Von der Einheit

Ein großes Sehnen nach Einheit lag schon von frühester Jugend an in meinem Herzen. Am liebsten hätte ich alle Menschen miteinander vereinigt. Als ich noch nicht bekehrt war, versuchte ich schon entzweite Menschen wieder zusammen zu bringen.

Aus meinem Schul-Lesebuch ist mir noch eine kleine Geschichte gut in Erinnerung, die mir sehr wichtig geworden war und ist. Zu seinen sieben Söhnen, die um sein Sterbelager standen, sagte der Vater: „Holt mir sieben Stäbe“. Sie brachten sie ihm, und er band sie zusammen. „So, jetzt zerbrecht das Bündel!“ – sagte der Vater. Die Söhne versuchten es der Reihe nach, niemand vermochte es. Nun löste der Vater die Stricke von dem Bündel. Er zerbrach nun die Stäbe einzeln mit leichter Mühe. „Seht, meine Söhne: Einigkeit macht stark! Wenn ihr zusammenhaltet, seid ihr unbezwingbar. Seid ihr aber uneinig, kann man euch wie diese Stäbe hier zerbrechen“.

Als ich mehr geistliches Verständnis für die Sache Gottes bekam, sah ich deutlich, dass sich die Christenheit untereinander nicht im gottgewollten Verhältnis zueinander befindet. Das schmerzte mich sehr. Ich hätte es sehr gern geändert, wenn es in meiner Macht gestanden hätte.

Einmal hörte ich eine Auslegung über das 15. Kapitel des Johannes-Evangeliums. Der betreffende Redner sagte unter anderem, „die Reben am Weinstock“ seien die verschiedenen Gemeinschaften. Oh, wie war ich in meinem Innern über eine solche Auslegung unzufrieden! Ich weiß noch gut, wie ich über diese Worte gefühlt habe. Aus Johannes 10:16 sah ich doch so deutlich, dass ein Hirte und eine Herde sein soll. Ich wusste: In allen Kindern Gottes liegt der Wunsch nach Einheit fest und tief verborgen. Es kann doch gar nicht anders sein, als dass alle, die den einigen Gott, seinen Geist im Herzen haben, im Geiste eins sind. Kommen doch Spaltungen vor, so muss vorher ein Spaltungsgeist oder ein Parteigeist in den Herzen Aufnahme gefunden haben. Denn der Geist Gottes will und kann nicht die Kinder Gottes je spalten.

An den Schafen habe ich die wunderbare Lektion der Einheit immer und immer wieder veranschaulicht bekommen. Kein Wunder, dass Jesus gerade die Schafe als Sinnbild gebraucht. Die Bibel, das Alte und Neue Testament, redet viel von den Schafen. Will man z. B. eine Anzahl Schafe in zwei Gruppen teilen, wie ich es in Sibirien und auch im Süden Russlands zur Zeit des Melkens oft gesehen habe, zeigt sich unter den Schafen sofort eine große Unzufriedenheit. Sie fangen sofort an, unruhig zu werden und blöken laut. Sie wollen beisammen bleiben, sonst sind sie nicht glücklich und zufrieden. Werden sie nachher aus den verschiedenen Hürden wieder zusammen gelassen, sind sie wieder beruhigt und fühlen sich wohl. Genau so ist es mit den Schafen der Herde Gottes: In abgeteilten Hürden sind sie nicht zufrieden. Sie wollen in einer Herde unter einem Hirten vereinigt sein. Gerade unter den wahren Christen tritt der Zug nach Einheit am stärksten hervor.

Als wir uns über die 14 großen Schäferhunde wunderten und fragten: „Was sollen denn die Hunde bei den Schafen?“, erklärte uns der Bruder, dass es auch nachlässige und gleichgültige Schafe bei der Herde gibt. Manchmal, wenn die Gegend zu unübersichtlich ist, könnte sich die Herde zu weit zerstreuen. Dieses wäre besonders an den Rohrsümpfen, die in den Steppen anzutreffen sind, sehr gefährlich. In diesem, etwa 2 Meter hohem Rohr, halten sich Wölfe, wilde Säue und andere Raubtiere auf. Strategisch, wie sie in ihrem „Räuberberuf“ sind, schneiden sie gern einige solcher nachlässigen Schafe von der Herde ab. Sie treiben sie dann ins Rohr, wo sie dann verloren sind. Darum laufen die Hunde immer um die Herde herum und halten sie dadurch zusammen.

Das gab für mich wieder wertvolle geistliche Bilder. Wie die Hunde, die eigentlich nicht zur Herde gehören, so gibt es auch in Bezug auf das Volk Gottes fast überall außenstehende Leute, die mehr auf den Wandel der Gläubigen acht haben. Diese wissen auch meist genau, wie ein von Gott geborener Mensch leben soll.

