte er weiter. „Ein freier Evangelist, er gehört keiner Sekte an“. „Warum denn immer bei den Baptisten? Könnte er nicht auch zu uns kommen, in unser Bethaus?“ – sagte nun der Küster. „Oh, wenn wir ihn einladen, dann kommt er schon“.

So beschlossen sie, mich einzuladen. Bald kam der Kirchenvorstand und brachte seine Bitte vor. Etwa nach drei Wochen besuchte ich wieder diesen Platz. Fast das ganze Dorf, auch die Baptisten, kamen in der Kirche zusammen. Wir hatten täglich zwei Versammlungen und danach noch eine Gebetsstunde. Und mehrere bekehrten sich in diesem Dorf zu Gott.

Aus 8 km Entfernung war auch die Frau eines Schankwirtes gekommen. Sie wurde sehr vom Worte Gottes erfasst. Nach Schluss der Versammlung drückte sie mir fünf Goldrubel für die Mission in die Hand. Sie bat um die Gebete der Kinder Gottes. Innig bat sie Gott, ihr auch solche Erfahrung zu schenken, wie heute gepredigt worden sei. Bald darauf erfuhr ich, dass sie Frieden mit Gott fand. Es trug viel zur Verbreitung des Evangeliums bei, dass uns die Brüder vom Ausland mehrere Kisten Freiliteratur geschickt hatten. Gott schenkte mir auch große Freudigkeit, diese Schriften auf Landstraßen, in Städten und bei allen Gelegenheiten zu verbreiten.

Am Schluss einer größeren Versammlung stand ich wieder an der Tür und verteilte Traktate. Ich hatte die Gewohnheit, beim Überreichen der Traktate immer den Titel des Blättchens dem Empfänger zu sagen. Einem Mann mittleren Alters gab ich das Traktat mit der Überschrift: „Warum bist du kein Christ?“ Entsetzt schaute er mich länger an, steckte das Blatt, ohne weiter darauf zu schauen, in seine Tasche. Ihn plagte die Frage, woher dieser Mann ihn kenne. Er kam das erste Mal in die Versammlung, und der Mann fragte ihn, warum er kein Christ sei. Er fragte sich, ob der Mann ein Prophet sei oder woher der Mann ihn kannte? Er wurde hin und her gerissen und entschloss sich, noch einmal diese Gottesdienste zu besuchen. Er kam wieder, kam ein drittes Mal und bekehrte sich zu Gott. An das Blättchen hatte er nicht mehr gedacht. Erst nach seiner Bekehrung zog er es aus seiner Tasche. Er erstaunte sehr, darauf dieselben Worte zu lesen, die ihm aus meinem Munde eine so einschneidende Frage gewesen waren. Jetzt verstand er auch den Zusammenhang. Gott aber war es, der alles so geführt hatte.