Meine Trauerrede auf einem jüdischen Friedhof

Einst wurde ich gebeten, die Ansprache zum Begräbnis der Frau eines Juden zu halten. Die Verstorbene gehörte der Versammlung an, deren Prediger ich war. Ungefähr ein Jahr nach ihrer Hochzeit siedelten die beiden nach Kalifornien über, wo die junge Frau erkrankte. Ihr Gatte wollte sie nun gern zurück in die Heimat bringen. Er musste jedoch seine Reise unterbrechen und sie in ein Krankenhaus einliefern. Mutter und Bruder eilten an ihr Krankenbett, aber es war zu spät. Die junge Frau war bereits tot. Der trauernde Gatte beauftragte dann den Bruder seiner Frau, den Prediger ihrer früheren Gemeinde zu bitten, die Trauerrede zu halten. Ich erhielt dann Nachricht von ihm, mich für diesen Dienst bereitzuhalten, sobald ihre sterbliche Hülle in der Heimat einträfe.

Wenige Tage später empfing ich die Nachricht, dass die Beerdigungsfeier in der Friedhofskapelle auf dem jüdischen Teil des Gemeindefriedhofs stattfinden würde. Als ich dort ankam, wurde ich von dem Vater des trauernden Gatten empfangen, der mich fragte, ob ich der Prediger sei, der die Trauerrede halten wolle. Weiter sagte er: „Es wird keine leichte Aufgabe für Sie als Christ sein, unter Juden eine Ansprache zu halten, ohne Anstoß zu erregen. Alle Vorbereitungen sind bereits getroffen. Einen Teil der Trauerfeier sollen Sie übernehmen, während der Rabbiner den anderen übernehmen wird. Bedingung ist, dass nicht gesungen und nichts über Mose oder Jesus gesagt wird. Die Verstorbene soll auf dem jüdischen Friedhof begraben werden.“

Es wurde nun Zeit zu beginnen. „Was soll ich predigen?“, fragte ich. „Ich bin ein Diener des Evangeliums. Ist es mir erlaubt, etwas über Gott, den Himmel oder die Hölle zu sagen?“ „Das ist Ihnen erlaubt“, antwortete er, „wenn Sie dabei den Namen Jesu nicht erwähnen.“ Wie ein Blitz tauchte die Schriftstelle in meinem Gedächtnis auf: „Gebet kein Ärgernis, weder den Juden noch den Griechen“, und ich sagte ihm, dass ich diese Bedingungen annehme.

Nun stellte er mir den Rabbiner vor, der meiner Bitte gemäß dann zuerst sprach. Seine wirklich treffliche und zu Herzen gehende Ansprache dauerte fünfzehn Minuten. Da der Plan meiner Predigt Schriftstellen über Mose und Jesus enthielt, musste ich ihn ändern, um die Abmachung nicht zu verletzen. Dort, wo ich sonst den Namen „Jesus“ erwähnt hätte, gebrauchte ich die Worte: „Unser Herr hat gesagt“. So konnte ich ungehindert und ohne Anstoß zu erregen meine Rede zu Ende führen.

Auf meine Bitte hin übernahm dann der Rabbiner die weiteren Feierlichkeiten. Als wir den Friedhof verlassen wollten, kamen der alte Herr und andere jüdische Freunde, sprachen in anerkennenden Worten über meine Predigt und wir trennten uns mit guten Gefühlen.