Lässt sich nun eins der Schafe etwas gehen, so fangen die Hunde sofort zu bellen an – bei den Christen beginnen die Außenstehenden zu kritisieren. Und gerade das hilft den Kindern Gottes oft am allerschnellsten, sich wieder eng an die Herde und an die Grundsätze des christlichen Lebens anzuschließen.

Als wir noch in Kostopol wohnten, erhielten wir eines Tagen ein Telegramm. Wir sollten nach T. kommen, und ich sollte Bruder M. beerdigen. Nach der Beerdigung besuchten meine Frau und ich einen Ort, zu dem wir schon mehrere Male eingeladen waren. An diesem Platz hatten sich eine Anzahl Leute aus den verschiedenen Gemeinschaften zusammengefunden. Und diese sollten nun zusammen eine Gemeinde Gottes bilden. Aber es wollte unter ihnen nicht harmonieren. Es hatte den Anschein, als ob jeder der Führer sein wollte. Jeder sah sich in seinen Augen groß und den anderen klein. Das brachte begreiflicherweise unter den Gottesdienstbesuchern ein großes gegenseitiges Misstrauen. Tagsüber machten wir Hausbesuche und am Abend hielten wir Versammlung. Ich sagte zu meiner Frau: „Wenn wir je Vorsicht gebraucht haben, so ist es hier nötig. Besonders wollen wir uns hüten, über und bei Beschwerden zu urteilen“. Jeder schob nämlich die Schuld auf den anderen. Und jeder erwartete von uns, dass wir ihm recht geben sollten. Wir zeigten uns deshalb im Urteil vorerst zurückhaltend und sagten jeweils, dass wir erst mit dem anderen sprechen möchten. Wir blieben etwa 8 Tage an diesem Platz. Und bis dahin schien sich nichts verändert zu haben. Aber am letzten Abend, mindestens sollte es der letzte sein, zeigte sich etwas Merkwürdiges. Der Predigttext lautete: „Einer achte den anderen höher als sich selbst!“ Als wir uns nach Schluss der Predigt zum Gebet niederknieten, brachen einige im Gebet zusammen. Sie suchten die Schuld bei sich und bekannten es auch im Gebet, dass sie an diesem gespannten Verhältnis in der Gemeinde schuld seien. Mehrere taten Buße, ernstliche Buße. Noch auf den Plätzen ging auf den Knien einer zum anderen. Andere standen auf und gingen zu ihrem Nächsten hin und baten um Vergebung. So gab es ein großes Versöhnen, während wir noch auf den Knien waren.

Das Beten mochte die Versammlung über volle zwei Stunden ausgedehnt haben. Wieder aufgestanden, fragten wir die Versammelten, wer wohl die Schuld habe und wem wir nun recht geben sollten. Soviel ich weiß, waren es mehr als zwanzig Geschwister, die vorher die Schuld auf den anderen legen wollten. Sie alle nahmen jetzt die Schuld auf sich. Vorher wurden wir immer gedrängt, eine Gemeindestunde mit ihnen zu halten. Aber wir hatten bis dahin nicht dazu eingewilligt. Nun aber fragte ich sie, ob sie eine Gemeindestunde haben wollten. Wie im Chor antworteten sie: „Nein, wir möchten noch eine Versammlung, ehe ihr abreist!“ Dieses verwirklichten wir am nächsten Tag in Form einer Zeugnisversammlung, wobei fast ein jeder in einem Zeugnis seine große Freude bekundete. Bei vielen kam es auch zum Ausdruck, dass sie gar nicht gewusst hätten, wie weit sie im Irrtum verstrickt waren.

Es steht fest: Eine Gemeinde Gottes kann sich nicht durch äußeres Zusammengehen bilden, sie muss von Herzen zusammen geschmolzen sein. Wie viele Gemeinden gehen zugrunde, wie viel Dunkelheit wird unter die Menschen gebracht! Und wodurch? Weil die Leute die Schuld nicht bei sich selbst, sondern immer bei den anderen suchen! Dadurch kommt es oft auch zu großen Trennungen und Spaltungen. In dieser Zeit fühlte ich mich veranlasst, folgende schlichte Zeilen niederzuschreiben.

 

Die ganze Welt ist wie ein Acker –

Ich nur ein ganz klein Sämelein.

Dieser Gedanke hielt mich wacker

Schon in der frühesten Jugend mein.

