Wie ich meine Frau bekam

Lange vor meiner Hinwendung zu Gott fasste ich den Vorsatz, nicht eher zu heiraten, als bis ich bekehrt bin. Auf keinen Fall wollte ich eine unbekehrte Frau. Das erschien mir unfassbar. Aber bald nach dem Tode meines Vaters wurde ich von meiner Mutter und anderen Angehörigen gedrängt, mir jetzt eine Lebensgefährtin zu suchen. Mutter wollte ihren Lebensabend gern bei mir verbringen. Sie hatte die Absicht, die Landwirtschaft mir zu übergeben. Doch ich lehnte ab. Ich wurde von einer großen Ungewissheit betreffs meiner Zukunft beherrscht. Eines war mir bewusst: ich war mit Gott nicht in Ordnung, das war der Hindernisgrund. Außerdem vertrat ich die Meinung, dass ein junger Mann nicht unter 25 Jahren heiraten sollte. Mancherlei Beobachtungen schienen mir zu bestätigen, dass zu junge Ehen oft misslingen. Und davor graute mir, denn mein Ideal von der Ehe war sehr hoch.

Ab und zu hatte ich die Möglichkeit, ein reiches Mädchen zu bekommen. Aber Gott zeigte mir, und ich wurde sehr davon überzeugt, dass das Glück nicht im Reichtum, sondern in einem friedlichen Eheleben liegt. Hinfort ließ ich irdischen Reichtum völlig aus dem Spiel. Zumal der Herr mich inzwischen in seine Arbeit berufen hatte. So schien es mir überhaupt richtiger zu sein, mir das Heiraten vorläufig ganz aus dem Sinn zu schlagen. So rauschte ein Jahr nach dem anderen vorüber, schließlich auch mein fünfundzwanzigstes. Von dieser Zeit an bewegte mich mehr und mehr die Frage, ob es in den mancherlei Verhältnissen des Lebens, besonders in der Evangeliumsarbeit, doch besser wäre, eine treue Gehilfin zu haben. Hinzu kam, dass mehrere besorgte Geschwister der Versammlung mir dieses sehr empfahlen. Aber ich konnte mich nicht so schnell dazu entschließen. In meinem Herzen stand es fest: Wenn ich einem Mädchen das Eheversprechen gab, sollte es auch meine Frau werden.

Als ich im Jahre 1906 nach Deutschland fahren wollte, musste ich wegen meiner Reisepapiere mich eine Zeitlang an der Grenze aufhalten. Ich wohnte dort im Hause gläubiger Leute. Sie hatten eine Landwirtschaft, und das Vermögen gehörte zum größten Teil der einzigen Tochter. Wie es nun bei jungen Leuten so geht, kam auch da der Gedanke an eine Heirat. Ich hätte mich glücklich schätzen können, wenn ich in diese Familie hätte einheiraten können. Aber arm, wie ich war, ließ ich den Gedanken fallen.

Etwa 2 Monate dauerte die Regelung meiner Reisepapiere. Nach Erhalt packte ich mein Ränzlein und wollte die Grenze überschreiten. Und siehe da, ohne dass ich das Geringste von meinen anfänglichen Gedanken hätte spüren lassen, gab man mir zu verstehen, dass ich die Tochter ehelichen könnte. Man sah es sogar nicht gern, dass ich jetzt wegfahren wollte. Nur wäre dieser Schritt jedoch mit der Übernahme einer großen Landwirtschaft verbunden gewesen. Ich fühlte mich aber doch für die Arbeit im Reiche Gottes berufen. So ging ich ins ernste Gebet wegen dieser Entscheidung und wartete auf Antwort von Gott, auf eine bestimmte innere Überzeugung. Aber die bekam ich nicht. So reiste ich ab.

Unerwarteterweise trat mir dort noch eine andere Gelegenheit in den Weg. Vom irdischen Standpunkt aus betrachtet, schien sie noch besser und ein großes Glück für mich zu sein. Vor dem Herrn war ich meiner Sache ganz und gar nicht sicher. Mir war doch Gott und seine Sache das Wichtigste und die Hauptsache. In einer so wichtigen Angelegenheit wollte ich wirklich Gottes Hilfe und Weisung erbitten und somit die richtige Wahl treffen. Den Gedanken an diese beiden Mädchen hatte ich noch nicht aufgegeben, sondern betete weiter. Ich bat inständig Gott, mir die Richtige und den rechten Weg zu zeigen. Schon sehr bald sollte ich eine längere Reise nach dem Kaukasus antreten. Gern hätte ich mich noch vorher entschieden, um der Auserwählten meinen Entschluss wissen zu lassen.

