Gottes Führungen in Kriegsnot

Am 10. Juli des Jahres 1915 mussten aufgrund eines Befehls alle Deutschen Wolhynien verlassen. So auch wir. Wir wohnten zu jener Zeit bei Geschwister Wilde in Kurgani. Schon am Abend des 6. Juli hörten wir Kanonendonner. Meine Frau und Kind fuhren zwei Tage vor mir ab, und zwar zunächst zu unseren Verwandten in die Nähe der Stadt Olewsk. Als ich Ihnen nachfuhr, war in Ssarne, meiner Umsteigestation, schon solch ein Gedränge von Flüchtlingen, dass viele Leute ihr Gepäck liegen lassen mussten. Familien wurden voneinander getrennt – kurz, es gab ein großes Durcheinander. Von drei Strecken kamen dort Züge zusammen.

Zu der Zeit drangen die Deutschen und Österreicher nach Russland ein. Frei war nur eine Strecke, und zwar die in Richtung Kiew. Auf dieser Strecke drangen die Flüchtlinge von Wolhynien und die aus Polen und Galizien heran, weil sie nur hier Wolhynien verlassen konnten. Weil meine Frau das kranke Kind mit sich hatte, konnte sie nur wenig Gepäck mit sich nehmen. Ich nahm, so viel ich tragen konnte, alles Übrige blieb zurück. Ich wurde innerlich so geführt, dass ich in Ssarne, in dem Menschengedränge, gleich beim Aussteigen das Gepäck in Schulterhöhe hielt. Denn wer sein Gepäck heruntergelassen hatte, bekam es kaum wieder hoch. In dem Gedränge wurde man dahin geschoben, wohin der Menschenstrom ging. Wenn unten auch Koffer, Betten und andere Gepäckstücke lagen, konnte man nicht stolpern und fallen. Durch die Menschenmenge war man von allen Seiten gestützt. Nur kräftige und rücksichtslose Menschen kamen als erste in den Zug. Mit der Hilfe des Herrn gelang es mir nach etlichen Stunden mit all meinem Gepäck den Zug zu besteigen. Ich bin dem lieben Gott noch dafür dankbar.

Bei meiner Familie und unseren Verwandten in der Nähe von Olewsk angekommen, erfuhr ich, dass die Leute dieser Gegend Wolhynien erst am 20. Juli verlassen brauchten. Jedoch geschah dieses unter dem ausdrücklichen Befehl: „Ein jeder mit seinem eigenen Fuhrwerk“. Das war für uns sehr, sehr hart. Unsere Verwandten, Bekannten, die Geschwister dort und die anderen Deutschen in dem Ort bereiteten sich vor, mit dem Fuhrwerk zu fahren. Und wir hatten bis zur befohlenen Abfahrt nur noch drei Tage Zeit. Unser Kind war sehr krank.

Außerdem wollten wir uns von den anderen doch auch nicht trennen. Es ging ja um eine fast unendlich lange und beschwerliche Reise nach Sibirien. So ging ich am Freitag dem 17. Juli zum Pferdemarkt und kaufte für 43 Rubel einen Gaul und einen Wagen. Auf den Wagen baute ich ein Dach, wie es die anderen auch taten. Zu allem hatte sich die Krankheit das Kindes verschlimmert, so dass wir mit seinem Sterben rechnen mussten. Am Sonntag dem 19. Juli hielten wir mit allen Gläubigen unseren letzten Gottesdienst in der Heimat. Wir wussten, der nächste Tag würde uns voneinander scheiden. Es war ja kaum Aussicht, dass wir auf den Straßen, unter den Scharen von Flüchtlingen zusammenbleiben konnten. Unter großen Schwierigkeiten und mit äußerster Mühe würde jeder nur die Seinen zusammenhalten können. So gingen wir alle einer dunklen, ungewissen Zukunft entgegen, nicht wissend, ob wir uns im Geschwisterkreis und unserer lieben Gemeinde in Wolhynien je wieder im Segen versammeln können. (Bemerkt sei, dass wir uns mit vielen gar nicht mehr und mit manchen nach über zwanzig Jahren erst wiedergesehen haben.) Oh, wie alle noch inbrünstig beteten, dass wir uns doch nicht ganz verlieren möchten!

Während des Gebetes durchzuckte mich wunderbarerweise ein freudiger Gedanke. Als wir von den Knien wieder aufstanden, sagte ich zu den Versammelten: „Geschwister, wir werden mit Gottes Hilfe mit der Bahn reisen können!“ Alle freuten sich in dem Augenblick. Aber lautete nicht der ausdrückliche Befehl: „Jeder mit seinem eigenen Fuhrwerk?“ Wie wollten wir dankbar sein, wenn wir die lange, qualvolle Reise nicht mit dem Fuhrwerk zu machen brauchten!

Sogleich mieteten sie mir einen Wagen. Und ohne lange zu zögern, fuhr ich zur Bahnstation, von der wir 12 Kilometer entfernt waren. Ich ging direkt zum Vorsteher und stellte ihm unsere schwierige Lage im allgemeinen und unsere Not wegen dem sterbenskrankem Kind vor. Obwohl er mir dreimal absagte, ging ich nicht von ihm weg. Einer inneren Gewissheit auf Erhörung der Bitte folgend, bat ich ihn immer wieder flehentlich, er wolle sich doch erbarmen und uns eine Möglichkeit schaffen, dass wir alle aus der Kolonie mit der Bahn fahren können. Schließlich ließ er sich erweichen und sagte zu. Hundert Rubel ließ ich ihm sogleich dort.

