Glaubenserfahrungen

Schon durch meinen lieben Vater bekam ich von Kindheit an manche Anregungen hinsichtlich des Glaubensgebets und der Glaubenserfahrungen mit auf den Weg. Bei besonderen Gelegenheiten kamen mir diese immer wieder in den Sinn. Auch durch Schriften über Georg Müllers Glaubenserfahrungen wurde ich auf mancherlei Weise zu einem Leben des völligen Gottvertrauens angeregt. Immer wieder bekam ich die Überzeugung, dass ein Prediger noch viel mehr lernen sollte, auf Gott zu vertrauen. Bald konnte ich auch manche wunderbare Erfahrungen darin machen. Gewahrte ich irgendwo, dass ein Prediger anfing, nach Irdischem zu trachten, so stieg ein gewisser Zweifel in mir auf, ob der betreffende auch wirklich zum Predigen berufen sei.

Einmal kam eine Frau mit verweinten Augen zu mir und bat mich, doch schnell in ihr Haus zu kommen. Als ich in ihre Wohnung trat, lag der Mann in den letzten Zügen. Sie hatte mich gerufen, dass ich noch für und mit ihm beten sollte. Ich tat nun, was ich konnte und wusste. Bald verschied der Mann, und die Frau saß an seiner Seite und weinte sehr. Ich versuchte, sie in ihrer Lage zu trösten. Schließlich sagte sie, es wäre wohl nicht darauf zu hoffen gewesen, dass er noch länger am Leben hätte bleiben können, zumal er auch schon alt gewesen sei. Aber was ihr jetzt neben seinem Abscheiden besonders schwer auf dem Herzen liege, sei ihre Armut. Sie habe nichts, ihn unter die Erde zu bringen. Als ich dieses hörte, empfand ich Mitleid für diese Frau und überlegte, ob ich ihr nicht irgendwie helfen könnte. Ich öffnete meine Geldbörse, in der ich noch sechs Rubel (zwei Dreirubelstücke) hatte. „Drei Rubel“, sagte ich zu mir selbst, „sind zu wenig, aber mit diesen sechs könnte sie ihren Mann zur Not schon beerdigen“. Als ich ihr diese sechs Rubel gab, weinte sie noch lauter. Sie sagte, dass sie diese nicht annehmen könnte, ich sei doch auch ein armer Mensch. Mit ihren Klagen hätte sie doch nicht gemeint, dass ich ihr etwas geben sollte. Nur hätte ich, weil ich das Vertrauen vieler besäße, mich vielleicht ein wenig verwenden können, andere zur Mithilfe zu veranlassen. Nur auf vieles Zureden behielt sie das Geld. Sie bat mich dann noch, die Begräbnisrede zu halten. Da ich hierzu einer Erlaubnis bedurfte, wollte sie diese für mich einholen.

Ich war wieder heimgegangen. Jedoch schon auf meinem Weg, als ich ein Stück weit über das Feld gehen musste, begegnete mir der Versucher und flüsterte: „Was hast du jetzt gemacht? All dein Geld hast du ihr gegeben! Hast du nicht auf einem auswärtigen Platz schon eine Versammlung bestellt? Weißt du nicht, dass die Fahrkarte dorthin einen Rubel kostet?“ Ich versuchte, dem Feind zu widerstehen, aber immer wieder flüsterte er mir zu: „Dir fehlt doch ein Rubel!“ Schließlich trat ich fest auf meine Füße und sagte entschieden: „Der große Gott, dem ich diene, kann mir einen Rubel geben, wenn es nötig sein wird. Ich vertraue ihm!“

Der Reisetag brach an, aber der benötigte Rubel war noch nicht da. In stillem Gebet blickte ich nach oben und sagte: „Mein Gott, haben andere Männer dir vertraut, so will ich dir auch vertrauen“. Schon fuhr der Wagen vor, der mich zum Bahnhof bringen sollte. Ich stieg auf den Wagen. Der Fuhrmann trieb die Pferde an, und fort ging es, ohne den Rubel. Als wir ungefähr einen Kilometer weit gefahren waren, sah ich plötzlich rechter Hand einen Mann im Laufschritt über die Wiesen auf uns zukommen. Er winkte mit der Hand, und so blieben wir stehen. „Ich bin gestern nicht in der Versammlung gewesen und konnte nicht Abschied nehmen“, rief er, „und sehe jetzt eben, dass du schon fährst“. Als er sich verabschiedete, drückte er einen Silberrubel in meine Hand. Ich schloss die Hand mit dem Rubel und sagte: „Gelobt sei der große Gott, der nie seine Kinder verlässt!“ Die beiden Brüder wussten nicht, was mein Ausruf zu bedeuten hatte. Noch einmal „Auf Wiedersehen!“ – und weiter ging es dem Bahnhof zu. Ich aber dankte dem Herrn für seine gnädige Hilfe. Ich konnte meine Fahrkarte lösen und an jenem Platz, wie angesagt, im Segen den Gottesdienst halten.