 

Verlorne schienen mir als Brunnen,

Ich aber ein klein Tröpflein nur,

Es fällt hinein und teilt sich drinnen,

Vom eignen Ich bleibt keine Spur!

 

Hin übers Meer, nach fernen Welten

Möcht ich zu den Verlornen ziehn.

Als Opfer nur, sonst nichts zu gelten –

Dies ist mein Trieb, dies ist mein Sinn!

 

Dort möchte ich für Jesus werben,

Für seine heilge, reine Herd’.

Dafür zu wirken, leiden, sterben

Ist eines ganzen Lebens wert!

 

Während meiner Deutschlandreise zeigte mir ein Bruder in der Neumark den Betrieb einer großen Ziegelei mit dem mächtigen, kreisförmig gebauten Brennofen. Der Feuerraum führt ringsum um den Ofen. Ehe das Einheizen des Ofens beginnt, wird er in eine Anzahl Abteile eingeteilt. Die Trennwände bestehen aber nur aus Papier. Sie dienen dazu, den großen Luftraum oder Luftzug vom Feuer abzuhalten, solange dieses erst im Entstehen begriffen ist. Das Feuer wird an einer Stelle angesteckt. Entfaltet sich die Hitze mehr und mehr, so brennt zunächst die erste Papierwand durch. Immer mehr Brennmaterial wird nachgefüllt. Schließlich brennt die zweite Wand durch, dann die dritte, die vierte. Bis schließlich der ganze Heizraum von der Hitze, dem Feuer durchflutet wird und die Brennung oberhalb der Feuerung vonstatten gehen kann.

Mir kam sofort das Feuer des Heiligen Geistes in den Sinn. In dem Feuerraum des Volkes Gottes verzehrt das immer mehr die Trennwände und schafft einen einheitlichen Raum. Die Papierwände sind nur imstande, die Luft anzuhalten und Luft von Luft zu trennen. Der Hitze aber, sofern sie stark genug ist, können sie nicht widerstehen. Nur die Hitze kann die Papierwände verzehren, die kühle Luft vermag so etwas nicht. Ich musste an die vielen Trennungswände der Gemeinschaftsorganisationen denken. Viele sind unter den Kindern Gottes aufgerichtet worden. Und überall, wo es kühl zugeht, wo das Feuer des Heiligen Geistes fehlt, bleiben sie bestehen. Werden aber die Herzen der Kinder Gottes von diesem Feuer erfasst, so fallen die menschlichen Schranken. Das Feuer durchbricht sie, das Feuer beachtet sie nicht mehr. Es strebt aufs Ganze, es will alles in der Liebe zusammenfassen. Und darin liegt seine Macht und Stärke, seine Brennkraft. Preis sei Gott für dieses Feuer!

In Leipzig hatte ich Gelegenheit, das berühmte Völkerschlachtdenkmal zu besichtigen. Der Führer erklärte uns die Bedeutung der gewaltigen Figuren im Innern, gab auch das Gewicht der einzelnen Figuren bekannt. Er sagte uns auch noch so manches Wissenswerte. Ehe wir uns hinaus auf die Außengänge begaben, sagte er: „Nun werde ich in diesem Kuppelbau noch etwas singen. Wie erstaunten wir aber, als wir plötzlich eine wundervolle Tonfülle, hervorgerufen durch die einzig dastehende Akustik, vernahmen. Es war erhebend, diesem zu lauschen. Jeder Ton aus dem Mund des Führers schien an der Wand der Kuppel weiterzugreifen und sich zu einem harmonischen Tongebilde auszugestalten. Der Führer verstand es, zur rechten Zeit den nächsten Ton hinterher zu schicken und somit eine Wirkung zu erzielen, die in großes Erstaunen versetzte. Wie wir erfuhren, ist diese Akustik beim Bau des Denkmals nicht beabsichtigt gewesen. Sie wurde erst nachher bemerkt und sodann von Leipziger Gesangchören zu öffentlichen Darbietungen ausgenutzt.

Hierbei musste ich an die wunderbaren harmonischen Töne denken, die die Stimme des Geistes Gottes in der Gemeinde verursacht, wenn ein echtes Gotteskind in der Aufrichtigkeit seines Herzens etwas sagt. Welch eine herrliche Harmonie gibt das! Außenstehende wissen nicht, welch unbeschreiblichen Genuss die Glieder der Gemeinde Gottes in diesem einheitlichen, himmlischen Gebäude haben, erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist. Auch ich wollte zunächst nicht in das Innere dieses gewaltigen Denkmals. Ich ließ mich schließlich dazu überreden, und bereute es nicht. Wie die Königin von Saba musste ich sagen: „Nicht die Hälfte hat man mir gesagt!“