Als ich zu meinem Fuhrmann kam, den dieses auch anging, und ihm die freudige Nachricht brachte, ließ er die Ponys tüchtig traben. Trotz Finsternis und starkem Regen waren wir schnell wieder in unserer Kolonie. Wir ahnten schon, was es da für Freude gab, weil wir mit dieser Botschaft kamen! Es ging auf der Heimfahrt über Steine, Wurzeln, über Hügel und durch Täler, durch Wasser und Sand im Galopp. Wir waren in jeder Minute sprungfertig. Aber was die Freude doch für Kräfte und Ausdauer schenkt! Wir erlebten es auf dieser Fahrt in unbeschreiblicher Weise. Als wir nach Hause ankamen, waren die Beter noch versammelt und erwarteten das Resultat. Mit dankerfülltem Herzen und trotz all der Not, in der sie sich befanden, beugten sie sich vor Gottes Angesicht. Sie priesen ihn für das große Wunder, das er auch heute wieder an ihnen getan hat.

Nun brauchten wir erst montags 5 Uhr nachmittags einladen, während wir sonst schon in aller Frühe mit unseren Fuhrwerken hätten aufbrechen müssen. Am Montag dem 20. Juli sangen wir, trotz aller Schwierigkeiten, auf dem Wege zum Bahnhof ein Loblied nach dem anderen. Die Russen aus der Gegend standen in Scharen am Weg. Sie äußerten sich sehr erstaunt, dass wir trotz all der Not und Ungewissheit, in die wir hineingingen, so fröhlich singen konnten. Wir gingen, und sie standen am Weg und weinten. Wussten sie doch, dass wir im Moment ohne unser Hab und Gut in eine ungewisse Zukunft gingen.

Die Kunde, dass wir einen Eisenbahnwagen bekommen haben, hatte sich noch des Nachts verbreitet. Scharenweise kamen uns die Flüchtlinge aus anderen Ortschaften zum Bahnhof nach. Eine Anzahl waren schon vor uns dort angekommen. Sie befürchteten zurecht, dass sie samt ihren Familien unterwegs umkommen werden, wenn sie monatelang auf der Reise sind. Sie mussten auf den kleinen Russenwagen von Dorf zu Dorf gefahren werden. Alles musste immer wieder umgepackt werden, und meist wurden sie mit Ochsengespannen weiter befördert. Ich konnte ihre Not nicht ertragen und ihre Bitte nicht abschlagen. So ging ich noch einmal zum Bahnhofsvorsteher und bat ihn sehr herzlich um einen weiteren Wagen. Ich zeigte ihm auch das viele ungezählte Geld in meiner Hand, dass die Leute mir mit flehentlichem Bitten zugesteckt hatten. Ich sagte ihm: „Diese Leute bitten auch um einen Wagen. Es regnet, und bald wird es Nacht, und sie und ihre Familien liegen auf der Erde!“ Der Vorsteher seufzte und sagte: „Ich darf das nicht, ich handele dann gegen das Gesetz“. Ich entgegnete ihm, wenn er sich deren in ihrer großen Not erbarmt, wird der Herr es ihm vergelten und ihn vor Strafe behüten. Ich sagte ihm auch, dass wir seiner gedenken und ernst für ihn beten werden. Er schien dieses zu glauben und willigte schließlich ein. Er gab mir schließlich ein Duplikat für 49 Personen. Als ich nun herauskam und ihnen diese Nachricht überbrachte, war die Freude groß!

Aber da waren noch so viele, die mich bestürmten, noch um einen dritten Wagen zu bitten. Alles rief: „Bruder Malzon!“ (auch die, die bis dahin vielleicht meine Feinde gewesen waren). „Sorgen Sie doch bitte für uns und unsere Kinder, damit wir hier nicht umkommen!“ Und, meine Hände mit Geld gefüllt, ging ich zum dritten Mal zum Vorsteher hinein, blieb aber an der Tür stehen. Er lächelte verzweifelt. Aber ich sagte ihm: „Was soll ich machen?“ Ich schüttete ihm das Geld auf den Tisch. Schließlich willigte er unter der Bedingung ein, dass dies der letzte Wagen sei. Dann hörte ich die Bahnglocke zwei schlagen. In drei Minuten ging dann unser Zug ab. Es schrieen mir noch eine Anzahl nach, denen ich helfen sollte – aber zu spät, unser Zug fuhr schon.

Welch eine Freude löste dieses Vorrecht, mit der Bahn fahren zu können, bei den Geschwistern aus! Obwohl wir viel bezahlen mussten, waren wir doch von Herzen froh und dankbar. Nun sollten und durften wir, ohne uns mühsam auf den Straßen weiterschleppen zu müssen, unser Ziel viel schneller und ungefährlicher erreichen. Unseren Wagen hatten wir nur bis nach dem Tschernigower Kreis bezahlt, bis zur Station Peregowka.

