Unser Besuch in der „Taiga“

Im Frühjahr 1917 schrieben meine Schwiegereltern aus dem Gouvernement Jeniseisk, dass wir sie besuchen sollten. Wir säumten auch nicht lange, verkauften unser Pferd und alles Vieh bis auf eine Kuh. Wir fuhren von Omsk 1511 Kilometer mit der Bahn bis nach Kansk, in der Nähe von Irkutsk.

Von dort holten uns die Schwestern meiner Frau mit einem Pferdefuhrwerk ab. Der Wagen bestand, außer seinen zwei Rädern, aus drei Hauptteilen. Die zwei Deichseln, zwischen denen das Pferd eingespannt ist, bilden hinter der Achse zugleich den Wagen. Und die krummen Wurzeln daran – die Lehne. Der Wagen ist nur aus Holz angefertigt. An der Achse, an der die zwei Räder angebracht sind, werden zwei Baumstämme mit Holznägeln befestigt. Hinter der Achse wird der Raum zwischen den zwei Baumstämmen mit Stricken ausgeflochten. Oder er wird mit Schnüren und Stecken befestigt. Darauf kommt dann Heu. Man sitzt ganz gut und bequem auf dem Wagen. Man kann sich hinten auch gut anlehnen.

Wenn die Bewohner jemanden vom Zug abholen, müssen sie mit 5 Tagen Reise rechnen. Die Hin- und Rückreise braucht je 2 Tage. Und einen Tag benötigt man dort am Ort und Bahnhof. Am ersten Tag legten wir etwa 40 Kilometer zurück. Über Nacht blieben wir in einem Alt-Wisselenzi-Dorf. Da erzählte mir ein alter Mann, dass seine Urgroßeltern, als dort noch keine Bahn ging, dahin verbannt worden waren. Sie waren sehr unglücklich. Weil aber doch alle Hoffnung, noch einmal in ihre Heimat zurückzukommen, vergeblich war, ließen sie sich im Urwald, an dem Fluss Kann nieder. Dort bauten sie ihr Dorf am Wasser entlang, wie sie es von zu Hause gewöhnt waren. Aber das Verbannungsgefühl sind sie bis jetzt, nach gut 150 Jahren, nicht los geworden. Obwohl sie sich längst eingelebt haben und unter Ihresgleichen sind, schmerzt sie immer noch sehr diese Art der Behandlung seitens der Regierung. Sie leiden immer noch unter dem Unrecht, das man ihnen durch die Verbannung dorthin angetan hat. Auch das Vertrauen zur Regierung ist noch nicht wieder zurückgekehrt.

Am nächsten Tag setzten wir unsere Reise fort. Zuerst ging es mit einer ärmlichen Fähre über den Kann. An dieser Fähre fand man auch nicht einen Fingerbreit Eisen. Die Stämme waren mit jungen Espen, die dort so geschmeidig sind wie bei uns die Weiden, zusammengebunden. Zwischen den Hölzern konnte man überall das Wasser hindurchsehen.

Dann ging es auf ungebahntem Weg weiter, zwischen schlanken Tannen, über hohe Berge und durch tiefe Täler. Wir kamen dann an einen etwa einen Kilometer breiten Sumpf, über den dicke, runde Baumstämme aneinander gelegt waren. Während der Fahrt über diese „Brücke“ konnte niemand auf dem „Madjor“ (so heißt dieser Wagen) bleiben, auch die Kinder nicht.

Allmählich waren wir, ohne dass man es merkte, in den Urwald „Taiga“ gekommen. Stundenlang waren wir schon durch den Urwald gefahren. Wir trafen dort keinen Menschen, sahen auch kein Haus. Aber zum Urwald „Taiga“ zählte man diesen Wald jetzt nicht mehr, weil doch schon hie und da Menschen wohnten, und weil man durch den Wald schon reisen konnte.

Sobald ein Dorf entsteht, findet man auch ganz in der Nähe eine Quelle. Die fließt aus einem steilen Berg, etwa zwei Meter hoch, ca. 80 cm breit. Unten steht ein großer Trog, in dem die Leute winters wie sommers ihre Wäsche waschen und ihr Vieh tränken. Auf dem anderen Ende des Dorfes treibt diese Quelle eine kleine Wassermühle, die das Getreide mahlt und für das ganze Dorf ausreicht. Wie wunderbar sorgt Gott doch für die Menschen! Er versorgt sie mit seiner Allmacht und Güte auch dort im tiefen Urwald. Natürlich gehört dazu Fleiß, Geschick und Mut. In jener Gegend ist ein jeder Mensch auf sich selbst angewiesen. Er kann mit keiner Unterstützung rechnen. Hat er nichts zu essen, so muss er hungern und auch des Hungers sterben. Der Weg zu einem Laden oder Geschäft braucht mindestens eine Tagesreise.

