Meine Rückreise

Obwohl unsere Verwandten und Bekannten alles Mögliche in Bewegung setzten, uns dort zu behalten, konnten wir uns dazu nicht entschließen. Für ein Haus und Garten war schon gesorgt. Auch ein Sack Kartoffeln (so ist das dortige Maß, ein 1,5 Meter langer Sack) war schon für uns gepflanzt. Auch wollte mir mein Schwiegervater von seinen 45 Hektar Land über die Hälfte abgeben. Aber dies alles hat uns dort auch nicht halten können. Ich entschloss mich, wieder nach Omsk zurückzufahren, um dort rechtzeitig Vorsorge für den Winter zu treffen. Meine Frau mit unseren Söhnen Ruben und Otto blieben noch dort. Sie wollten gern dort im Urwald die Ernte von Himbeeren, Erdbeeren und Heidelbeeren und den verschiedenen anderen Urwaldfrüchten erleben. So machte ich mich allein auf die Reise.

Als ich nach zwei Tagesreisen wieder am Bahnhof ankam, musste ich ganz unbestimmt 10 Stunden auf den nächsten Zug warten. Es wusste dort niemand, wann der Zug ankommt und wann er wieder weitergeht. Die ganze Zugfahrt ging dort nicht ordnungsgemäß zu. Die Männer mit den Gewehren in den Händen hatten dabei das Sagen. Wenn sie ein guter Freund bat zu warten, bis er eine bestimmte Sache an einem Ort erledigt hatte, befahlen sie dem Maschinisten, mit der Abfahrt zu warten. Es half auch nichts, dass die Reisenden sich darüber empörten und lautstark die Weiterfahrt durchsetzen wollten. Es wollte natürlich ein jeder zu seinem Reiseziel. Aber es rief einer so und der andere evtl. das Gegenteil. Ich habe unter den Passagieren noch nie eine solche Unzufriedenheit erlebt, wie in diesem Zug. Mehrere Reisende waren schwer erkrankt, alle Reisende fanden Tag und Nacht keine Ruhe.

Nach ein paar Tagen erkrankte auch ich. Wenn der Zug hielt, stieg ich sofort aus, lief weit vom Zug weg, um von all dem Getümmel eine Weile nichts zu hören und sehen. Etwas trug auch meine Gemütsstimmung dazu bei. Ich hatte ja meine Familie in der Fremde gelassen und fuhr aus einer Fremde in die andere. Noch etwa 12 Stunden vor Omsk fühlte ich mich so elend, dass ich glaubte sterben zu müssen. In jenen Zeiten achtete man ein Menschenleben sehr wenig. Es wurde nichts danach gefragt, ob jemand krank war oder auch starb. Diese Tatsache machte mich noch kränker und legte sich sehr schwer auf mein Herz. In dieser Zeit schwebte mir ein prophetisches Wort vor, und ich konnte es nicht loswerden: „Der Gerechte kommt um, und ist niemand, der es weis“. Oft suchte ich mir ein stilles Plätzchen, hob meine Augen, Herz und Hände empor zu Gott. Ich bat ihn, er möge mich doch am Leben erhalten und wieder mit den Meinigen zusammenbringen.

Eine geängstete deutsche Familie stieg in mein Abteil ein. Da es mit mir bis dahin nicht besser, sondern immer schlechter geworden war, wollte ich mich schon diesen Leuten anvertrauen. Mir war sterbenselend, und ich wollte ihnen meine Papiere und alles, was ich bei mir hatte, abgeben. Dann hätten die Sachen nach meinem Abscheiden wenigstens in ihre Hände gelangen können. Die Adresse und ein Begleitschreiben hatte ich schon fertig. Nun stiegen sie aber an der nächsten Station wieder aus.

Und, Gott sei Lob und Dank, ich kam noch am Leben in Omsk an. Inständig bat ich den Herrn um körperliche Kraft. Der Herr erhörte mein Gebet, und ich konnte noch zu einem Einkehrhof gehen. Ich fand dort auch eine Fuhre, die in Richtung Trubetzkoi fuhr, und die mich mitnahm. Nach etwa 35 Werst Fahrt kamen wir nach Asowa und übernachteten dort. Dass ich in dieser kalten Nacht und in diesem Rauch und Qualm am Leben geblieben bin, kann man nur als ein Wunder des Allmächtigen bezeichnen. Mit Gottes Hilfe kam ich dann doch am nächsten Mittag zu meinen Verwandten.

Meine Schwester Emilie erschrak sehr über meinen Zustand und mein Aussehen. Wiederum freute sie sich sehr, dass ich noch am Leben angekommen war. Sehr bald war ich dann im Bett und in einen tiefen Schlaf gesunken. Nur mit viel Mühe gelang es meiner Schwester, mich zum Trinken und Essen munter zu bekommen. Am schnellsten bekam sie mich wach, wenn sie sagte: „Ich befürchte, du schläfst auf einmal für immer ein!“