Wir durften aber dort nicht aussteigen, weil in dieser Gegend noch der Kriegszustand herrschte. Um uns aber nicht von der Regierung nur langsam weiterbefördern zu lassen, mieteten wir unseren Eisenbahnwagen bis Ssisran an der Wolga. Nach einer Fahrt von ca. 1000 Kilometern waren wir aus dem Flüchtlingsgebiet heraus. Man sagte uns in Brjansk, dass wir absteigen dürften, wenn wir wollten. Des Fahrens müde, drängten auch einige dazu. Sie meinten: Warum noch weiterfahren? Aber ich wehrte ab und sagte: „Lasst uns nur noch drinnen bleiben, es wird so besser sein“. Vor etwa vier Monaten hatte ich nämlich einen Traum gehabt, der mir auf der Reise wieder lebhaft vor Augen stand. Ich hatte im Traum gesehen, dass man uns gerade in der Erntezeit eine weite Strecke trieb. Und zwar schließlich durch eine Gegend, in der es durch große Felsklüfte und Gebirge hindurch ging.

Da unser Duplikat nur bis Ssisran ausgefertigt war, versuchte man, uns hier auszuladen. Wir ließen uns aber unser Ziel nicht verrücken. Man fuhr uns dann doch, auf unseren dringenden Wunsch, bis Samara. Der Bahnhof lag östlich der Stadt, eine halbe Stunde von ihr entfernt. Samara war der wichtigste Handelsplatz der mittleren Wolga, und zwar hauptsächlich infolge seiner Lage im Zentrum des Getreidegebietes. Außer der großen Wasserstraße, der Wolga, hat die Stadt die Eisenbahnverbindung mit Zentralrussland einerseits, Sibirien andererseits. Während die Sibirische Eisenbahn gegen Nordost, über Ufa, Tscheljabinsk ging, zweigte von ihr in Kinil eine Strecke nach Südost ab, die nach Orenburg und nach Taschkent führte.

Die Geschwister konnten meinen Vorschlag ja nicht recht verstehen, willigten aber doch ein. Und wir fuhren weiter und immer weiter. Von der Station Ufa führte die Bahn aufwärts, hinein in die wunderbarsten Gebirgslandschaften. Wir fuhren weiter durch weite Laubwälder mit riesengroßen Eichen, Linden und anderen edlen Laubbäumen. Und siehe da: Wir kamen dann durch solche felsenzerklüftete, gebirgige Gegend, wie ich sie im Traum gesehen. Wir fuhren durch das Uralgebirge.

In Samara trafen wir Flüchtlinge aus Polen, Lettland, Kurland und aus anderen Gegenden. Hier wurden auch unsere Wagen an den Militärzug angehängt und mit den Flüchtlingen vereint. Durch Deutschlands Einmarsch in Russland wurden auch wir, schon sehr lange dort lebende Deutsche, die auch schon dort geboren waren, als innere Feinde betrachtet. Aus diesem Grunde und damit die deutschen Soldaten an uns keinen Halt hatten, wurden wir Deutsche alle nach Sibirien verbannt. Auf dem Bahnhof in Samara trafen wir viele Leute, die unter den vielen, vielen Menschen ihre Angehörigen suchten. Bei vielen war alles Suchen vergeblich. Wie manch einer ist nie wieder mit seinen Angehörigen zusammen gekommen.

Vor dem Uralgebirge, in der Stadt Ufa, hatte unser Zug sehr lange Aufenthalt. Die Frauen nutzten das gute Wasser der Bjela, nahe am Bahnhof bei dem guten Wetter zu einem großen Waschtag. Auf dem Bahnhof, sah ich im Wartesaal 2. Klasse zwei hübsche Kinder. Ein Junge, etwa 5 und ein Mädchen etwa 7 Jahre alt. Nach ihrer Kleidung zu urteilen, waren es Kinder wohlhabender Leute. Sie hielten sich eng umschlungen und sprachen kein Wort. Man versuchte, sie in verschiedenen Sprachen nach ihrem Namen und Herkommen zu fragen. Aber ängstlich schmiegte sich eins ans andere. Sie antworteten auf keine Frage, ließen sich auch nicht voneinander trennen. Nur hie und da schrie eines: „Mama!“

Noch in Ufa gewahrten wir, dass man an unseren Wagen mit Kreide „Treutzk“ als Bestimmungsort angeschrieben hatte. Es stand nun fest, dass man unseren Wagen auf der Station Poletjaew, im Uralgebirge, abhängen würde. Schon von früher war mir bekannt, dass die Treutzker Gegend, sowie auch das Kustanai-Gebiet, zu den ärmsten Gegenden Sibiriens zählte. Außerdem war es ein Sumpfgebiet mit einem sehr ungesunden Klima. Das machte uns große Sorge. Aber bald darauf hatte doch jemand von uns den Mut „Treutzk“ auf dem Wagen auszulöschen und „Omsk“ heraufzuschreiben. Gott sei Lob und Dank, dass dieses gelang! Auf der sibirischen Grenze, in Tscheljabinsk, mussten wir aus dem Wagen, in den wir in Wolhynien eingestiegen waren. Das Umsteigen in einen anderen Wagen wurde erforderlich, weil die Achse brannte.

In Omsk, etwa 800 Kilometer tief in Sibirien, stiegen wir dann wieder aus. Dort wurde uns ein sehr freundlicher Empfang bereitet. Waren wir doch die ersten Flüchtlinge, die bis in diese Gegend gekommen waren. So wurden wir z. B. im Wartesaal 1. Klasse frei gespeist. Auch schon unterwegs hatten wir auf einigen Bahnhöfen zu essen bekommen. Nach dem Essen ging ich dann fort in die Stadt. Schon am ersten Einkehrhof traf ich einen deutschen Mann aus der Kolonie, in die wir wollten. Er hatte 3 Fuhren Weizen in die Stadt gebracht. Nun freute er sich, dass er so viele Gäste mit in seine Kolonie nehmen konnte. Zwanzig Stunden danach befanden wir uns bereits in der deutschen Kolonie Trubetzkoi. Diese Kolonie war nach dem Oberst Fürst Demitrius Trubetzkoi genannt worden, und ungefähr 60 Kilometer vom Bahnhof Omsk entfernt.

