Zum Seminar vorgeschlagen

Nach etwa einem Jahr Aufenthalt in Kongress-Polen und Westpreußen kehrte ich wieder in meine Heimat, Wolhynien, zurück. Dort versuchte ich mit allem Ernst zuerst auf die Gläubigen der Gemeinschaft, zu der ich mich zählte, einzuwirken, bevor ich an den unbekehrten Nachbarn arbeiten wollte. Ich wurde dort beauftragt, an jedem zweiten Sonntag eine Andacht zu halten.

Eines Sonntags, als ich wieder vor der Versammlung stand und aus dem ersten Buch Mose Abrahams Unterredung mit Gott vorlas, inspirierte mich der Geist Gottes spürbar. Es waren ca. 200 Mitglieder der Versammlung dort zusammen. Ich konnte nicht anders, und impulsiv sagte ich: „Und wenn hier fünf Gerechte drin wären, so würde dieses auch in der Versammlung kundwerden und in der ganzen Nachbarschaft!“ Dieses sagte ich nicht allein in der Versammlung, sondern in demselben Sinn und Geist redete ich auch hin und her bei Hausbesuchen und betete mit den einzelnen Seelen. Als ich aber wenig Erfolg sah, suchte ich die Schuld bei mir. Ich schrie oft zu Gott. Und es wurde mir auch immer klarer, dass ich an Vorsicht, Weisheit und Ernst zunehmen müsse.

Im Januar 1907 besuchte mich Prediger Müller, dem ich im Besonderen in der Verbreitung guter christlicher Schriften half. Er war gekommen, mich zu fragen, ob ich nicht sein Amt als Kolporteur der „Britischen Ausländischen Bibelgesellschaft“ übernehmen möchte. Ohne Zögern willigte ich ein. Über meinen schnellen Entschluss etwas verwundert, fragte er mich, welche Gründe mich bewegten, so schnell zuzusagen. „Nur um etwas für den Herrn zu tun“, – gab ich freudig zur Antwort. Als er das hörte und auch meine Freudigkeit sah, erwiderte er, dass es doch wohl das Richtige wäre, nach Lodz ins Predigerseminar zu gehen.

Davor war mir aber bange. Ich fürchtete damals, dass mir solch eine Schule mein geistliches Leben rauben könnte. Mehrere Stunden verbrachten wir miteinander im Gespräch. Er versuchte alles, um mich zu überzeugen, dass solch eine Ausbildung doch sehr gut und nützlich für mich wäre. Er war sogar der Überzeugung, dass aus mir kein richtiger Prediger werden könnte, wenn ich nicht in dieses Seminar ginge. Ich wollte von ganzem Herzen gern für den Herrn arbeiten. So befolgte ich schließlich seinen Rat und meldete mich an. Nicht lange danach kam unser ältester Prediger von Maseufka in unsere Gemeinde. Er stellte verschiedene Fragen nach meiner Vergangenheit, meinem Wandel und anderem. Ja, auch, ob Gott mich zum Predigeramt berufen habe. Letzteres zu bestätigen wagten nur zwei oder drei Personen. Den anderen war diese Frage zu schwer. Schließlich fragte er noch, ob irgend jemand etwas gegen meine Aufnahme ins Predigerseminar einzuwenden hätte. Nur eine Frau meldete sich. Sie gab an, ich hätte die Predigt zu kurz gemacht, als ich ihr Kind beerdigt habe.

Der Prediger war mit der Auskunft zufrieden. Er forderte mich nun auf, an einem bestimmten Sonntag in dem Hauptgemeindeort eine Probepredigt zu halten. Bis zu diesem Ort hatte ich 70 km zu Fuß zu wandern. Auf den einsamen Sand- und Waldwegen fand ich dabei reichlich Zeit und Gelegenheit, über vieles nachzudenken. Schon vorher war bekanntgegeben worden, dass ein junger Predigtamtsbewerber, der ins Seminar aufgenommen werden wolle, an dem bestimmten Sonntag seine Probepredigt hält. Die Gemeinde sollte danach urteilen, ob ich empfohlen werden könne oder nicht. Ernstlich betete ich auf dem Wege zu Gott, dass er mir doch helfen möchte, den Leuten nicht nur etwas für die Ohren, sondern in erster Linie etwas für das Herz zu geben! Hungrig und durstig kam ich am Bestimmungsort an. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass mehr Leute aus Neugier als aus Hunger nach der Wahrheit gekommen seien. Mein Text lautete: „Da rang ein Mann mit ihm“, aus dem Erlebnis Jakobs am Pniel. Das Schriftwort war mir selbst sehr wichtig geworden. Und wie ich nachher vernahm, an jenem Nachmittag auch den Hörern.

Als ich nach Schluss der Versammlung den Prediger, der die Kapelle zuschloss, fragte, ob das, was ich gesagt hatte, auch recht gewesen sei, antwortete er mir: „Oh, ich habe es nicht so erwartet! Ich hätte nicht 8 Jahre in Amerika für mein eigenes Geld studieren brauchen, wenn ich so zu Anfang hätte predigen können!“

Das ermutigte mich, und ich glaubte, die Probe bestanden zu haben. Aber die zweite Probe sollte gleich in einer anderen Form an mich herantreten. Zum ersten Mal an diesem Platz, war mir, außer dem Prediger, niemand bekannt. Und dieser war wohl der Meinung, dass ich mein Quartier hätte. Es war schon spät am Abend. Alle waren nach Hause gegangen, nur ich stand noch allein an der Kapelle. Niemand hatte mich mitgenommen, ein Gasthaus gab es nicht. Die Wohnhäuser waren weit zerstreut, ein jedes auf seinem Land, wie es in der deutschen Kolonie so üblich war. Ich „rang“ mit Gott, er möge mir helfen auch dieses zu bestehen. An diesem Abend den Siebzig-Kilometer-Marsch noch anzutreten, wäre mir nicht möglich gewesen. Um draußen schlafen zu können, dazu war es schon zu kalt. So wanderte ich, mich der Führung des Herrn anbefehlend, einen kleinen Sandweg entlang. Dieser endete auf einem größeren Weg, auf dem ich noch weiterging, bis ich ein Licht sah. Ich klopfte an und fand Herberge bei einem Juden.

Wie dankte ich Gott auf meinem Lager, dass ich nicht draußen herumirren brauchte, sondern den müden Körper ausstrecken konnte! Gleichzeitig machte ich dem Herrn ein Gelübde: In meinem ganzen Leben wolle ich Sorge tragen, dass es möglichst keinem so ergehe, wie ich es erlebt hatte. Für meine spätere Arbeit ist mir diese Begebenheit allezeit eine gute Lehre gewesen. Ich machte es mir zur Aufgabe, nach größeren Versammlungen immer als Letzter zurückzubleiben, um festzustellen, dass auch alle auswärtigen Gäste einen Übernachtungsplatz bekommen haben. Sehr oft fand ich dann noch Versammlungsbesucher, die ich mit in unser Heim nahm. Manchmal kamen am Abend auch noch Geschwister aus dem Ort zu uns, um nachzusehen, ob wir nicht zu viel Gäste hätten. Es war schon allgemein bekannt, dass man in solchen Fällen die Auswärtigen gewöhnlich bei uns fand.