Vom Dienst

In Wolhynien ging ich eines Tages auf einem Landweg über das Feld. An einer Stelle war ein Wassertümpel. Deshalb wichen die Fußgänger etwas aufs Roggenfeld aus. So hatte sich schon ein schmaler Fußsteig auf dem Acker gebildet. Links neben dem Wassertümpel sah ich eine Herde Vieh. Es war aber kein Hirte zu erblicken. Schon drängte sich das Vieh dicht an das Roggenfeld. Ich dachte, dass der Roggen doch zu schade als Viehnahrung sei, gehöre er, wem es will. Ich trieb das Vieh ein Stück zurück und wartete eine Weile. Wieder lief es auf den Roggen zu. Nun trieb ich das Vieh noch weiter auf die Weide zurück. Ich ging dann den Weg quer feldein und sah den Hirten mitten im Roggen liegen – schlafend. Ich trat zu ihm, weckte ihn. Auf meine Anrede, dass es kein Wunder sei, dass das Vieh in den Roggen geht, wenn auch der Hirte darin liegt, sagte er: „Oh, das Vieh geht gut“. Ich erwiderte ihm, dass ich es schon zweimal zurückgetrieben habe, sonst wäre es jetzt mitten im Getreide. Er stritt es aber ab und behauptete, dass er sich eben erst hingelegt hätte. „Ja,“ erwiderte ich, „wenn man schläft, weiß man nicht, wie lange man geschlafen hat“, verabschiedete mich und wanderte weiter.

Später ist mir dieses Bild auch oft vor Augen getreten und zum Ansporn und Segen gewesen. Wenn der Hirte in der Sünde ist (schläft), so ist es kein Wunder, wenn die Schafe auch in die Sünde gehen. Nie wollte ich ein schlafender Hirte sein. Ich wollte der Gemeinde keinen Anlass geben, Schaden anzurichten.

Im Nordkaukasus fährt man viel mit Büffelochsen. Als wir eines Tages aus Kisslar, einem alten Grusinerstädtchen am Kaspischen Meer, heimkehrten, sahen wir einen Tatar mit einem Büffelgespann. Büffel haben sehr empfindliche Haut. Ist es kalt, so suchen sie gern Deckung. Ist es heiß, so gehen sie ins Wasser, und zwar am liebsten so weit, dass nur noch die Nase herausguckt. Der Tatar saß auf einer Fuhre Heu und musste mit seinem Wagen jetzt an einem Teich vorbei. Scheinbar ohne sich um weiteres zu bekümmern, liefen die beiden Büffelochsen direkt auf das Wasser zu. Der Tatar schrie von oben herunter und suchte mit Peitsche und Zügel die Tiere zu steuern. Aber sie folgten nicht und zogen die Fuhre Heu ins Wasser hinein.

Ich musste an Prediger denken, die auf dem „Gemeindewagen“ sitzen und mit der „Peitsche“ regieren wollen. Sie werden wenig ausrichten. Der Führer muss heruntersteigen, wie ich es in der Ukraine zu sehen gewöhnt war, wo die Ukrainer und Russen mit gewöhnlichen Ochsen fuhren. Geht auf dem Wege alles gut, dann sitzt der Führer auch auf dem Wagen. Droht aber irgendeine Gefahr, so springt er sofort herunter. Vielleicht kommt auf schmalem Wege ein Gespann entgegen, oder es droht sonst eine Gefahr, dann geht er mit der Peitsche voran und bahnt oder zeigt den Weg. Wenn sie den Führer vorn gehen sehen, fühlen sich die Tiere sicher und folgen ihm gern.

Jesus sagte vom guten Hirten: „Wenn er seine Schafe hat herausgelassen, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm nach“. Der Apostel sagt: „Sehet auf uns, wie ihr uns habt zum Vorbild“. In der Arbeit für den Herrn ist es gut, sich fest vorzunehmen, anderen nicht mehr zu predigen, als man selbst auslebt. Vorangehen wirkt besser als predigen.

Dies erinnert mich an die Priele, die ich im Jadebusen gelegentlich bei einem Besuch der Gemeinde in Wilhelmshaven sehen konnte. Priele sind kleine Wasserläufe, die während der Ebbe sichtbar werden. Sie bilden eine enge Durchfahrt zwischen den Sandbänken. Beginnt das Wasser im Priel zu steigen, dann wissen die Leute, wie weit das Meer vorgedrungen ist. Sie brauchen nicht erst an die Küste zu gehen. Der Priel ist ihnen ein Kennzeichen. Draußen steigt das Wasser nur, wenn es im Priel auch steigt. So steigt das geistliche Leben in der Gemeinde nicht, wenn es im Führer, dem Vorbild der Herde, nicht steigt. Oft kann man am Hirten den Stand der Gemeinde feststellen.

 

Jeder hat die Möglichkeit, am großen Werk des Herrn mitzuhelfen. Niemand sollte denken, er könnte nichts tun. Wie manch einem hat es auf dem Sterbebett Pein bereitet, nicht getan zu haben, was er hätte tun können.