Unsere Fahrt war so gut und schnell gegangen. Wir konnten es kaum glauben und fassen. Innerhalb 22 Tagen hatten wir von unserer Heimat etwa 4.000 km zurückgelegt. Wir waren bei warmem, guten Wetter, gerade in der Dreschzeit in Sibirien angekommen. So konnten wir uns Brot, eine Wohnung und alles Nötige für den Winter noch besorgen. Während wir uns dort schon einrichten konnten, mussten sich Scharen deutscher Flüchtlinge vielleicht noch lange mühsam mit ihren Fuhrwerken auf den Straßen Wolhyniens weiterschleppen. Manche zögerten auch mutwillig, um von der Front eingeschlossen zu werden. Sie hofften, dadurch auf ihren Gütern bleiben zu können. Aber sie mussten auch nachkommen, zum Teil noch im Winter unter Schneestürmen. Dieses forderte noch große Opfer an Menschen, Vieh und vielem anderen.

Unser Kind war fast nur noch Haut und Knochen. Es jammerte jeden, und alle die es sahen, schüttelten den Kopf und meinten, dass es nicht mehr aufkommen würde. Wir hatten aber mehr und mehr den Eindruck, dass der Herr uns durch die Krankheit und das Leiden unseres Kindes etwas sagen wollte. Wir gingen ernstlich ins Gebet, prüften uns gründlich, – und, eines Nachts kurz darauf, als wir in Trubetzkoi angekommen waren, wurde das Kind gesund! Wir haben dieses Wunder nie vergessen. Gott sei alle Ehre dafür!

Die Umgebung von Omsk galt allgemein als Russlands Brotkammer. Omsk war die Hauptstadt Sibiriens, lag im westlichen Teil und am Om, welcher hier in den Irtysch mündete. Omsk hatte damals schon einen Flughafen und war eine der Hauptkolonien der Sibirischen Eisenbahnen. Die seinerzeit etwa 150.000 Einwohner trieben Industrie, Handel und Landwirtschaft.

Wie froh und dankbar waren wir alle, dass wir an jenem Entscheidungspunkt noch nicht ausgestiegen sind! Ich pries besonders den Herrn, der mir durch jenen Traum eine so gute Wegweisung gegeben hatte. Ein bis zwei Jahre später kamen noch immer Flüchtlinge, die sich erst weiter im Westen niedergelassen hatten, in diese Brotkammer nach. Sie waren glücklich, dass sie in dieser Gegend ihr Leben besser gestalten und erhalten konnten.

Jener Traum wurde mir eigentlich in manchen Dingen eine Leitung und Weisung. Mehr als sonst fühlte ich mich auf die gewonnenen Eindrücke verlassen zu müssen. So sagte ich den Geschwistern der Gemeinde schon damals, es könnte möglich sein, dass wir gerade in der Erntezeit fortmüssten. Uns allen war es recht eigenartig zumute. Hin und her sprachen wir über die ungewisse Zukunft. Es hatte auch niemand Freudigkeit, noch irgend etwas Besonderes zu tun, z. B. Verbesserungen in der Landwirtschaft oder dergleichen.

In der Arbeit für den Herrn habe ich nie Zeit und Gelegenheit gesucht, auch für Notzeiten etwas zu ersparen. Ich wollte ganz nach dem Wort des Apostels handeln: „Kein Kriegsmann flieht sich in Händel der Nahrung, auf dass er gefalle dem, der ihn angenommen hat“ (2.Tim. 2:4). Zu Anfang des Jahren 1915 gab mir aber der Herr doch in den Sinn, ein kleines Geschäft mit Kleiderstoffen anzufangen. Die Gemeindeglieder waren mir finanziell dabei behilflich. Mit dem Einkauf rechnete ich nur bis auf den Sommer. Und so gelang es mir durch diese Vorkehrung, das Geld für unsere große Reise zu verdienen. Außerdem konnten wir uns von dem Verdienst auch die unbedingt notwendige Kleidung anschaffen.

Von dem Rest des Geldes konnten wir uns noch in Sibirien das Allernötigste für den Winter kaufen, vor allem Lebensmittel und Heizmaterial. Da wir so früh eintrafen, bekamen wir all diese so nötigen Sachen noch recht preiswert. Später ankommende Flüchtlinge mussten mitunter das Doppelte zahlen. Nach allen nötigsten Anschaffungen blieben uns noch 5 Rubel. So sorgte der Herr für uns.

Als Erstes kauften wir uns gleich 25 Pud (8 Zentner) Weizen, damals noch zu 60 Kopeken per Pud. Eine Kuh, nach dem alten Preis für 30 Rubel, kam auch in den Stall. Dann erhandelten wir noch ein mittleres Schwein für 8 Rubel. Wir ließen uns auch Bretter aus der Stadt Omsk mitbringen. Die Bettgestelle, Tische und Stühle machte ich selbst. Auch besorgten wir uns in den ersten Oktobertagen Brennholz für den langen Winter. Dann brachten wir auch den ganzen Hof unter Dach, wie es dort üblich und unbedingt notwendig ist. Unter diesem Dach hatten wir das Holz, den Brunnen und andere unentbehrliche Gegenstände. Das war sehr geraten, da vom Oktober bis März oft meterhoher Schnee liegt.