Als ich von dieser Reise wieder nach Hause zurückkehrte, fand ich zu meiner Verwunderung eine Mitteilung vom Postamt im Briefkasten, dass Geld für mich angekommen sei. Sogleich begab ich mich auf den Weg dorthin. Vom Postbeamten wurde ich ein wenig ausgefragt, ob ich von jemanden 15 Rubel erwarte. Natürlich konnte ich ihm nur antworten, ich wisse eigentlich von nichts. Er las einen Namen vor und fragte, ob ich von dieser Person Geld erwarte. Ich sagte: „Einen solchen Mann kenne ich gar nicht!“ Dann fragte er noch, ob ich von Amerika Geld erwarte. Ich antwortete: „Es könnte möglich sein“ – und fügte lächelnd hinzu, wenn es für mich ist, solle er es mir nur geben. Schließlich zahlte er mir die 15 Rubel aus. Auf meinem Heimweg musste ich denken: „Der Herr gibt doch hohe Prozente! Für sechs Rubel gibt er mir sechzehn“. In der nächsten Zeit durfte ich noch mehr derartige Erfahrungen machen. Immer besser konnte ich ausfinden, wie gut es ist, „auf den Herrn vertrauen und sich nicht verlassen auf Menschen!“

Auch in anderer Beziehung ließ mich der Herr mehr und mehr erkennen, dass seine Verheißungen in ihm „Ja und Amen“ sind. Immer größer wurden mir die Worte der Schrift, die uns zum Glauben und Vertrauen ermutigen.

Anfang des Jahres 1915 brach in unserer Gegend eine gefährliche Kinderkrankheit aus, an der durch innere Halsschwellungen mehrere Kinder bereits erstickt waren. Auch unser Söhnchen, im zweiten Lebensjahr stehend, wurde von dieser Krankheit hart angegriffen. In einer Nacht, als es mit ihm besonders schlimm geworden war, hatte ich das Versprechen einzulösen, um vier Uhr an einem bestimmten Ort zu sein. Unser Kind wälzte sich, mit dem Tode ringend, hin und her. Ich kämpfte: „Soll ich die wichtige Verabredung brechen und hier bleiben? Oder soll ich gehen und Gott vertrauen?“ Es lag mir beides hart an. Ich betete ernstlich zu Gott. Mir kam dann die innere Überzeugung, dass ich, gestützt auf den starken Arm des Herrn, trotz des menschlicherseits so sehr bedenklichen, ja fast hoffnungslosen Zustandes unseres Kindes doch gehen und mein Versprechen einhalten sollte. Mit Worten des Trostes und der  Ermutigung verabschiedete ich mich von meiner lieben Frau. Unterwegs betete ich weiter.

Am Ziele angekommen, zog ich meine Bibel heraus und las die Stelle im 107. Psalm: „Die zum Herrn riefen in ihrer Not, und er half ihnen aus ihren Ängsten. Er sandte sein Wort und machte sie gesund und errettete sie, dass sie nicht starben“. Ich schaute auf zum Herrn und sagte: „O Gott, der du damals helfen konntest, du kannst auch jetzt helfen. Du bist derselbe Gott, der du warst, und wirst es bleiben in Ewigkeit!“ Etwa gegen zwei Uhr nachmittag hörte ich auf zu bitten. Mein Herz wurde leicht und froh. Ich konnte nicht mehr bitten, sondern danken, und das bis zum Abend. Als ich am Abend heimkehrte, schaute ich erst durch das Fenster in das Zimmer hinein. Zu meiner großen Freude sah ich den Kleinen fröhlich in der Stube umherlaufen. Gott sei Lob und Dank! Gott hatte unser Gebet erhört.