Zwei Schwestern in Torosof, einem Ort, von dem schon berichtet wurde, erzählten mir von ihrem Vater. Auf dem Sterbebett warf er sich immer wieder in die Höhe, wie ein Fisch, wenn man ihn aufs Trockene legt. Auf die Frage, ob er große Schmerzen habe, antwortete er: „Mich plagt eine furchtbare Unruhe. Ich weiß, ich habe nicht alles getan, was ich hätte tun sollen. Nun bin ich verloren: Nicht nur, dass ich nicht für Gott zu leben versucht habe, sondern ich habe auch euch noch daran gehindert. Nun muss ich verloren gehen!“ Er wollte sich nicht trösten lassen. Vier Tage hielt dieser Zustand an. Dann gelang es ihm, durch Gottes Gnade, einen Lichtstrahl in sein Herz zu bekommen. Er wurde gläubig und kam zur Ruhe. Noch kurz, bevor er die Augen schloss, erlangte er die Heilsgewissheit.

Hier denke ich an einen Vorfall in Sibirien. Es gab in jener Gegend viele Teiche. Wie oft, spielten eines Tages wieder die vier Kinder einer Familie am Wasser. Dabei fiel der Kleinste in den Bach. Der Älteste wollte sofort nachspringen. Das Ufer war sehr steil, und er fürchtete sich, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Das zweitälteste Kind, ein Mädchen, hielt sich schnell am Ufer fest. Sie reichte die andere Hand ihrem Bruder. Dieser ließ sich schnell ins Wasser hinab und erfasste das verunglückte Kind. Er hielt das Kind soweit über Wasser, dass es nicht ertrank, bis Hilfe kam. Als der Vater am Abend von dieser Sache erfuhr, fragte er die Kinder einzeln, wie sie es denn bewerkstelligt hätten, das kleine Brüderchen zu retten. Der Älteste sagte: „Ich bin ins Wasser hineingegangen und versuchte es zu ergreifen, und ich habe es auch ergriffen“. „Und was hast du getan?“ – fragte er die Zweitälteste. „Mit der einen Hand hielt ich mich am Ufer fest und mit der anderen Hand hielt ich Richard, damit er ins Wasser gehen konnte“, war die Antwort. „Und was hast du gemacht, Elschen?“ „Ich habe geschrien, Papa!“ „Oh, wie fein!“ – sagte nun der Vater. „Ihr habt alle getan, was ihr konntet. Das Schreien war auch sehr wichtig. Der Apostel sagt: „Die Glieder, die uns dünken die schwächsten zu sein, sind die nötigsten“.

Lasst uns tun, was wir können. Lasst uns alle mithelfen an dem großen Werk, teure Seelen zu retten!

Hier kommt mir ein weiteres Bild in den Sinn, das ich in der schon einmal erwähnten Ziegelei sah. Über jenem gewaltigen Ringofen befand sich ein großer Ventilator, dessen Aufgabe es war, die Hitze hochzutreiben. Ein paar Meter weiter waren zwei etwas kleinere Ventilatoren angebracht, die die Hitze einigen noch kleineren zuteilten. Das ging so weiter, bis die heiße Luft in alle Züge und Trockenräume gelangte. Auch vor dem Ofen war ein großer Ventilator aufgestellt, der die Luft von außen in die Glut des Ofens hineintrieb.

Sollte es im Evangeliumswerk nicht ähnlich sein? Erkennt jeder seinen Platz, erfüllt jeder seine Aufgabe – was kann da geleistet werden! Mancher stellt sich jedoch an einen verkehrten Platz. Mancher will gern predigen, während er etwas ganz anderes tun sollte. Das hält nur Gottes Sache auf. Die Hitze des Heiligen Geistes gelangt dann nicht in vollem Maße an und in die Seelen, für die sie Gott bestimmte. Grundsatz aller Ortsgemeinden und Glieder der Versammlungen sollte sein: Der rechte Mann am rechten Platz!

Für jeden Platz in der Gemeinde ist natürlich eine Fähigkeit, ganz besonders eine geistliche Fähigkeit, vonnöten. Die Apostel stellten nur Bewährte an verantwortungsvolle Plätze.

Bei einem der bekannten Kirchenväter bewarb sich einst ein junger Mann um den Posten eines Kirchendieners. Der Kirchenvater sagte: „Gut, wir wollen sehen, was sich tun lässt. Hast du eben Zeit, eine Arbeit zu verrichten?“ Die willige Antwort war: „Ja, für die Kirche habe ich immer Zeit!“ Der Kirchenvater führte ihn außen auf eine Seite des Kirchengebäudes. Dort lag ein großer Haufen Steine. Er sagte ihm: „Trage diese Steine alle auf die andere Seite der Kirche!“ Willig begab er sich an die Arbeit und meldete es, als er fertig war.