Der Boden ist dort mittelmäßig. Die Kartoffeln geraten dort besser als in der Halbstepp- oder Steppengegend im Westen. Auch braucht man dort im Sommer keine Fröste zu befürchten, wie es in der Urmann- oder Tobolsker Gegend vorkommt. Der Winter dauert dort etwa 6 Monate – vom halben Oktober bis zum halben April. Der Schnee liegt dort über einen Meter hoch. Er kann in dieser Gegend vom Sturm nicht so festgeschlagen werden wie im Westen. Die Bäume hindern den Sturm daran. Deshalb können die Leute zu Winterzeiten draußen auch fast nichts anfangen. Im Wald kommt man am besten mit den breiten Skiern fort. Obstbäume haben wir dort nicht gesehen. Dagegen waren in den Wäldern vielerlei Früchte, man zählte 14 verschiedene Arten. Dort in den Wäldern gibt es auch viel Bienen, deren Honig sehr geschätzt wird.

„Taiga“ ist der größte Urwald der ganzen Erde. Seine Breite beträgt mindestens 1000 km, seine Länge über 4000 km. Dort wachsen kräftige Lärchen von etwa 20-30 Fuß Höhe, auch riesengroße Tannen und andere Bäume. Was den Wald und das Holz anbelangt, so genießen die Leute dort große Freiheit. Wenn sie sich nicht vor den wilden Tieren fürchten, gehen sie in den Wald hinein und fällen Bäume nach Belieben. Auch die Zedernuss-Ernte ist dort ganz einfach. Die Leute gehen in den Wald, fällen den dazu gewählten Zedernbaum und füllen ihre Säcke. Zedernbäume gibt es dort in Mengen.

Dort im Urwald gibt es auch viele kleine Gewässer. Eines Tages gingen wir fischen. Wir waren sechs bewaffnete Männer. Die Erfahrenen unter uns sagten, dass wir nur einen Viertelkilometer in den Wald hineingehen könnten. Denn sehr leicht könnten wir von reißenden Tieren angefallen werden. Für das Wagnis, weiter in den Wald hinein zu gehen, müssten wir besser bewaffnet sein. Mir kam hierbei die „Waffenrüstung“ in den Sinn, von der die Schrift spricht. Ich dachte bei mir: „Je besser wir im Geistlichen bewaffnet sind, desto weiter können wir uns ins Feindesland hinein wagen. Und um so mehr Beute für unseren himmlischen Vater könnten wir dann einholen“.

Während unseres Dortseins, und besonders in den Pfingsttagen, hatten wir mit denen, die uns schon in Wolhynien innig verbunden waren, recht gesegnete Stunden. Sie freuten sich sehr über das Wiedersehen. Sie waren sehr dankbar dafür, dass sie schon in der Heimat mit dem göttlichen Feuer der Liebe angefüllt worden waren. So hatten sie darin einen guten Vorrat für ihre Seelen mitgenommen. Auch hier hatten sie im Kleinen ihre Gottesdienste und Erbauungsstunden. Nun wurden sie wieder durch eine Neubelebung recht erquickt und erfreut. Wir ermutigten sie, nicht nachzulassen, an den tief gefallenen, verwilderten und in Sünde verderbten Menschen zu arbeiten.

Gespannt hörten wir auch zu, wenn sie uns von den mancherlei Kämpfen mit den wilden und reißenden Tieren erzählten. In anderen Teilen Sibiriens waren die Bären und Wölfe seltener geworden. Sie haben sich in die unwirtlichen Gegenden der „Taiga“, des Urwaldes Sibiriens zurückgezogen. Auch hier ist der Bär nicht gerade ein freundlicher Geselle. Oben im Osten, im Flussgebiet des Amur, kamen selbst Tiger in vereinzelten Fällen vor.

Vater Richter erzählte uns: Eines Tages sah er einen Bär auf sich zukommen, während er auf dem ihm zugeteilten Land arbeitete. Er hatte schon oft gehört, dass man sich in solchen Fällen „tot“ anstellen sollte. So wartete er nicht lange, warf sich zur Erde nieder und stellte sich tot an. Der Bär kam heran, beroch ihn von allen Seiten und legte einen Ast auf ihn, gewissermaßen um ihn zu begraben. Er lag eine Weile ganz still. Als er aber glaubte, dass sich der Bär wieder verzogen habe, erhob er sich ein wenig, um nachzusehen, ob er aufstehen dürfe. Der Bär aber war noch in der Nähe, sah es auch sofort, dass der noch nicht „tot“ war. Er kam schnell wieder an ihn heran, um auch wirklich die Wahrheit über ihn auszufinden. Vater Richter stellte sich aber in seiner Angst noch mehr „tot“ an als vorher. Er ließ mit sich machen, was der Bär nur wollte. Dieser schien an seinem „Tode“ aber doch sehr zu zweifeln. Er legte auf den Ast noch ein großes, schweres Stück Holz. Seiner Ansicht nach, war er jetzt wohl „gründlich begraben“. Vater Richter lag dann sehr lange still und unter nicht geringen Schmerzen. Es fiel ihm sehr schwer, diese Last auf seinem Körper auszuhalten. Aber der Gedanke, wenn der Bär das dritte Mal kommt und noch mehr Äste auf ihn legt, gab ihm die Kraft auszuhalten. Nach langer Zeit war es ihm möglich, unter den Ästen wieder hervor zu kommen.