Während ich nun mit noch größerem Ernst den Herrn um Weisung fragte, hatte ich nachts einen Traum. Dabei handelte es sich um ein Mädchen aus meinem Heimatort, das ich kennen lernte, als es 13 Jahre alt war. Nachdem sah ich es nicht mehr. Es war ein Mädchen armer Eltern. Ich hatte nie daran gedacht, sie einmal zu heiraten. Dieses Mädchen sah ich im Traum auf einem hohen Schneeberg stehen. An verschiedenen Spuren merkte man, dass schon mehrere versucht hatten, sie von dem Schneeberg herunterzuholen. Man konnte deutlich erkennen, dass viel Mühe dabei angewendet worden war. Die Betreffenden waren bis unter die Arme im Schnee versunken und mussten aufgeben. Bisher war es keinem gelungen, sie zu retten. Ich lief nun hinzu, scheute keine Mühe, holte sie von diesem Schneeberg herunter, und nahm sie mir zur Frau. Als ich erwachte, war ich aber in Deutschland.

Nach vier Monaten Aufenthalt im Kaukasus kehrte ich, wie schon früher erwähnt, in meine Heimat zurück. Die schon berichteten wunderbaren Gottesführungen mit Bruder Samuel Abraham hatten inzwischen zu den gesegneten Versammlungen in seinem Haus den Weg gebahnt. „Zufällig“, wie man so sagt, kam dieses Mädchen, das ich im Traum gesehen hatte, auf Besuch nach Hause. Sie war in Mogiljow bei einer wohlhabenden Familie als Erzieherin des Sohnes tätig. Samuel Abraham war ihr Bruder, und sie kam gerade, als bei ihrem Bruder eine Versammlung stattfand. Sofort kam mir jener Traum in den Sinn. Als ich aber erfuhr, dass sie nicht bekehrt sei, sagte ich zum Herrn im Gebet: „Herr, unbekehrt kann sie doch nicht meine Frau werden!“ Sie selbst ließ ich von alledem, was mein Herz bewegte, nichts merken. Ich wollte eine Bekehrung meinetwegen vorbeugen, die wäre dann nicht echt gewesen. Nun sagte ich dem Herrn im Gebet: „Herr, wenn du sie bekehrst, ohne dass sie etwas von meiner Absicht weiß, will ich das als eine weitere Bestätigung annehmen“. Ich sprach nur ganz wenig mit ihr über ihr Seelenheil. Und sie fuhr wieder unbekehrt nach Mogiljow zurück.

Bald aber bemächtigte sich ihrer eine große Unruhe. Ihre Umgebung versuchte alles Mögliche, sie von ihren religiösen Gedanken und der Unruhe im Innern abzulenken. Sie nahmen sie zu weltlichen Veranstaltungen mit, rieten ihr auch, verschiedene Kirchen zu besuchen. Im Übrigen sollte sie sich aber recht vergnügte Stunden machen. Auf diese Weise würden ihr die beunruhigenden Gedanken wieder aus dem Sinn kommen. Auch der Seelenfeind schien Furcht zu haben, sie zu verlieren. Später erzählte sie selber: „Als ich eines Tages in meinem verzagten Zustand über die große Dnjepr-Brücke ging, bestürmte mich der Teufel mit den Worten: „Wirf dich über das Geländer, dann ist doch Schluss mit allem!“ Sie spürte aber, dass diese Aufforderung nicht von Gott sein kann und lief schnell von der Brücke herunter. Nachher ist sie den Weg über die Brücke nicht mehr alleine gegangen.