An eines konnten wir uns sehr schlecht gewöhnen: Es gab dort so wenig Kartoffeln. Sie wurden dort überhaupt wenig angebaut. Erstens eignet sich das Land nicht gut dafür, und zweitens nimmt die Kartoffel zur Bearbeitung sehr viel Zeit in Anspruch. Aber das größte Hindernis ist der Frost. Die Kartoffeln konnten dort erst spät gepflanzt werden und mussten spätestens Mitte September wieder geerntet sein. Während der 5 Sommermonate sind die Leute fast Tag und Nacht auf den Feldern. Das Letzte ist kaum in die Erde gesät, da werden schon Vorbereitungen zur Ernte getroffen. Dort wurde auf den Feldern gedroschen. Die Körner schaffte man dann in den Ambar (Speicher).

Wir waren selbst erstaunt, dass wir uns auch dort sehr bald in alles hineinfinden konnten.

Bei einer dort heimischen Balmeserfamilie half ich mehrere Tage beim Dreschen auf dem Feld. Sie hatten den Tee in einem Fleischtopf gekocht. Alle genossen den Tee mit Löffeln aus dem Topf. Mehrere Flüchtlinge kamen wegen dieser und ähnlichen Gewohnheiten nicht mehr zur Arbeit dorthin. Ich konnte mich aber auch hierin schicken. Aber eins bat ich mir beim Hausvater aus, dass wir vor dem Essen beten möchten. Sie gingen auf meinen Wunsch ein, und es schien ihnen zu gefallen. Wir wurden bald gute Freunde und blieben es auch, bis wir Sibirien verließen.

 

Manchen Flüchtlingen war es in Wolhynien noch möglich gewesen, von ihren Wirtschaftssachen oder Vorräten einiges zu verkaufen. So brachten manche noch tausende Rubel mit nach Sibirien. Aber uns, die wir für den Herrn gearbeitet hatten, war es natürlich nicht möglich gewesen, Ersparnisse anzulegen.

Zu dieser Zeit entstand ein Flüchtlingskomitee, das den armen Flüchtlingen Unterstützung verabreichte. Viele verheimlichten nun, dass sie Geld hatten. Sie versteckten auch zum Teil ihre besseren Kleider, um als arm angesehen zu werden. Wir aber taten das Gegenteil. Ich hatte einen guten Pelzmantel mitgenommen. Diesen trug ich auch, und wohl deshalb wurden wir zu den Wohlhabenden gerechnet. Dadurch war man auch der Meinung, dass wir Geld hätten. Wir aber klagten nicht und schwiegen darüber. Es war uns einfach zuwider, um des Geldes willen eine Schau abzuziehen.

Obwohl wir durch unser Verhalten keine Unterstützung bekamen, aber unser Vertrauen um so mehr auf den Herrn setzten, sollte uns der Umstand, dass wir zu den „Wohlhabenden“ gerechnet wurden, doch zum Guten dienen. Ich genoss um so mehr Vertrauen und hatte einen größeren Einfluss. Als ich dann zum Kauf einer kleinen Landwirtschaft, wozu ich gewissermaßen genötigt war, Geld brauchte, bekam ich ohne Schwierigkeiten soviel geliehen, wie ich wollte. Dies war für mich wertvoller, als wenn ich Unterstützung bekommen hätte.

Im Frühjahr 1916 kam die Besitzerin eines größeren Waldes zu mir. Sie wollte ein Stück ihres Waldes fällen lassen und fragte mich, ob ich einen Aufseherposten über ihre Arbeiter und die Lohnauszahlung an sie übernehmen würde. Dieses Angebot schien mir günstig, und ich nahm es an. Nun trug es sich zu, dass die Arbeiter mehr Lohn haben wollten. Sie wollten den gleichen Lohn wie Waldarbeiter von anderen haben. Die Frau hatte meinen Lohn von dem Lohn der Arbeiter genommen. Das betrübte und beunruhigte mich sehr. Ich sah die schwere Arbeit der Waldarbeiter, während meine Tätigkeit eine leichtere war. So entschloss ich mich, meinen Lohn an die Arbeiter auszuteilen. Bald darauf ging ich aber zu der Frau und kündigte meinen Posten als Aufseher. Ich wollte nicht, dass den Leuten meinetwegen etwas vorenthalten wurde.

Bei der Gelegenheit fragte ich die Frau, ob sie mir nicht ein Stück Wald für 25 Rubel verkaufen könne. Für diesen Betrag jedoch hatte sie kein Stück Wald zu verkaufen, sondern nur für 125 Rubel. Darüber erschrak ich im Moment und fragte mich, wie ich zu solch einem Betrag kommen sollte. Mit den Abmachungen noch nicht ganz einig, ging ich zuerst zum Mittagessen. Unterwegs traf ich einen Mann, einen Mennoniten. Zu meinem Erstaunen sagte er, dass er gehört habe, ich hätte Holz zu verkaufen. „Von wem haben Sie das gehört?“ – fragte ich. „Ich weiß es nicht,“ gab er zur Antwort. „Oh, dachte ich, der hat es sicher vom lieben Gott gehört“. Ohne ihm zu sagen, dass ich keines zu verkaufen habe, fragte ich ihn: „Wie viel brauchen Sie?“ – „Dreißig Faden“, gab er zur Antwort.