Ich sagte sogleich zu den Brüdern: „Diese Begebenheit, so aufregend sie für den lieben Vater Richter gewesen sein muss, stellt doch eigentlich ein treffendes Bild von einem unechten Christen dar. Er bekennt, der Welt und der Sünde gestorben zu sein, aber er ist es nicht. Er stellt sich nur so, als wäre er der Welt gestorben. Wenn er glaubt, nicht mehr beobachtet zu werden, hebt er den Kopf wieder in die Höhe. Er ist nur zum Schein der Welt gestorben, in Wirklichkeit lebt in ihm noch der alte Mensch. Der Teufel ist sehr bemüht, ihm immer noch mehr Lasten aufzulegen“.

Bruder Gulbis erzählte uns am gleichen Tag ein anderes Erlebnis, an das er auch mit Schrecken zurückdachte: Eines Tages war ein großer Bär bis auf sein Waldgrundstück gekommen. Bruder Gulbis versuchte sogleich, um einen dicken Baum herumzulaufen. Da der Bär nicht so wendig war, wie Bruder Gulbis, vermochte er ihn nicht zu fangen. So gab es zwischen den beiden eine lange Jagd. Bruder Gulbis wollte sich nicht gern hinwerfen und tot anstellen, er wusste ja, wie es Vater Richter ergangen war. Er erwartete von diesem besonders großen, starken Tier bei dieser Methode auch nicht Gutes.

Es ist zwar nicht des Bären Absicht, den Menschen umzubringen. Vielmehr will er nur seine Kräfte an ihm messen, will mit ihm kämpfen, mit ihm spielen. An sich ist der Bär höchst spaßig und abenteuerlustig veranlagt. Aber in dem Übermaß seiner Kräfte wird ihm gar nicht bewusst, dass er den Menschen umbringt. Darum ist es wirklich nicht ratsam, sich mit ihm in einen Ringkampf einzulassen, Der Bär ist Vegetarier und hat bekanntlich kein Interesse am Fleisch des Menschen. Er lebt nur von Honig und den Beeren, die im Urwald reichlich vorhanden sind. Er frisst sich im Sommer dick und schläft sich im Winter wieder dünn.

Kurz und gut: Jener Bär hätte sich gern mit Bruder Gulbis herumgebalgt. Als er nun sah, dass er ihn nicht fangen konnte, setzte er sich auf seine Hinterbeine. Er hob die Vordertatzen in die Höhe und schrie laut mit seiner Bärenstimme. Schelmisch, wie er veranlagt ist, wollte er dem Menschen zeigen, dass er doch etwas mehr kann als er. Bruder Gulbis sagte: „Als ich das hörte, war ich vor Angst und Schrecken mehr tot als lebendig. Als er eben eine Pause machte, beugte ich mich mit dem Gesicht zu ihm und schrie ihn aus Leibeskräften an. Darüber erschrak der Bär, ließ seine Vordertatzen auf die Erde fallen, schaute lange auf mich, als würde er denken: „Sollte die Stimme eines Menschen wirklich kräftiger sein, als die eines Bären?“ Ich benutzte seine Bestürzung, um rückwärts schreitend hinter den nächsten Baum zu gehen. Die Augen waren immer starr auf den Bären gerichtet. Da sich der Bär noch nicht von der Stelle bewegte, versuchte ich noch einige Bäume zurück zu gehen, bis ich ihn schließlich aus den Augen verlor. Ich lief dann eiligst nach Hause“.

Es war am Sonntag nach der Nachmittagsandacht, als mir das erzählt wurde. Ich sagte zu den Brüdern: „So macht es auch der Teufel. Er brüllt den Christen an, so laut er nur kann, um ihn zu erschrecken und abzulenken (1.Petr. 5:8). Aber wir müssen ihm widerstehen und ihm zeigen, dass wir keine Furcht vor ihm haben. Begegnen wir ihm in der rechten, klaren Weise, dann wendet sich das Bild und er fürchtet uns!“

Wenn mir der Teufel Schlingen legen wollte, wurde ich oft daran erinnert, was ich in meiner Jugendzeit einmal einen Prediger sagen hörte: „Brüder, wenn wir nicht klüger sind als der Teufel, dann fängt er uns!“ Dieser Ausspruch half mir oft, dem Teufel den rechten Widerstand zu bieten.