„Nun trage die Steine alle wieder auf die Seite, wo sie zuerst lagen“, sagte der Kirchenvater zu ihm, ohne eine Miene zu verziehen. Der junge Mann wunderte sich darüber, dachte aber bei sich: „Wenn ich auch nicht weiß warum – er wird es wohl wissen“. Er machte die Arbeit noch einmal und meldete die Erledigung. „Nun trage sie wieder alle auf die andere Seite!“ – war die einzige Erwiderung. Schweigend ging der junge Mann noch einmal an die Arbeit und erledigte sie. Als er wieder zum Kirchenvater kam, schaute ihn dieser von oben bis unten an und sagte in gedämpftem Ton zu sich selbst: „Das könnte vielleicht einen Kirchendiener geben!“

Fähig zum Dienst am großen Evangeliumswerk ist nur, wer willig ist, vieles auf sich zu nehmen. Er darf sich nicht entmutigen lassen, wenn etwas Unangenehmes ihn betrifft.

 

Am ersten Tag der im Jahre 1910 stattgefundenen großen Versammlung, als die Leute sich bereits zum Gottesdienst eingefunden hatten, hatte ich ein unvergessliches Erlebnis. Ich hatte mich etwas verspätet. Dabei begegnete ich einem Mann, der aus dem Versammlungshaus kam und festen Schrittes über den Hof ging. Er wollte auch schnell an mir vorbei und zum Hof hinaus, sicherlich zu den Fuhrwerken. Ich empfand, dass ich ihn ansprechen sollte. Mir schien, die Sache stimmte irgendwie nicht. Die anderen strömten in den Saal, und er wollte fort. „Nun, wohin so schnell?“ – fragte ich, indem ich seine Hand erfasste. „Ich muss zu meinem Wagen herüber, der beim Nachbar steht“, gab er zur Antwort. „Warum aber wohl so eilig?“ – fragte ich weiter. Schließlich kam er damit hervor, er müsse nach Hause fahren. Er sei so unruhig und mache sich allerlei Vorstellungen, was zu Hause geschehen sein könnte. „Aber Sie sind doch nicht nur für einen halben Tag 70 km weit hergekommen?“ – sagte ich erstaunt. Ich empfand sogleich, der Seelenfeind wollte ihn wegtreiben. Auf meine Versuche, ihn zum Bleiben zu bewegen, wollte er nicht eingehen. Aber ich fühlte so auf meinem Herzen, dass ich ihn nicht loslassen sollte. Schließlich willigte er ein, noch einer Versammlung beizuwohnen, denn sein Weg führte durch Wälder und dazu noch in der Nacht.

Am Schluss dieser Versammlung sagte er, er wolle noch einen weiteren Tag bleiben. Am nächsten Tag tat er dann Buße und bekehrte sich zu Gott. Später erzählte er selbst, wie ihn der Teufel nach der ersten Predigt am Vormittag habe wegjagen wollen. Es war ihm dabei vorgekommen, als hätte man Feuer auf seinen Kopf geschüttet. In der zweiten Versammlung sah er seinen sündigen Zustand. Und am anderen Tag konnte er sich beugen und blieb dann während der ganzen Zehntageversammlung unter uns. Zu Hause aber war alles in bester Ordnung. Der Herr hat aus diesem Bruder durch seine Gnade einen fähigen Mitarbeiter im Werke Gottes machen können, der hunderten Seelen zum Segen und zur Hilfe geworden ist. Das wusste der Teufel, darum wollte er ihn wegjagen!

Wie die Verhältnisse auch sein mögen, unumgänglich für ersprießliche Gemeindearbeit ist es, mit den Brüdern und Schwestern verschmolzen zu bleiben und die biblische Einheit praktisch im Herzen und Leben zu bewahren.

Als wir Anfang des ersten Weltkrieges 1915 aus Wolhynien vertrieben wurden, hatte mir mein Bruder eine Knopfmaschine überlassen. Diese ermöglichte uns in der Zeit der Geldentwertung einen kleinen Verdienst. Da es in Sibirien, wo wir Deutsche hingeschickt worden waren, keine Fabriken gab, fanden wir für Metallknöpfe guten Absatz. Die Reste des Metalls wurden jeweils wieder eingeschmolzen und zu Knöpfen verarbeitet. Eines Tages warf ich etwa 15 Pfund Metall in den Schmelztiegel. Nachdem schon alles flüssig war, fand ich noch ein Stück, warf es nachträglich hinein und ging davon. Es schien nachher mit zerschmolzen zu sein. Als ich den Tiegel aber umstürzte, merkte ich, dass sich das zuletzt hineingeworfene Stück bewegte. Ich schüttelte das Ganze, und siehe da, das Stück Metall fiel aus dem Tiegel besonders heraus. Es war in sich nicht zerschmolzen, deswegen konnte es mit dem anderen nicht zusammenfließen. Alles, was in sich selbst zerschmolzen war, war auch zusammengeflossen. Ich zeigte es einigen und wies auf die christliche Einheit hin. Das Ganze war eine feste Einheit und war ein Stück. Auch wenn es gerüttelt, geklopft und geworfen wurde, es hielt zusammen.

Wie ist es mit dir, lieber Leser? Hängst du auch nur locker in einer Versammlung, so dass du bei einem Stoß herausfällst? Klammere dich nicht an andere und irgend etwas fest, sondern lass dich auf dem Altar Gottes schmelzen. Die Einigkeit wird dann dein Lebenselement sein. Lukas sagt: „Die Menge aber der Gläubigen war ein Herz und eine Seele“.