„Dreißig Faden“, dachte ich, „das wäre ein gutes Geschäft!“ Der Faden kostete 4,5 Rubel. Durch meine Tätigkeit als Aufseher inzwischen in den Holzhandel eingeweiht, sagte ich ihm: „Sie können das Holz haben“. Er brauchte das Holz nicht gleich, gab mir aber sofort Handgeld und schickte bald darauf noch mehr Geld. Ohne Zögern kaufte ich den Wald, bekam auch Kredit. Noch ehe ich die 125 Rubel abgezahlt hatte, kaufte ich noch mehr Wald. Ich kaufte schnell all den Wald, der dort überhaupt zu haben war.

Mittlerweile wachten darüber auch noch andere Leute auf, aber der käufliche Wald war nun schon mein Eigentum. Meinen Arbeitern bezahlte ich den vollen Lohn. Ich stellte auch einen Knaben an. Dieser stellte sich auf die Straße, die nach Omsk führt. Er hatte die Aufgabe den Fuhrleuten, die aus den Steppen kamen und Holz kaufen wollten, Bescheid zu sagen, dass da drüben im Wald billiger Holzverkauf sei. Für jede Fuhre, die er mir zubrachte, hatte ich ihm einen kleinen Lohn versprochen. Mit Freuden waltete der Knabe seines Amts. Er führte mir binnen kurzem hunderte von Fuhren zu. Der Verkauf florierte und ging tadellos bis in den Sommer hinein.

Unsere Gegend war eine Halbsteppe. Nur in den Tälern wuchs etwas Wald, am meisten Birken. Das andere war alles Wiese und Steppenland. Etwa 90 Kilometer südwärts begann schon die große, weite Steppe. Diese zog sich bis über Akmolinsk hinaus. Sie war mehr denn 500 Kilometer Sandwüste. Es wuchsen dort keine Obstbäume und auch kein Wald. Die Bauern, die in dieser Gegend wohnten, fuhren zwischen der Saat- und der Erntezeit auf die Suche nach Holz. Weil der Urwald Urmann etwa 300 Kilometer nördlich von Omsk beginnt, mussten die Bauern oft hunderte von Kilometern fahren, bis sie eine Fuhre passendes Holz kaufen konnten. Nun waren diese Steppenbauern sehr froh, dass sie in der Nähe passendes und dazu noch billiges Holz gefunden hatten und es kaufen konnten. Aus diesen Gründen war es auch leicht, die Kaufleute in Massen herbei zu bekommen.

Noch ehe ich mit dem Waldkauf anfing, hörte ich oft die unzufriedenen Äußerungen der Bauern, dass sie so weit von der Trakte (Landstraße) wohnen. Sie wollten auch gern von ihrem Holz an diese Steppenbauern verkaufen. In mir erwachte das Verlangen, auch diesen fleißigen Bauern eine Hilfe zu sein. Und nun wurde auch hierdurch, dass viele Holzkäufer herankamen, den Leuten ihr übriges Holz abgekauft. Das war jenen Bauern eine große Hilfe. Den Steppenbauern, die nicht früher ruhten, als bis sie wieder mit dem Holz zu Hause waren, war sehr damit gedient, dass ich sie zu jeder Zeit, auch nachts oder morgens früh abfertigte. Kauften sie aber bei anderen, konnten sie erst am Tage laden. Sie mussten sich beeilen, noch vor Abend mit der Fuhre Holz vor das Dorfbüro zu kommen. Dort zählte der Schreiber die Stämme, bescheinigte die Anzahl und versah alles mit einem Siegel. Das diente ihnen noch auf dem Wege und daheim als Ausweis.

Wir waren dann bald mit unserem Waldkaufen- und verkaufen zu Ende. Es ging alles in Frieden und Eintracht zu. Ohne Zweifel waltete in diesem allen die führende Hand des Herrn. Wir hatten ja auch Gott inständig gebeten, uns doch weiter seinen Weg für uns zu zeigen. Denn im Frühjahr wären unsere Lebensmittelvorräte zu Ende gewesen. Die vorhandenen 25 Rubel hätten nicht mehr weit gereicht, da alles teuer geworden war. So führte es der Herr, dass ich durch diesen Holzhandel 500 Rubel verdienen konnte. Mit diesem Geld konnten wir größere Anschaffungen an Vieh und landwirtschaftlichen Bedarfsartikeln vornehmen.

Innerhalb einiger Jahre hatten wir eine gute Landwirtschaft. Gottes Segen ruhte darauf, so dass sie sich merklich vergrößerte. Die Nachbarn verwunderten sich sehr. Sie waren schon 20 bis 30 Jahre dort, hatten aber das nicht geschafft, was uns in zwei oder drei Jahren wurde. Wir gaben Gott dafür die Ehre! Oft dachten wir an das Wort das Psalmisten: „Sie werden nicht zuschanden in der bösen Zeit, und in der Teuerung werden sie genug haben“ (Ps. 39:19).