Bald darauf bekam sie vier Briefe von ihren Angehörigen. Sie wollten nach dem weiten Sibirien auswandern. Sie bestürmten sie, dass sie sofort nach Hause und mit nach Sibirien kommen sollte. Am Sonntag nach ihrer Ankunft wohnte sie wieder der Versammlung bei. Noch während des Gottesdienstes sagte sie zu einigen ihrer Angehörigen, auf ihrem Herzen läge eine so schwere Last, sie könnte die Predigt fast nicht mehr zu Ende hören. Sobald es nach der Predigt passte, stand sie auf und bat um Fürbitte. Auch betete sie ernst und lange. Noch ehe die Versammlung beendet war, hatte sie Frieden gefunden. Sie stand auf und erzählte von den wunderbaren Wegen Gottes und von den großen Kämpfen, die sie seit der ersten Versammlung, vor etwa einem Monat, zu bestehen gehabt hatte. Während sie noch sprechend stand, fielen eine Anzahl Leute auf ihre Knie. Einige bekehrten sich noch in derselben Versammlung. Es gab förmlich eine Erweckung, besonders unter den jungen Leuten.

Sofort kam mir der Gedanke: „Jetzt hat Gott gewirkt, und dein Gebet ist erhört worden“. Deutlich empfand ich, dass Gott sichtbar mein Leben lenkt und leitet. Die Angehörigen rüsteten sich zum Wegziehen. Und die Tochter hatte sich mittlerweile entschlossen, mit ihnen zu gehen. Erst drei Tage vor der Abreise offenbarte ich ihr meine Gedanken und mein Vorhaben. Sie entschloss sich daraufhin zurück zu bleiben. Ihren Eltern fiel dieses sehr schwer. Aber als sie dem Vater erzählte, was Bruder Rudolf ihr angetragen habe, freute er sich. Sie fuhren nun ganz unbesorgt nach Sibirien.

Unsere Hochzeit hatten wir erst anderthalb Jahre später. Meine Braut blieb dort an dem Ort. Sie machte im Geistlichen gute Fortschritte und half im Werk mit, was immer sie nur tun konnte. Niemand wusste von unserer Absprache, als allein ihre Eltern und mein Bruder. Ihre Eltern waren längst nach Sibirien abgereist. Von den Geschwistern in der Gemeinde wurde sie sehr geschätzt. Ein Bruder sagte einmal, ohne von unserem Verhältnis zu wissen: „Wenn Schwester Juliane hereinkommt, scheint es, als käme mit ihr der Segen herein“.

Lange Zeit hatte ich wegen unseres Durchkommens große Bedenken. Es stand uns doch im Werk des Herrn nur sehr wenig Einkommen in Aussicht. Aber bald schämte ich mich dieser Gedanken und fragte mich, ob denn Gott solch armer König sei, der nur unverheiratete Diener ernähren könne. Ich überließ dann die Zukunft ganz dem Herrn, fasste Mut und lernte, ihm völlig zu vertrauen. Er hat dann auch offensichtlich in unserem Ehebund alles in seine Hand genommen und geleitet.

Zur Ehre Gottes darf ich sagen, dass meine liebe Frau mir in jeder Schwierigkeit des Lebens eine Hilfe gewesen ist. Immer war sie darauf bedacht, den größten Teil der Lasten auf sich zu nehmen. Nie war sie mir in der Arbeit für den Herrn ein Hindernis! Gott hatte mir eine wirkliche, echte Gehilfin gegeben. Sie war und ist mir allezeit ein Beistand und ein Trost gewesen.

Viel mag dazu beigetragen haben, dass sie gleich am Anfang eine echte, gute Heilserfahrung erlangte und dass sie ihr ganzes Leben dem Herrn völlig zur Verfügung stellte. Dazu war sie unmittelbar ins Licht der wahren Gemeinde gekommen und hatte schnell einen guten Blick für geistliche Dinge erlangt. Ich hätte wohl keine Freudigkeit, dieses an dieser Stelle zu berichten, wenn es nicht alles so wäre und auch hinsichtlich des Traumes sich alles so erfüllt hätte.

In früheren Jahren, als ich einmal von Brüdern gefragt wurde, ob ich denn nicht heiraten wolle, hatte ich zur Antwort gegeben: „Ich möchte nur eine Abrahamstochter!“ Damit meinte ich eine Glaubenstochter ähnlich der Schwiegertochter Abrahams, die der Herr seinem Sohn Isaak als Lebensgefährtin zugedacht hatte. Nun bekam ich sogar, ohne dass es mir je in den Sinn gekommen wäre, im doppelten Sinn ein Abrahamstochter. Meine Frau hatte ja den Mädchennamen Abraham.