Jedes Mal, wenn ich meine Schwester wahrnahm, sah ich in ihrer Hand einen dicken Brief. Ich konnte mich aber nicht so viel ermuntern, dass ich danach fragen konnte. Meine Schwester versuchte mir wohl bei jedem Wachwerden ihren Herzenskummer mitzuteilen, aber ich war nicht in der Lage, es aufzunehmen. Etwa nach einer Woche – ich kann es in meinem Leben nie vergessen – erwachte ich wie aus einem ganz tiefen, tiefen Schlaf. Sie sagte unter anderem: „Täglich versuche ich zigmal dir meine Lage zu klagen, aber du schläfst nur!“ Als sie merkte, dass ich ihre Worte aufnahm, sagte sie weiter: „Deiner Frau habe ich von deiner Ankunft und Krankheit geschrieben. Aber es wird wohl ein Monat vergehen, bis sie den Brief bekommt. Und dieser Brief in meiner Hand ist von unserem Rudi. Er ist an der türkischen Front erkrankt und nach Tiflis gebracht worden. Nun schreibt er, dass es ihm besser geht und er für eine Zeit zur Erholung nach Hause darf. Diesen Brief hat er am 30. Mai geschrieben, und nach drei Tagen wollte er dort abreisen. Und nun ist es schon Anfang Juli, und er ist immer noch nicht hier! Auch liegt dem Brief so eine undeutlich geschriebene Adresse bei, die wir, auch sogar der Schreiber und andere, nicht lesen können“.

Mein Schlaf war sofort verdrängt, denn ich sah, dass es die Grabnummer von Rudolf Rose war. Weil in der russischen Sprache die zwei Worte „gestorben“ (umer) und „Straße“ (uliza) in mancher Handschrift schlecht zu unterscheiden sind, wurden die Briefleser hierdurch irregeführt. Mich ergriff die Nachricht bis ins tiefe Innere. Meine Schwester merkte es mir gleich an, dass hier etwas nicht stimmte. Ich konnte mich auch nicht täuschend verhalten, da mir dieser Neffe auch so nahe stand, wie mein eigenes Kind. Wir waren beide von Kind auf zusammen. Und ich war ihm, außer seiner Mutter, der Liebste. Außerdem war ich auch der Lieblingsbruder seiner Mutter. Nicht allein, dass sie mir das „Kindermädchen“ war. Sie war von all meinen Schwestern die einzige, mit der ich auch in vollstem Vertrauen mein geheimstes Anliegen beraten konnte. Deshalb gab sie auch ihrem ältesten Sohn meinen Namen. Obwohl meine Schwester noch drei Kinder hatte, schien der Rudolf ihr Liebling zu sein. Und ohne dass ich ihr das Geschriebene erläuterte, schrie sie laut auf: „Unser Rudolf ist tot!“

Herzzerbrechende Gefühle nahmen uns gefangen. Es ist unmöglich, sie zu beschreiben. Meine Müdigkeit und Abgeschlagenheit waren durch diese traurige Nachricht verschwunden, aber meine Krankheit wurde schlimmer. Wir sahen auch hier keinen anderen Ausweg, als uns und auch die Krankheit in die Hände des Allmächtigen zu legen und stille im Glauben die Hilfe zu erwarten. Unser große Arzt, dem wir in allen Lebenslagen vertrauten, ließ uns auch nicht zu lange warten. Er half auf wunderbare Weise, und ich wurde bald wieder gesund. Dem Herrn sei dafür alle Ehre!

Nach Wochen kamen meine Frau und Kinder mit einer Fuhre auf den Hof gefahren. Meine Schwester begrüßte sie mit Weinen und Trauer, und es fiel auch der Name „Rudolf“. Meine Frau machte sich im Stillen schon auf alles gefasst. Von dem Tod meines Neffen hatte sie keine Ahnung. Und von mir wusste sie auch nicht mehr, als dass ich krank war. Sie sah mich auch nirgends und scheute sich, nach mir zu fragen. Was war das für eine Freude und Erleichterung für meine Frau, als sie hörte, dass ich schon drei Tage außer Bett bin! Ich war in dem Moment schon sogar geschäftlich unterwegs. Die Dankbarkeit und Freude darüber lässt sich nicht beschreiben.

Es war sehr schwer in der Wohnung, die auf dem Felde ziemlich einsam lag, zu überwintern. Andererseits war es, nachdem so viele Flüchtlinge gekommen waren, mit den Wohnungen schwieriger geworden. So versuchten wir, uns nach etwas Passendem umzusehen. Wir brachten unsere Not zu dem, der bisher so treulich für uns gesorgt hat. Und bald wurde auch unser Flehen erhört. Als ich eines Tages wieder in der Dorfgemeinde beim Schreiben mithalf, bot mir ein Mann eine halbe Djusch Land zur Pacht an (etwa 7 Hektar). Wir durften darauf auch bauen. Dieses Land lag zwischen zwei Okolken (Wäldchen). An einem von diesen suchten wir uns einen Bauplatz aus und gingen sofort ans Werk. Mit einem Pflug ackerten wir zuerst ein Stück Wiese um. Aus den so gewonnenen Rasenstreifen bauten wir ein Haus und gleich einen Stall daran. Die Wände, etwa 70 cm dick, wurden mit einem spitzen Spaten von innen und außen geglättet und mit Kalk geweißt. Das Dach wurde von oben mit Rasenstücken erstellt, darauf wurde Lehm gelegt. Von unten an das Rohr wurde auch Lehm angebracht, der dann schön gewölbt und geweißt wurde.

So wohnten wir schon im September 1917 in unserem neuen Haus. Das Wasser mussten wir von unserem nächsten Nachbar holen. Noch ehe es Winter wurde, kauften wir uns Stroh zu Futter und schafften es beizeiten nach Hause. Bald hatten wir wieder für uns genug Vieh, auch Schafe, Pferde und was wir sonst nötig hatten.