Ich hatte ja schon erwähnt, dass wir einer besonderen Sache wegen als wohlhabend angesehen wurden. Das kam uns zur Erlangung von Krediten immer gut zustatten. Hierzu hatte eigentlich Bruder Otto H. Doebert vor Jahren den Anlass gegeben. Als ich nämlich von jener in Essen stattgefundenen verlängerten Versammlung in 1910-1911 wieder nach Russland zurückfahren wollte, forderte er mich während unseres letzten Beisammenseins auf, in einen feinen, wertvollen Pelzmantel hineinzuschlüpfen. Er wolle etwas nachsehen, sagte er. Als ich ihn wieder ausziehen wollte, rief er: „Halt, halt, behalte ihn an, nimm ihn mit nach Russland!“ Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Ich hatte doch an so etwas nicht gedacht und fragte bestürzt: „Ja, hast du denn noch einen?“ „Nun“, sagte er, „ich habe gerade keinen mehr, aber nimm ihn nur mit, du wirst ihn gut gebrauchen können“. Ich kann nicht beschreiben, wie mich dieses überwältigte! Er gab mir den besten Mantel, den er hatte. Es wollten mir schier die Tränen die Augen überschwemmen, und mir fiel es schwer, dieses wertvolle Geschenk anzunehmen. Ich tat es aber, als ich sah, mit welcher Freude er ihn mir gab.

Ich muss bekennen, dass auf dieser Tat ein großer Segen ruhte. Nicht allein, dass ich einen materiellen Nutzen hatte, sondern es war mir auch geistlich ein Vorbild. In der Tat hat mir dieser Pelzmantel in 17 Jahren große Dienste geleistet. Diese Handlung war mir aber für mein späteres Leben eine sehr große Lehre. Oft entschloss ich mich, es auch so zu tun. Mein Bestes will ich geben – nicht das Geringere! Ich wüsste nicht, dass ich anderweitig eine bessere Lektion zu lernen hatte, als durch diesen brüderlichen Dienst. Wie eigenartig sind doch die Führungen des Herrn, auch in den natürlichen Dingen! An Mitteln fehlt’s ihm nicht! Gott war es gewesen, der es Bruder Doebert auf das Herz gelegt hat, so zu handeln. 1931 hat meine Frau diesen Mantel dem Bruder Albrecht, einem treuen Mitarbeiter, geschenkt. Nicht lange danach musste Bruder Albrecht in die Verbannung, wo er sicher den warmen Mantel auch gut gebrauchen konnte.

 

Der Oktober wird in Westsibirien schon zum Wintermonat gerechnet. Gewöhnlich fahren die Leute am 5. Oktober schon alle mit dem Schlitten. Bald sind dann auch die Felder und Wälder ringsum mit tiefem Schnee bedeckt. Auf weiten Flächen treiben die Stürme den Schnee. Wo sie nur einen Anhaltspunkt finden, türmen sie den Schnee zu haushohen Bergen zusammen. Der Schnee wird schnell fest, so dass man Mitte und Ende des Winters oben über Gebäude und Bäume gehen und fahren kann. Der Wind übt seine Kraft richtig aus, er treibt den Schnee ganz fest aneinander.

Gefährlich ist der „Buran“, der Schneesturm, der mit rasender Geschwindigkeit zur Winterszeit über die Steppe fegt. Er bringt es fertig, die Menschen, die ihm schutzlos preisgegeben sind, unbarmherzig unter seinen Schneemassen zu begraben. In dieser Zeit, wenn der „Buran“ heulend über Steppen und Felder treibt, ist es ratsam, daheim zu bleiben. Der Sturm dauert meist nicht lange, und er wiederholt sich nicht oft. Aber nach ihm tritt dann strenge Kälte ein. Von dem Atem der Menschen und Tiere bilden sich in den Haaren, in Bart und Kleidungsstücken kristallartige, lange Eiszapfen.

Die Flüsse Sibiriens, selbst auch die reißendsten, frieren mit dem Eintritt des Winters zu und dienen dem Sibirier als Verkehrsadern. Ganze Schlittenkolonnen, sämtlich schwer beladen, ziehen zur Winterszeit den Fluss auf und ab. Überhaupt hat der Sibirier im Winter mehr und längere Fahrten zu unternehmen als im Sommer. Der Winter ist im südlichen Sibirien sehr kalt. Es fällt auch dort viel Schnee. Der Frost ist gleichmäßig und das Klima deshalb gesund. In Sibirien ist der Frost gewöhnlich 30-40 Grad stark. Aber diese Kälte ist trocken, und deshalb erkältet man sich nicht so leicht. Vom 1.November bis Ende März ist der Sibirier an keinen Regen gewöhnt. Es ist immer gleich bleibender Frost. Darum kann man sich auch in den Filzstiefeln (Pimj oder Katinki) ruhig auf die Reise begeben. Wenn es sehr kalt ist, zieht man sich auf seinen Pelz noch einen zweiten (Tullup).

 

Sehr bedauert habe ich, dass wir in Sibirien so wenig Mission treiben konnten. Eine Ursache war wohl, dass man sich wegen des Krieges mit Deutschland mit der deutschen Sprache mehr zurückhalten musste. Zum anderen stand mir jeden Tag bevor, dass ich zum Militär einberufen würde. Diese beiden Dinge bedrückten uns sehr, so dass wir nichts besonderes unternahmen. Wunderbar aber verschonte mich der Herr vom Militärdienst – schon damals in meiner Jugend und hier während des Krieges ebenfalls. Ich hatte dem Herrn gelobt, ihm mein ganzes Leben zu weihen, und er führte es so, dass ich nicht einen Tag beim Militär dienen brauchte. Viele Männer meines Alters sind an der Front geblieben. Gott hatte es für mich anders beschlossen.

Obwohl eine geistliche Anwendung darin nicht enthalten zu sein scheint, möchte es dem einen und dem anderen doch interessant sein zu erfahren, welche Wege der Herr benützt hat, um mich von dem Heeresdienst zu verschonen. Die Flüchtlinge genossen im allgemeinen eine gewisse Bevorzugung in Bezug auf die Befreiung vom Heeresdienst. Nach und nach drängte die Regierung aber doch auf deren Einberufung. Schon längere Zeit, ehe man daran dachte, uns Flüchtlinge auch zum Kriegsdienst einzuziehen, half ich dem Gemeindevorstand und seinem Schreiber in allerlei schriftlichen Arbeiten. Dadurch stand ich bei ihnen in gutem Ansehen. Als dann die Zeit heranrückte, dass auch die Altersklasse, zu der ich gehörte, einberufen werden sollte, bewirkten sie es, dass ich nicht eingezogen wurde.

Ich war von Kindheit an gewöhnt, immer meine Beschäftigung und Betätigung zu haben. So wurden mir anfangs die Wintertage in Sibirien sehr lang und langweilig. Deshalb nutzte ich meine freie Zeit aus und half dem alten Herrn Dorfvorsteher. Dieses schien für beide Teile befriedigend zu sein. Es kam vor, dass sie mich bei dringender Arbeit auch des Nachts holten. Sie wussten, dass ich ihnen gern half und dafür nichts forderte. In den Zwischenzeiten oder nach der getanen Arbeit, ehe ich nach Hause ging, las ich öfter aus meinem Testament einen Abschnitt. Dieses schien den Männern gut zu gefallen, und sie baten mich auch öfter, den Abschnitt laut vorzulesen. Bald ergab es sich, dass wir nach vollendeter Arbeit oftmals sehr gute und nützliche Unterhaltungen hatten. Der Vorsteher sowie auch der Schreiber, und auch andere Männer im Rat, gaben das Zeugnis, dass auch sie nun den Segen in der Arbeit verspürten. Der liebe Gott schenkte Gnade, und bald wurden diese Männer meine geliebten Brüder im Herrn. Wir blieben mit ihnen, sowie auch mit ihren Familien, in Gemeinschaft und Gebet verbunden, bis wir wieder von dannen zogen.

Nach gewisser Zeit aber kam „ein neuer Pharao“, der von all den Vorgängen nichts wusste – ein neuer Vorsteher des Ortes. Es fand sich sehr bald jemand, der ihn auf mich aufmerksam machte. Es war halbwegs eine Anklage, dass ich noch nicht zum Militär einberufen sei. Der vorige Vorsteher erfuhr hiervon. Und um wohl nicht selbst noch in Schwierigkeiten zu geraten, verständigte er mich. Er hatte auch einen guten Rat für mich. Es gab da einen Mann, der eine Strickerei eingerichtet hatte, um Socken für die Soldaten zu stricken. Dadurch brauchte er nicht Soldat werden, denn das wurde von der Regierung als Heeresinnendienst betrachtet. Nun suchte dieser noch ein bis zwei Mann, die in der Strickerei mitarbeiteten. Es hatten sich wohl einige dafür gemeldet, aber die hatten alle kein Geld. Bedingung war, dass die Mitarbeiter 500 Rubel als Sicherheit hinterlegten. Er hatte diesem Mann gesagt, dass er einen wüsste, der Geld hat. Er wusste wohl, dass ich kein Geld hatte, aber Kredit, und somit leicht Geld bekommen konnte. Er fragte mich, wie es mit mir wäre und ob ich das nicht annehmen wolle. Ich würde dann auch eine Heeresinnendienst-Bescheinigung ausgestellt bekommen, damit ich abgesichert sei. Somit konnte mir niemand etwas antun.

Ohne mein Zutun hatte der Herr diesen Mann so um mein Wohl besorgt gemacht. Ich nahm alles aus des Herrn Hand. Noch am gleichen Tag kam er mit dem Strickereibesitzer zu mir. Er sagte zu diesem: „Hier ist der Mann, den ich Ihnen empfohlen habe. Er kann das Geld zwar nicht alles bar hinterlegen, aber ich werde so lange für ihn bürgen“. „Wenn sie für den Mann bürgen,“ sagte nun der Strickereibesitzer zu dem früheren Vorsteher, „dann ist es schon gut, dann bin ich zufrieden.“

Nun galt es zu unterschreiben, und ich zog meinen Füllfederhalter aus der Tasche. Der Mann wunderte sich, beschaute sich das Ding und sah wohl, dass ich nicht einer von den sibirischen Bauern war. Nachdem er erfahren hatte, dass der Füllfederhalter in Riga gekauft war und über 5 Rubel gekostet hatte, erkundigte er sich noch, wo ich her sei und was ich eigentlich für einen Beruf ausgeübt hätte.  Als ich ihm dann Näheres von meiner Tätigkeit in Westrussland erzählte, sagte er: „O, dann ist alles gut, dann brauchen Sie mir kein Geld vorzustrecken“. Und zu dem Vorsteher gewandt: „Und Sie brauchen auch nicht für ihn zu bürgen, dann ist alles in Ordnung!“

Gleich am nächsten Tag wurde bei uns eine große Ladung Kamelhaarwolle vorgefahren, und ich konnte mit meiner neuen Arbeit beginnen. Kaum begonnen, kam auch schon der neue Vorsteher zu mir, um sich zu erkundigen, wie es um mich stünde. Man hätte sich meinethalben bei ihm beschwert, und er müsse darauf antworten. Ich zog meinen Schein aus der Tasche, er schaute ihn an und sagte dann: „Nun ja, was wollen denn die Leute? Wenn Sie für die Soldaten tätig sind, ist doch alles in Ordnung!“